Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Krisenzeiten: Wie der Nahostkonflikt Zusammenhalt herausfordert
Der Nahostkonflikt stellt für Deutschland seit jeher eine besondere Herausforderung dar – nicht nur weil er mit geschichts- und migrationspolitischen Themen verknüpft wird, sondern auch weil er den Alltag vieler in Deutschland lebender Menschen berührt. Die jüngste Eskalation des Konflikts lässt tiefgreifende gesellschaftliche Bruchlinien sichtbar werden und fordert innergesellschaftlichen Zusammenhalt in mehrfacher Hinsicht heraus. Gleichzeitig kann der Konflikt jedoch auch als Chance für ihn fungieren. Wie sich der Nahostkonflikt künftig auf den Zusammenhalt in Deutschland niederschlagen wird, hängt maßgeblich vom politischen und gesellschaftlichen Umgang mit ihm sowie vom öffentlichen Diskurs über seine Folgen ab.
Wie der Nahostkonflikt den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland unter Druck setzt, zeigt sich vor allem in drei Bereichen: im Miteinander der Zivilgesellschaft, im Vertrauen zwischen Bürger*innen und staatlichen Institutionen sowie im öffentlichen Diskurs über den Konflikt und dessen Auswirkungen auf das gesellschaftliche Klima hierzulande.
Radikalisierung von Einstellungen und Handlungen
Ein Blick auf die Zivilgesellschaft offenbart ein ambivalentes Bild: Während ein Teil der Bevölkerung in menschenfeindliche Ideologien abdriftet, dominiert in weiten Teilen der Gesellschaft weiterhin Gleichgültigkeit.
Antisemitische und antimuslimische Einstellungen sind hierzulande weit verbreitet und längst kein Randphänomen mehr (siehe Leipziger Autoritarismus-Studie 2024 und Mitte-Studie 2022/2023). Zunehmend schlagen sie sich auch in konkreten Handlungen nieder: Laut dem Bundesverband RIAS e. V. stieg die Zahl antisemitischer Vorfälle 2024 um nahezu 77 %, während die Allianz CLAIM einen Anstieg antimuslimischer Übergriffe und Diskriminierungen um 60 % verzeichnet – mit 3.080 dokumentierten Fällen ein neuer Höchststand. Beide Organisationen beobachten im Nachgang des Terroranschlags der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 einen Anstieg, was auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Nahostkonflikt und gesellschaftlichen Feindbildern in Deutschland hinweist.
Während sich Teile der Gesellschaft zunehmend radikalisieren, verharrt die Mehrheit bislang in auffallender Passivität. Bereits nach dem 7. Oktober äußerten Jüd*innen in Deutschland ihre Enttäuschung über die geringe Anteilnahme und Solidarität. Ähnlich zurückhaltend reagiert die Mehrheit der Zivilgesellschaft auf die Kriegsverbrechen Israels an der palästinensischen Bevölkerung in Gaza – anders als etwa in den Niederlanden, Italien oder Großbritannien, wo Proteste deutlich sichtbarer sind. Diese Gleichgültigkeit gegenüber terroristischer wie militärischer Gewalt kann selbst als Zeichen radikalisierender Tendenzen gelten. Denn versteht man Radikalisierung als Infragestellung der normativen Ordnung, so lässt sich das Schweigen gegenüber der Verletzung ihrer Grundwerte als Form passiver Radikalisierung deuten.
Die zunehmende Normalisierung menschenfeindlicher Diskurse und die Gleichgültigkeit gegenüber grundlegenden Werten im Kontext des Nahostkonflikts verdeutlichen dessen Radikalisierungspotenzial – und damit eine wachsende Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland. Gleichzeitig formiert sich angesichts der humanitären Krise in Gaza vermehrt zivilgesellschaftlicher Protest aus unterschiedlichen Lagern (siehe Demonstration, offener Brief, Kundgebung) und es entstehen in Reaktion auf den 7. Oktober und dessen gesellschaftlichen Folgen neue Formate der Begegnung und des Austauschs (siehe Trialoge, Religion? All you can ask! , Reflexe & Reflexionen, Let’s Talk, Trotzdem sprechen). So sehr der Nahostkonflikt soziale Spannungen vertieft, so sehr birgt er auch das Potenzial, neue Räume für solidarisches und dialogisches Miteinander zu öffnen. Denn Konflikte und Krisen können für Bürger*innen – jenseits ihrer Herkunft, Religion oder politischen Haltung – auch eine „neue Quelle von Zusammenhalt bilden“. Ob Auseinanderdriften oder Zusammenhalt überwiegt, wird sich am zukünftigen Umgang mit dem Nahostkrieg entscheiden.
