Verblassende Erinnerungen der Hoffnung – Warum das Gedenken an die Friedliche Revolution gestärkt werden muss
36 Jahre nach der sogenannten Friedlichen Revolution von 1989 wurde in Leipzig der Grundstein für das Denkmal für Freiheit und Einheit gelegt – ein Meilenstein in der deutschen Erinnerungskultur. Gleichzeitig beginnt die Erzählung von der Friedlichen Revolution als Erfolgsgeschichte langsam zu bröckeln. Anhand von Umfragedaten untersucht dieses Spotlight das Wissen über und die Interpretation der Friedlichen Revolution in Deutschland. Es zeigt auf, wie diese die politische Partizipation beeinflusst, und was getan werden kann, um das Erbe der Bürgerrechtsbewegung zu bewahren.1
Die Proteste am 9. Oktober in Leipzig, zu denen sich erstmals 70.000 Menschen versammelten, wurden zu einem Schlüsselmoment der Friedlichen Revolution. Unter der Parole „Wir sind das Volk“ weiteten sie sich bis November aus, als sie in Berlin knapp eine Millionen Menschen umfassten, und ebneten schließlich den Weg für das Ende der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und die deutsche Wiedervereinigung. Das Denkmal in Leipzig – ähnlich wie das in Bau befindliche zentrale Freiheits- und Einheitsdenkmals in Berlin – soll „die Werte und Erfahrungen der Friedlichen Revolution bewahren” und „aktuelle und zukünftige Generationen inspirieren.”2 Es stellt einen Meilenstein für die deutsche Erinnerungspolitik dar, da die so genannte zweite deutsche Diktatur und insbesondere die positiven Erinnerungen an die Friedliche Revolution oft unterbelichtet bleiben. Die Grundsteinlegung in Leipzig geschieht jedoch zu einer Zeit, in der Deutschland eine zunehmende politische Polarisierung, den Erfolg populistischer Parteien und eine wachsende Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit den demokratischen Institutionen erlebt. Vor diesem Hintergrund präsentiert dieses Spotlight die Ergebnisse einer neuen repräsentativen Umfrage zum Wissen über und zur Interpretation der Friedlichen Revolution in Deutschland. Basierend auf diesen Ergebnissen diskutieren wir deren weiterreichende Implikationen für die demokratische Teilhabe und die Erinnerungskultur in Deutschland – und was getan werden kann, um das Erbe der Bürgerrechtsbewegung zu bewahren.
Friedlicher Widerstand, kollektives Gedächtnis und Demokratie
Die Forschung im Bereich der sog. memory studies betont die Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses, das über das individuelle Gedächtnis hinausgeht und eng mit der Identität einer Gruppe verbunden ist. Das kollektive Gedächtnis spielt besonders für große Gruppen wie Nationen eine wichtige Rolle. Weil diese zu groß sind, um ein natürliches Gemeinschaftsgefühl zu haben, werden gemeinsame Elemente – etwa eine gemeinsame Geschichte – bei der Nationsbildung manchmal erst konstruiert. Beispiele hierfür sind Italien und Deutschland, die vor ihrer Vereinigung aus einer Vielzahl kleiner Staaten bestanden.3 Geschichtspolitik, das aktive Erinnern oder Verdrängen und Vergessen bestimmter Ereignisse, wird dabei zu einem wichtigen Baustein für die Entwicklung einer solchen kollektiven Identität.
