Strafrecht gegen Radikalisierung – Der Schutz des öffentlichen Friedens in den „Dark Socials“
Wenn beispielsweise hetzerische Äußerungen in Messenger-Gruppen getätigt werden, wird das Strafrecht als Instrument zur Bekämpfung von Radikalisierung in Stellung gebracht – konkret durch Straftatbestände, die den öffentlichen Frieden schützen, wie etwa die Volksverhetzung (§ 130 StGB). Sie können als Spielregeln eines demokratischen Diskurses der Verbreitung extremistischen Gedankenguts entgegenstehen. Diese „Spielregeln“ müssen jedoch auch kritisch hinterfragt werden und dürfen nicht zu leichtfertig angewendet werden. Problematisch ist auch, dass Radikalisierung vermehrt abseits öffentlicher sozialer Netzwerke stattfindet – in privaten oder zumindest teilweise geschlossenen Kommunikationsräumen, den sogenannten „Dark Socials“. Es stellt sich die Frage, ob das geltende Strafrecht geeignet ist, mit diesen neuen Herausforderungen umzugehen.
Das Rechtsgut des öffentlichen Friedens
In jüngster Zeit haben die Straftatbestände der Volksverhetzung in § 130 Abs. 1-3 StGB an Relevanz gewonnen. Zum einen lässt sich ein starker Anstieg in den Fallzahlen verzeichnen: Laut dem Bundeskriminalamt gab es zwischen 2022 und 2023 einen Anstieg von etwa 65 %. Außerdem rückt Volksverhetzung immer wieder durch prominente Fälle in den öffentlichen Fokus, etwa wenn es um rechtsextreme Polizeichats oder Aussagen von Politiker*innen geht. Dabei ist die Volksverhetzung einer von mehreren Straftatbeständen, die den öffentlichen Frieden schützen oder bei denen dies diskutiert wird.
Der öffentliche Frieden ist ein schillernder Begriff, von dem es aber kein einheitliches Verständnis gibt. Nach der wohl gängigsten Definition schützt er einen Zustand der allgemeinen Rechtssicherheit und das durch das Vertrauen in die allgemeine Sicherheit begründete Gefühl der Sicherheit in der Bevölkerung. Nach dieser Definition hat der öffentliche Friede eine objektive und eine subjektive Komponente: Der Zustand der allgemeinen Rechtssicherheit, also die objektive Komponente, bezeichnet die Einhaltung aller rechtlichen Normen. Dass das Recht im Allgemeinen nicht gebrochen wird, ist jedoch kein besonders spezifisches Schutzziel für eine Strafvorschrift. Deswegen ist die subjektive Komponente wichtig, um zu verstehen, was den öffentlichen Frieden ausmacht. Sie bezeichnet das durch das Vertrauen in die allgemeine Sicherheit begründete Gefühl der Sicherheit in der Bevölkerung.
Mit dem Sicherheitsgefühl der Bevölkerung rückt jedoch ein sozialpsychologischer Zustand in den Mittelpunkt des strafrechtlichen Schutzes, der nur schwer messbar ist (Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2004, S. 105). Es ist kritisch zu betrachten, dass hier ein (Un-)Sicherheitsgefühl zur Grundlage für einen Eingriff in die Grundrechte durch das Strafrecht gemacht wird. Strafrechtliche Normen sollen zwar auch das allgemeine Sicherheitsgefühl stärken, jedoch ist die wahrgenommene Unsicherheit bzw. die Kriminalitätsfurcht in der Bevölkerung kein empirisch gestütztes Indiz für eine tatsächliche Bedrohungslage.
Die Eignungsklauseln
In vielen Tatbeständen zum Schutz des öffentlichen Friedens ist es eine ausdrückliche Voraussetzung für die Strafbarkeit, dass eine Handlung geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Dieses Eignungsmerkmal erfüllt jeweils unterschiedliche Funktionen, wobei diese davon abhängt, wie der Tatbestand im Übrigen formuliert ist.