Vertrauensverlust in Politik und Medien
Jenseits des zwischenmenschlichen Miteinanders gilt das Vertrauen der Bürger*innen in staatliche Institutionen als „zentrale Ressource“ gesellschaftlichen Zusammenhalts. Aktuelle Reaktionen auf den Nahostkrieg belasten dieses Vertrauen spürbar – insbesondere gegenüber Bundesregierung, Polizei und Medien.
Während internationale Institutionen wie die UN und der Internationale Strafgerichtshof im israelischen Vorgehen Kriegsverbrechen sehen und deutsche Völkerrechtler*innen zunehmend von einer Verdichtung der „Indizien eines Genozids“ sprechen, zeigt sich die Bundesregierung auffallend zurückhaltend in ihrer Kritik. Bundeskanzler Friedrich Merz erklärte lediglich, das Vorgehen Israels „offen gestanden nicht mehr“ zu verstehen und appellierte an einen „menschenwürdigen Umgang“ – konkrete politische Konsequenzen bleiben jedoch aus (vgl. Irene Weipert-Fenner, Claudia Baumgart-Ochse, Sarah Brockmeier-Large und Elisabeth Hoffberger-Pippan auf dem PRIF-Blog). Außenminister Wadephul kündigte zwar Ende Mai an, bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht „ein[zu]schreiten und schon gar nicht Waffen [zu] liefern“, verkündete allerdings wenige Tage später nach dem Treffen mit dem israelischen Außenminister Gideon Saar: „Natürlich wird Deutschland Israel auch durch Waffenlieferungen weiter unterstützen. Das stand nie in Zweifel.“ Auch in den aktuellen Koalitionsvertrag haben klare Positionierungen zu den großen Fragen des Nahostkonflikts keinen Eingang gefunden.
Die Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich bezüglich der Israelpolitik jedoch zunehmend ein anderes Vorgehen der Regierung, insbesondere hinsichtlich der Waffenlieferungen. Laut repräsentativen Umfragen halten 80 % der deutschen Bevölkerung das Vorgehen Israels im Gaza-Krieg nicht für gerechtfertigt (siehe Politbarometer Mai II 2025) und 73 % sind der Auffassung, die Bundesregierung solle die Waffenexporte nach Israel begrenzen oder vollständig stoppen (siehe ARD-DeutschlandTrend und Forsa-Umfrage). Dieses deutliche Meinungsbild wird bislang von der Regierung ignoriert. Als Regierungssprecher Stefan Kornelius Anfang Juni bei einer Bundespressekonferenz mit diesem Stimmungsbild konfrontiert wird, lautet seine Antwort lediglich: „Die öffentliche Stimmung ist sicherlich kein Entscheidungskriterium für solche sehr prinzipiellen Entscheidungen.“
Die Bundesregierung begründet ihren politischen Kurs mit dem Anspruch, einen Balanceakt zwischen der Verantwortung gegenüber Israel als deutscher Staatsräson und der Wahrung universeller Menschenrechte zu vollziehen. Seit dem Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 jedoch mehren sich auch innerhalb der jüdischen Community in Deutschland kritische Stimmen. Diese reichen von dem Vorwurf einer unzureichenden internationalen Verteidigung Israels über eine mangelnde Differenzierung zwischen dem Staat Israel und dessen derzeitiger rechtsextremer Regierung bis hin zur Kritik an einem ungenügenden Engagement gegen den seither verstärkt auftretenden Antisemitismus im Inland. Vor diesem Hintergrund scheint das außen- und innenpolitische Handeln der Bundesregierung weder in Bezug auf ihre Solidarität mit Israel noch hinsichtlich ihres Einsatzes gegen Antisemitismus oder ihres Bekenntnisses zum Völkerrecht zu überzeugen.