Studien zu Protest und Widerstand zeigen wiederum, dass friedliche Proteste, welche wie in der DDR im Jahr 1989 zu einer demokratischen Transition führen, einen nachhaltigen Einfluss auf deren Qualität und Stabilität haben können. Friedliche Widerstandsbewegungen gelten dabei als Kern einer demokratischen Zivilgesellschaft, die dafür sorgt, dass die neuen politischen Strukturen Freiheit und Teilhabe für alle ermöglichen.4 Darüber hinaus sind solche Ereignisse ein starkes Symbol für die Souveränität des Volkes und können Gefühle der politischen Wirksamkeit stärken und als „Geschichtslektion” für künftige Generationen dienen.5 Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass solche historischen Erfahrungen durch Denkmäler, Schulunterricht und politische Reden lebendig gehalten werden. Anlässlich des 30. Jahrestags der deutschen Wiedervereinigung beschrieb Bundespräsident Steinmeier die Ereignisse des 9. Oktober 1989 etwa wie folgt:
„[D]ie Mauer fiel nicht einfach. Die Menschen in der DDR brachten sie zum Einsturz – friedlich und ohne Gewalt […] Wir können Kraft schöpfen aus der Erinnerung, wie die Menschen gemeinsam aufgestanden sind für ein besseres Leben in einem besseren Land.“6

Konkurrierende Erzählungen
Wie bereits dargelegt, folgen die Denkmäler in Leipzig und Berlin derselben Idee: zu erinnern und (zukünftige Generationen) zu inspirieren. Die Erzählung der friedlichen Revolution muss jedoch mit anderen Erzählungen konkurrieren, wie beispielsweise der „Wende“, einem von politischen Eliten wie Kohl und Gorbatschow herbeigeführten Wandel, und den jüngsten Versuchen der Alternative für Deutschland (AfD), sie als „unvollendet“ neu zu definieren. So knüpfte die AfD ab 2019 und insbesondere während der Bundestagswahl 2021 und den Landtagswahlen 2024 mit der Parole „Wir sind das Volk“ an die Friedliche Revolution an und versuchte sie mit dem Slogan „Hol dir dein Land zurück – Vollende die Wende” umzudeuten. Dies wiederum führte zu Widerstand von 172 Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern, die sich gegen diese Vereinnahmung der Friedlichen Revolution stellten.7 Wie weit verbreitet ist also die Erzählung von der erfolgreichen Friedlichen Revolution in Deutschland (noch)? Im nächsten Schritt präsentieren wir einige empirische Erkenntnisse zu diesen Fragen aus dem Forschungsprojekt „Nachhall der Vergangenheit.“8
Wachsender Raum für Interpretationen
Um mehr über die aktuelle Interpretation der Friedlichen Revolution zu erfahren, stellen wir hier die Ergebnisse einer repräsentativen Online-Umfrage vor, die vom 10. bis 13. Oktober 2025 mit 2761 erwachsenen Deutschen über das YouGov Omnibus Panel durchgeführt wurde. Wir berichten Ergebnisse zu drei Wissensfragen, sowie Zustimmung zu einer Aussage, dass die Friedliche Revolution ein Erfolg war. Bei allen Ergebnissen werden Umfragegewichte verwendet.9
Zur Prüfung des Wissens der Befragten wurden ihnen Fragen zum Zeitpunkt, Ursprungsort und zur Parole der Friedlichen Revolution gestellt. Insgesamt kannten 85% der Befragten das richtige Jahr der Revolution, 61% den richtigen Ursprungsort und 75% die zentrale Parole der Revolution. Allerdings konnten weniger als die Hälfte der Befragten (~47%) alle drei Fragen richtig beantworten.
Wie Abbildung 1 zeigt, gibt es deutliche Unterschiede in Bezug auf das Wissen zwischen den jüngeren Befragten (Altersgruppen 18–29 und 30–39) und den älteren Kohorten. Unter Ersten beantworteten nur jeder Dritte alle Wissensfragen richtig, bei Letzteren jeder zweite. Zu erklären ist diese Differenz durch Unterschiede im Wissenserwerb: Während die älteren Kohorten die Friedliche Revolution selbst erlebt haben, kennen die jüngeren diese nur aus Überlieferungen; etwa über Fernsehreportagen, den Schulunterricht oder über Gespräche in der Familie oder mit Zeitzeugen. Da die beiden letztgenannten von etwa 28% als Quelle ihres Wissens angegeben wurden, können wir davon ausgehen, dass mit dem Versiegen dieser Wissensquelle auch das gesellschaftlich verfügbare Wissen über die Friedliche Revolution immer weiter nachlassen wird.
Im Hinblick auf die Interpretation der Friedlichen Revolution teilt eine große Mehrheit der Bevölkerung die Lesart der Erfolgsgeschichte. Etwa 76% der Befragten stimmen der Aussage zu, dass die Friedliche Revolution ein Erfolg war; weniger als 8% lehnen diese Aussage ab. Dabei ist die Zustimmung in Ost- (80 %) etwas höher als in Westdeutschland (74%). Wir können also von einem weitgehenden Konsens sprechen. Dieser beginnt sich aber, wie Abbildung 2 zeigt, bei den jüngeren Kohorten langsam aufzulösen: Während über 81% der Befragten über 70 Jahre die Friedliche Revolution als Erfolg bewerten, sinkt dieser Wert auf 65% in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen, die weder das Leben in der DDR noch die Friedliche Revolution erlebt haben.