Beschreibt der Tatbestand auch ohne die Störung des öffentlichen Friedens ein strafwürdiges Unrecht, dient die Eignungsklausel lediglich als Korrektiv zur Ausscheidung nicht strafwürdiger Fälle. Dann kann davon ausgegangen werden, dass die Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens durch die Verwirklichung des übrigen Straftatbestandes indiziert wird und keiner besonders eingehenden Prüfung bedarf.
Dahingegen erfüllen andere Straftatbestände nur ein strafwürdiges Unrecht, wenn die Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens berücksichtigt wird. In diesem Fall stellt das Merkmal dann nicht mehr nur ein Korrektiv dar und muss im Einzelfall positiv festgestellt werden.
Ein Beispiel für diese Differenzierung findet man im Straftatbestand der Volksverhetzung nach § 130 Abs. 2 StGB. Dieser stellt das Billigen, Leugnen und Verharmlosen bestimmter unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangener Gewalthandlungen unter Strafe. Laut dem Bundesverfassungsgericht stellt das Merkmal der Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens bei den Tatbestandsvarianten des Billigens und des Leugnens ein Korrektiv dar, während es im Zusammenhang mit dem Verharmlosen strafbarkeitsbegründend ist. Dies lässt sich dadurch begründen, dass verharmlosende Äußerungen noch eher einer diskursiven Lösung zugänglich sind als billigende oder leugnende Äußerungen.
Der öffentliche Frieden in einer fragmentierten Öffentlichkeit
Unter dem Begriff der Fragmentierung der Öffentlichkeit werden Prozesse diskutiert, die zum Zerfall von Gesellschaften in soziokulturelle Segmente oder voneinander isolierte Teilöffentlichkeiten führen, in denen unterschiedliche Wertemuster gelten. Auch wenn in einer demokratischen Gesellschaft wohl keine einheitliche Öffentlichkeit existieren kann, so scheint es, als würden sich die Teilöffentlichkeiten in jüngerer Zeit immer weiter aufgliedern. Als Gründe dafür werden unter anderem die Megatrends Globalisierung und Digitalisierung benannt. Faktoren wie die zunehmende Mobilität von Menschen, Migrationsbewegungen und neue Entfaltungsmöglichkeiten über digitale Kommunikationstechniken sowie zunehmende Bedürfnisse nach individueller Selbstverwirklichung führen zu strukturellen gesellschaftlichen Veränderungen und zum Wandel kultureller Werte (Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 2019, S. 9 ff.).
Auch bei Äußerungen in solchen Umgebungen können Straftatbestände zum Schutz des öffentlichen Friedens greifen. Ihre Anwendung bereitet in diesen Räumen allerdings große Schwierigkeiten. Zunächst führt die Fragmentierung der Öffentlichkeit hin zu Gruppen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen dazu, dass sich ein gesamtgesellschaftlicher Wertekonsens immer schwieriger feststellen lässt. Öffentliche Diskurse werden tendenziell als hitziger und feindseliger wahrgenommen. Es stellt sich die Frage, inwieweit das Konzept des öffentlichen Friedens dieser sich verändernden Diskurskultur Rechnung tragen kann, ohne den in einer Demokratie wichtigen Prozess der Meinungsbildung und gegenseitigen Auseinandersetzung zu unterbinden.
Äußerungsdelikte zum Schutz des öffentlichen Friedens greifen zudem in die Meinungsfreiheit ein. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann es bei der Anwendung des Strafrechts an dieser Stelle nicht darum gehen, die Gesellschaft vor besonders provokanten Meinungen oder Ideologien zu schützen. Es muss stattdessen darum gehen, Rechtsgutverletzungen zu verhindern, also die Verletzung von rechtlich geschützten Interessen oder Gütern. Denkbar ist eine Bestrafung von Äußerungen, „die ihrem Inhalt nach erkennbar auf rechtsgutgefährdende Handlungen hin ausgelegt sind“ und damit den „Übergang zu Aggression oder Rechtsbruch markieren“, etwa bei Appellen oder Emotionalisierungen, „die bei den Angesprochenen Handlungsbereitschaft auslösen oder Hemmschwellen herabsetzen oder Dritte unmittelbar einschüchtern“.