Mit dem Vertrauen in die Regierung droht auch das Vertrauen in staatliche Institutionen zu schwinden – insbesondere in die Polizei. Die Einschränkung von Meinungsfreiheit, die Kriminalisierung von Protest, pauschale Verbote und unverhältnismäßige Polizeigewalt gegen Demonstrierende werden längst nicht nur auf nationaler Ebene kritisiert, sondern auch auf europäischer, etwa seitens des Europarats. Es ist davon auszugehen, dass diese staatliche Umgangsweise negative Auswirkungen auf das ohnehin rückläufige Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei haben wird.
Auch das Medienvertrauen spielt im Kontext des Nahostkrieges eine zentrale Rolle. Eine ZAPP-Umfrage von 2024 zeigt, dass fast jede*r Zweite der deutschen Nahost-Berichterstattung wenig oder kein Vertrauen schenkt, vor allem wegen einer als pro-israelisch empfundenen Einseitigkeit. Eine neuere Erhebung der Unis Mainz und Düsseldorf bestätigt dies – nur 27 % vertrauen der Berichterstattung zum Gazakrieg, während der Großteil skeptisch oder ambivalent ist. Dass unausgewogene Gästeauswahl in Talkshows, polemische Darstellungen von Protesten an Universitäten sowie die unkritische Übernahme israelischer Regierungsnarrative Realität sind, zeigen ZAPP-Recherchen im Rahmen der Umfrage. Auch aus der Branche selbst wird Kritik laut: Über 300 Journalist*innen in Deutschland haben sich inzwischen in einem offenen Brief zu Wort gemeldet, in dem sie unter anderem Einseitigkeit und strukturelle Probleme in der deutschen Nahost-Berichterstattung kritisieren.
Der gegenwärtige politische und mediale Umgang mit dem Nahostkrieg lässt vermuten, dass das ohnehin schwindende Vertrauen der Bevölkerung in staatliche Institutionen, in die Regierung und Politiker*innen, in Polizei und Medien (siehe Mitte-Studie 2022/2023 und NaDiRa-Monitoringbericht 2025) weiter untergraben wird. Doch sozialer Zusammenhalt ist auf ein grundlegendes Maß an Vertrauen angewiesen – insbesondere in Krisenzeiten. Gerade deshalb liegt in der aktuellen Krise auch ein Potenzial: Staatliche Institutionen und Medien können Vertrauen zurückgewinnen, wenn sie transparent kommunizieren, Fehler eingestehen und nachvollziehbar handeln. So zeigt der Nahostkonflikt nicht nur bestehende Vertrauensdefizite auf – er macht auch sichtbar, wo und wie Glaubwürdigkeit gestärkt und Polarisierung abgebaut werden kann und bietet so die Chance, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.
Polarisierung der Diskurse
Der gesellschaftliche, politische und mediale Umgang mit dem Nahostkonflikt generiert einen Diskurs, der nicht nur stark polarisiert, sondern in seiner Struktur selbst polarisierend angelegt ist. Der öffentliche Diskurs zu Israel und Gaza ist vielfach geprägt von pauschalisierender „Kollektivierung“, einem normativen „Bekenntniszwang“ und der gleichzeitigen Verweigerung differenzierter Erklärungsmuster (siehe Hanna Pfeifer und Irene Weipert-Fenner auf dem PRIF-Blog). Während im politischen und medialen Raum pro-palästinensische Perspektiven häufig marginalisiert werden, unterliegen israelbezogene Positionierungen in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten einer zunehmenden Tabuisierung.
Besonders sichtbar wird diese Spannung im Kultur- und Bildungsbereich – gesellschaftlichen Feldern, die traditionell Räume für Differenz, Aushandlung und kritische Reflexion bieten. Hier zeigt sich eine Tendenz zur Vermeidung kontroverser Debatten, mitunter auch zu deren aktiver Unterdrückung. Im schulischen Kontext wird der Nahostkonflikt oftmals vermieden oder einseitig behandelt. Diese Form der diskursiven Rahmung wirkt weniger aufgrund einzelner Positionen polarisierend, sondern durch die strukturellen Bedingungen, unter denen Diskurs überhaupt möglich ist. Eine solche Konstellation birgt erhebliche Risiken für eine pluralitätsfähige Diskurskultur und damit für den sozialen Zusammenhalt einer demokratischen Gesellschaft.