Interessanterweise ändern politische Präferenzen nicht viel an dieser gemeinsamen Lesart (vgl. Abbildung 3). Unter den Wählerinnen und Wählern (freiwillige Selbstangabe) der derzeit im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien sind die Unterschiede marginal. Mit mehr als 80% ist die Unterstützung unter den Wählern der CDU, SPD und der Grünen besonders hoch. Wählerinnen und Wähler der AfD (78%) und der Linken (75%) sehen die Revolution seltener als Erfolgsgeschichte, jedoch immer noch mit weiter Mehrheit. Beide Parteien waren bei den Wahlen 2025 recht erfolgreich darin, junge Wählerschichten zu mobilisieren.10 Wir können also davon ausgehen, dass insbesondere die jüngeren Wählerinnen und Wähler für die etwas niedrigeren Zustimmungswerte zum Narrativ bei beiden Parteien verantwortlich sind. Darüber hinaus hat die AfD, wie bereits erwähnt, seit 2019 versucht, die Erzählung der Friedlichen Revolution neu zu bestimmen. Dennoch ist die Zustimmung zur ursprünglichen Erzählung insgesamt immer noch hoch.
Im Gegensatz zu dieser breiten Mehrheit ist die Zustimmung zur Vorstellung der Friedlichen Revolution als Erfolgsgeschichte unter den selbsterklärten Bürgerinnen und Bürgern, die nicht wählen, deutlich geringer: Nur etwa 57% stimmen ihr zu, während mehr als 18% sie ablehnen.
Insgesamt beginnt der frühere Konsens über die Bewertung der friedlichen Revolution also zu schwinden. Mit dem Rückgang des Wissens steigt der Interpretationsspielraum und damit auch die Chance für alternative Narrative wie das der unvollendeten Revolution. Die Ergebnisse unserer Umfrage zeigen jedoch auch, warum die Erzählung von der friedlichen Revolution aus demokratischer Sicht besonders wertvoll ist: Die Gruppe, in der die Erzählung von der friedlichen Revolution als Erfolgsgeschichte mit Abstand am häufigsten abgelehnt wird, ist die Gruppe derjenigen, die sich bei den Bundestagswahlen 2025 der Stimme enthalten haben. Umgekehrt scheint die Unterstützung für die Erzählung mit einer höheren demokratischen Partizipation verbunden zu sein.


Demokratieförderung durch Geschichtsbewusstsein
Das Wissen über die erfolgreiche friedliche Revolution und ihre Erzählung bröckeln langsam, doch die Erzählung selbst ist eine enorme Ressource für unsere Demokratie. Daher gilt es, diese positive Erinnerung wach zu halten, um der demokratischen Entfremdung entgegenwirken. Vor diesem Hintergrund ist die Grundsteinlegung für das Denkmal in Leipzig zu begrüßen. Zugleich ist zu kritisieren, dass die Friedliche Revolution als positiver Bezugspunkt in der deutschen Geschichte im neuen Gedenkstättenkonzept der Bundesregierung11 weiterhin kaum Beachtung findet.
Um dem Vergessen entgegenzuwirken, sollte die Bundesregierung darauf hinwirken, dass
- das Denkmal in Berlin zügig fertiggestellt und seine Wirkung wissenschaftlich evaluiert wird.
- Fördermittel für weitere Forschung bereitstehen – insbesondere zur Frage, wie die Friedliche Revolution in eine inklusive Erinnerungskultur eingebettet und so vermittelt werden kann, dass zukünftige Generationen Bezüge zu ihrer Lebensrealität herstellen können.
- die Dokumentation von Zeitzeugen-Berichten weiter vorangetrieben wird. Eine gute Grundlage wurde durch das Zeitzeugenportal geschaffen.12 Diese Bemühungen müssen intensiviert werden, um diese wichtige Ressource zu erhalten und möglicherweise KI-gestützte, digitale und interaktive Formate zu schaffen, wie sie aktuell im Bereich der Holocaust-Aufklärung erprobt werden.
- Bis dahin sollte die Bundesregierung unter der Leitung des Bundespräsidenten ein Programm auflegen und Mittel bereitstellen, um einen flächendeckenden Besuch von Zeitzeugen an Schulen zu ermöglichen. Alternativ könnten solche Projekte auch über das Bundesprogramm „Jugend erinnert“13 ermöglicht werden.

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