„Dark Socials“ und die Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens
Als aktuelle Erscheinung einer fragmentierten Öffentlichkeit wird unter dem Schlagwort „Dark Socials“ die Tendenz des Rückzugs aus den öffentlichen Bereichen sozialer Netzwerke in private oder zumindest teilweise geschlossene Kommunikationsräume diskutiert. Dabei handelt es sich beispielsweise um Gruppen auf Messengerdiensten wie Telegram oder WhatsApp, aber auch Kanäle auf Discord. Diese Kommunikationsräume zeichnen sich dadurch aus, dass Nutzer*innen eine gewisse Hürde überschreiten müssen, um der Kommunikation beizutreten. Die Zugangsbeschränkungen gehen von einem einfachen Beitreten mit einem Einladungslink über das Schreiben einer kurzen Bewerbung bis hin zu strengen Interview-Prozessen. Sie gelten in besonderem Maße als anfällig für demokratiegefährdende Inhalte wie Hassrede und Fehlinformationen und sind damit oft Zentrum von Radikalisierungsprozessen.
Besondere neue Schwierigkeiten ergeben sich dadurch, dass sich „Dark Social“-Umgebungen häufig weder eindeutig der Privatkommunikation noch der öffentlichen Kommunikation zuordnen lassen. Dies lässt sich anhand eines Beispiels zeigen:
Nutzer*in N teilt in einer Gruppe auf Telegram ein Meme, das eine bestimmte ethnische Gruppe verächtlich macht. Er könnte sich dadurch wegen Volksverhetzung nach § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB strafbar gemacht haben.
Durch das Meme greift N die Menschenwürde derer an, die Teil einer durch § 130 StGB geschützten Gruppe sind. Damit der Tatbestand von § 130 Abs. 1 Nr. 2 erfüllt ist, muss darüber hinaus aber auch eine Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens gegeben sein. Hier handelt es sich bei der Eignungsklausel um ein Korrektiv, weil auch ohne sie ein strafwürdiges Unrecht vorliegt. Fraglich ist also, ob ausnahmsweise ein Fall vorliegt, in dem keine Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens gegeben ist. Kennen sich alle Mitglieder der Gruppe untereinander, ist die Kommunikation in der Gruppe nicht öffentlich. Jedoch ist dies keine zwingende Voraussetzung für die Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens. Die Rechtsprechung verlangt vielmehr, dass konkrete „Gründe für die Befürchtung vorliegen, der Angriff [im Sinne von § 130 Abs.1 StGB] werde das Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttern“. Ein solcher Grund kann sein, dass eine Kommunikation „einer breiteren Öffentlichkeit bekannt werden kann“.
Rein technisch betrachtet ist es bei Nachrichten in einer Gruppe auf einem Messengerdienst leicht möglich, dass die Inhalte plattformübergreifend verbreitet werden. Es ist aber auch zu überprüfen, ob die Gruppe im Einzelfall auch darauf gerichtet ist, eine größere Breitenwirkung zu erreichen. Dazu sind die Eigenheiten der konkreten Kommunikationsumgebung zu würdigen, also etwa die Zusammensetzung der Mitglieder, das dort übliche Kommunikationsverhalten und die von der Gruppe hierfür selbst gesetzten Regeln.
Diese kritische Würdigung im Einzelfall gelingt den Staatsanwaltschaften und Gerichten jedoch nur selten. Eher wird die Eignung von Äußerungen zur Gefährdung des öffentlichen Friedens kurz und floskelhaft festgestellt. Bei einer so oberflächlichen Auseinandersetzung kann das Merkmal der Eignung seiner Funktion als Korrektiv oder sogar als Begründung eines strafwürdigen Unrechts aber nicht gerecht werden. Gerade in der fragmentierten Öffentlichkeit droht damit eine leichtfertige Anwendung des Strafrechts in Fällen, in denen eine Gefährdung des öffentlichen Friedens nicht genau begründet wurde.