Auch der Diskurs über gesellschaftlichen Zusammenhalt im Kontext des Nahostkonflikts wirkt in Teilen selbst polarisierend. So widmet sich etwa der Religionsmonitor 2023 der Bertelsmann Stiftung explizit dem Zusammenhang von Zusammenhalt und den Folgen der Eskalation in Nahost. Zwar betont die Studie in Einleitung und Fragestellung die Relevanz sowohl antisemitischer als auch antimuslimischer Einstellungen; ihr methodisches Design offenbart jedoch eine asymmetrische Perspektive: Antisemitische Haltungen werden differenziert nach Religionszugehörigkeit und Migrationsgeschichte erhoben, während antimuslimische Einstellungen in dieser Differenzierung nicht erfasst werden. Diese methodische Unausgewogenheit legt nicht nur bestimmte Vorannahmen nahe, sondern verstärkt – implizit – Narrative, wie jenes eines vermeintlichen importierten Antisemitismus, und trägt so zur weiteren Polarisierung des Diskurses bei.
Auch in der medialen Berichterstattung zeigen sich diskursiv einseitige Rahmungen. So konstatiert etwa die ARD, der Nahostkrieg mache „Gräben in Deutschland sichtbar“, da „viele Muslime […] vor allem auf das Leid der Palästinenser schauen“. Im selben Atemzug wird auf die Zunahme antisemitischer Straftaten verwiesen. Eine solche Rhetorik ist problematisch, da sie zum einen suggeriert, Kritik am Leid in Gaza sei primär muslimisch motiviert, wodurch konfessionsübergreifende, und säkulare Solidaritätsbekundungen ausgeblendet werden. Zum anderen wird ein impliziter Zusammenhang zwischen pro-palästinensischer Empathie durch Muslim*innen und antisemitischer Gewalt konstruiert. Damit stabilisiert der Diskurs nicht nur die Vorstellung eines primär muslimischen Antisemitismus, sondern fördert eine problematische Kausalitätsvermutung, die differenzierte gesellschaftliche Positionierungen verkennt und den öffentlichen Diskurs weiter polarisiert.
Zwischen Zerrissenheit und Zusammenhalt
Der Nahostkonflikt wirkt seit jeher spannungsgeladen auf das gesellschaftliche Gefüge in Deutschland. Seit dem 7. Oktober und der darauffolgenden militärischen Offensive Israels haben diese Spannungen jedoch eine neue, tiefgreifendere Dimension erreicht. Der gesellschaftliche Zusammenhalt steht seither auf mehreren Ebenen unter erheblichem Druck. Zugleich eröffnen sich in Zeiten des Konflikts auch Räume für Veränderung, Dialog, kollektives Handeln und neue Formen solidarischer Praxis.
Die aktuelle Eskalation markiert womöglich lediglich einen weiteren Peak in einem noch länger anhaltenden, destruktiven Konflikt. Dessen Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt werden weniger durch die militärische Entwicklung selbst bestimmt als durch die Art und Weise, wie dieser Konflikt verhandelt wird: durch gesellschaftliche Reaktionen, politische Weichenstellungen im In- und Ausland sowie durch die wissenschaftliche, mediale und öffentliche Deutung seiner Implikationen für das Zusammenleben in Deutschland.
Series
Related Posts
Tags
Author(s)

Hande Abay Gaspar

Latest posts by Hande Abay Gaspar (see all)
Manjana Sold
Latest posts by Manjana Sold (see all)
- Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Krisenzeiten: Wie der Nahostkonflikt Zusammenhalt herausfordert - 14. July 2025
- How can research on topics surrounding radicalization, extremism, and terrorism be safe and socially sustainable? - 8. February 2024
- Counter-narratives – curse or blessing? - 27. July 2020