Author: Nicole Deitelhoff
Wenn es weh tut, wird es wichtig: Was heißt gleiches Recht für alle?
Die Quadratur des Kreises: Friedensverhandlungen unter Feinden
Kontrollierte Ent- und Verflechtung als Aufgabe der Nationalen Sicherheitsstrategie
In „Die große Illusion“ entwickelt der Publizist Norman Angell 1909 das Argument, dass Kriege sich für Staaten nicht mehr lohnen, weil sie durch den Handel miteinander ihren Wohlstand weit mehr vergrößern könnten, als durch militärische Eroberungen. Angell fasst damit das zentrale friedenspolitische Argument für Interdependenz zusammen: Die Förderung wechselseitiger Abhängigkeiten zwischen Staaten und ihren Gesellschaften verhindert kriegerische Auseinandersetzungen, weil aus der Verflechtung die Möglichkeit erwächst, Wohlfahrtsgewinne zu erwirtschaften. Zugleich werden über die regelmäßige Interaktion Bedrohungswahrnehmungen abgebaut und Vertrauen zueinander aufgebaut. Dieses Kernargument findet sich in nahezu allen liberalen Theorien der internationalen Politik wieder und ist Teil des außenpolitischen Werkzeugkastens vieler liberal-demokratischer Regierungen.
Aber wie steht es um die Güte dieses Arguments? Angells Buch erschien kurz vor dem Ausbruch des ersten verheerenden Weltkriegs, dem ein zweiter noch verheerenderer folgen sollte, der im Zivilisationsbruch der Shoa gipfelte. Und die Wandel-durch-Handel-Politik Egon Bahrs und Willy Brandts wird seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 bestenfalls als eine historische Illusion, wenn nicht als „epochaler Irrtum“ bewertet. Ist es also, wie etwa Mark Leonard in „The Age of Unpeace“ meint, ein großer Fehler der Politik auf Verflechtung zu setzen? Ist Verflechtung ein Konflikt- statt Friedenstreiber und muss deswegen strategisch auf Entflechtung und Renationalisierung der Wirtschaft gesetzt werden?
Deutschland debattiert gegenwärtig darüber, wie eine nationale Sicherheitsstrategie aussehen könnte, deshalb gehört auch die Frage auf die Agenda, wie mit Interdependenzen unter Sicherheitsgesichtspunkten umzugehen ist. Das mag manchem exotisch vorkommen, denn Russlands Krieg in der Ukraine scheint vor allem eines zu verdeutlichen: In der Sicherheitspolitik geht es letzten Endes um effektive Abschreckung und Wehrfähigkeit, das heißt um militärische Sicherheit im Sinne territorialer Integrität. Es liegt auf der Hand, dass dieses klassische Verständnis nationaler Sicherheit angesichts eines russischen Aggressors, gegenwärtig von großer Bedeutung ist. Das darf aber nicht alles sein, was in die Nationale Sicherheitsstrategie Eingang findet.
Denn Russlands Krieg macht auch deutlich, dass es bei Sicherheit nicht allein um militärische Bedrohungen geht. Es stehen noch ganz andere Fragen im Raum: Wie ist der Zugang zu zentralen Rohstoffen angesichts des Konflikts über die Erdgaslieferungen aus Russland zu sichern? Wie kann ökonomische Sicherheit, also sichere Handelswege und Wertschöpfungsketten, garantiert werden? Wie erhalten wir unsere natürlichen Lebensressourcen? Der Schutz des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja während des Krieges ist nur das aktuellste Beispiel für die Bedeutung der ökologischen Sicherheit. Es geht mithin um nicht weniger als die Frage einer zukünftigen Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa (und die Welt), nachdem dieser Krieg die kooperative Sicherheitsordnung in Trümmer gelegt hat. Für diese Ordnung ist die Frage der Verflechtung zentral.
Entflechtung und Verflechtung
Die militärische Konfrontation in der Ukraine zieht gegenwärtig eine Entflechtung der Beziehungen zwischen Deutschland (und dem Westen) und Russland nach sich. Auf politischer Ebene zeigt sich dies im Ausschluss Russlands aus dem Europarat und durch die öffentlichen Überlegungen der russischen Seite, die OSZE oder andere multilaterale Rüstungskontrollabkommen zu verlassen. Diese Entwicklungen haben teils weit vor dem Krieg eingesetzt, sie erhalten jetzt aber eine neue Qualität.