Dies ist nicht nur angesichts der verfassungsrechtlich gewährleisteten Meinungsfreiheit kritisch zu beurteilen. Eine leichtfertige und damit weite Anwendung des Strafrechts könnte auch dazu führen, dass sich die davon erfassten Personen noch weiter in die (vermeintlich) von staatlichen Eingriffen freien Bereiche der „Dark Socials“ zurückziehen, was wiederum weitere Abspaltung dieser Gruppen und damit eine Begünstigung von Radikalisierung zur Folge haben könnte. Aus diesem Grund muss auch mit anderen Maßnahmen gegen Radikalisierungsprozesse vorgegangen werden, die diese längerfristig unterbinden. Auch das Strafrecht kann dazu beitragen, das gesellschaftliche Klima zu beruhigen. Dazu bedarf es jedoch einer sorgfältigen und kritischen Rechtsanwendung, die das „schärfste Schwert des Rechtsstaates“ nur für solche Inhalte anwendet, die eindeutig gefährlich sind.
Fazit
Die Straftatbestände zum Schutz des öffentlichen Friedens werden durch die Fragmentierung der Öffentlichkeit vor neue Herausforderungen gestellt. Die juristischen Ansätze zur Feststellung einer Störung des öffentlichen Friedens, welche auf kaum messbare psychosoziale Zustände abstellen, sind problematischer denn je.
Das Strafrecht findet immer komplexere und schärfere gesellschaftliche Konflikte vor. Eine mögliche Folgerung daraus ist, auf die vereinigende Kraft eines starken Strafrechts zu setzen. Aktuell ist eine Bereitschaft zur weitreichenden Anwendung der Delikte zum Schutz des öffentlichen Friedens durch die Strafverfolgungsbehörden erkennbar und es werden Debatten über die Erweiterungen dieser Delikte geführt. So planen CDU, CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag eine Verschärfung von § 130 StGB und bedenken den Entzug des passiven Wahlrechts bei mehrfacher Verurteilung wegen Volksverhetzung.
Es gibt aber auch eine andere mögliche Folgerung: Das Strafrecht muss sich verstärkt am Zustand der Gesellschaft orientieren, wenn es um den Schutz des öffentlichen Friedens geht. Strafvorschriften können das Ideal einer einheitlichen Gesellschaft mit einem klaren Wertekonsens weder vorgeben noch durchsetzen und müssen berücksichtigen, dass fragmentierte Gesellschaften Konflikte anders austragen. Provokative oder sogar feindselige Kommunikation steht nicht zwingend im Widerspruch dazu, dass ein Meinungsbildungsprozess stattfindet. Es muss immer wieder kritisch hinterfragt werden, welche Meinungsäußerungen in einer demokratischen Gesellschaft noch ertragen werden müssen und welche tatsächlich ein strafwürdiges Unrecht darstellen.
Damit Straftatbestände wie § 130 StGB ihre Funktion als Spielregeln im demokratischen Diskurs erfüllen können, muss es klare Kriterien dafür geben, wann eine Äußerung den öffentlichen Frieden gefährdet. Dazu sollte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgend darauf abgestellt werden, ob eine Äußerung zur Agitation dient oder sonst dazu geeignet ist, zur Verletzung weiterer Rechtsgüter zu führen. So wird verhindert, dass das Strafrecht dazu instrumentalisiert wird, einen Wertekonsens durchzusetzen, der in einer fragmentierten Öffentlichkeit in vielen Fällen nur scheinbar existiert. Außerdem wird so eine zielgerichtete Anwendung des Strafrechts gegen eindeutig gefährliche Äußerungen begünstigt.
Dieser Blogpost beruht auf dem Zeitschriftenbeitrag „Der strafrechtliche Schutz des öffentlichen Friedens in einer fragmentierten Öffentlichkeit“, Juristenzeitung 2024, S.870 ff. von Prof. Dr. Sebastian Golla.
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