Mit den Sanktionspaketen ist die wirtschaftliche Entflechtung bereits am weitesten fortgeschritten, weil sie direkte und indirekte Handelsbeziehungen mit Russland in vielen Wirtschaftssektoren kappt. Darüber hinaus ziehen sich immer mehr Firmen aus Russland zurück, um zukünftigen Sanktionen zuvorzukommen oder um negative Presse und Druck von russischer Seite zu vermeiden. Auch im Bereich kritischer Infrastrukturen und Ressourcen wird die Entflechtung durch Sanktionen und Gegensanktionen vorangetrieben. Beobachten lässt sich das an den Bemühungen um LNG-Terminals und Lieferverträge für Öl und Erdgas mit alternativen Anbietern.
Auch im gesellschaftlichen Bereich schreitet die Entflechtung voran. Im Wissenschaftsbereich sind alle institutionellen Kooperationen längst auf Eis gelegt. Im Bereich des Kulturaustauschs und im Sport sind viele Programme gestoppt oder zumindest ausgesetzt.
Kontrollierte Entflechtung ist notwendig in der jetzigen Situation, um zu verhindern, dass Russland Verflechtung als Druckmittel nutzen kann. Diese Möglichkeit, Verflechtung als Waffe einzusetzen (weaponized interdependence), besteht, wenn die wechselseitige Verflechtung extrem asymmetrisch ausgeprägt ist. Das bedeutet, dass eine Seite eine so zentrale Position in einem Netzwerk oder in einer Wertschöpfungskette einnehmen kann, dass sie die andere Seite erpressen kann. Russland macht das gegenwärtig mit Blick auf die Energieversorgung in Europa. Polen und Bulgarien erhalten bereits keine Lieferungen mehr, für Deutschland wird die Menge der Lieferungen immer weiter gedrosselt. Auch wenn die Kürzung als Effekt wartungsbedingter Schwierigkeiten von russischer Seite erklärt wird, liegt auf der Hand, dass die Drosselung als politisches Druckmittel eingesetzt wird. Die strategische Nutzung asymmetrischer Interdependenz ist kein neues Phänomen, sondern gängige Praxis. China hat sie im Bereich der Hochtechnologie gebraucht und auch die USA nutzen sie im Bereich der Finanzmarkttransaktionen. Ein besonders eindrückliches Beispiel waren die Sekundär-Sanktionen, die die USA im Rahmen des Streits mit Teheran gegen europäische Firmen einführte, die weiter mit dem Iran Handel treiben wollten.[1]
Jede Form wechselseitiger Abhängigkeit erzeugt Kosten für die beteiligten Akteure, denn Abhängigkeiten schränken Handlungsfreiheiten ein. Je nach Verteilung der Kosten machen sie so die beteiligten Akteure, Staaten oder Individuen, verwundbar. Im Idealfall sind die Kosten symmetrisch verteilt, in der Realität sind sie dagegen oftmals asymmetrisch ausgeprägt. Je gravierender die Asymmetrie, also die Verwundbarkeit, ist und je weniger Ausgleich, das heißt Gegenseitigkeit oder Kompensation sich erzeugen lässt, desto problematischer. Denn dann wird das Ausscheren aus der Kooperation für eine Seite zu einer nahezu risikolosen Strategie, weil die andere Seite keine Möglichkeiten zur Bestrafung hat. Besonders asymmetrische und komplexe Formen der Interdependenz können sogar konflikttreibend wirken. Das ist der Fall, wenn Akteure alle Probleme und Kosten der Verflechtung der Gegenseite zurechnen und irgendwann zum Befreiungsschlag ausholen, der häufig mit Gewalt einhergeht.
Asymmetrische Verflechtungen, wie die oben skizzierten, sind problematisch, weil sie kein geteiltes Interesse an Kooperation erzeugen oder stabilisieren, sondern ganz im Gegenteil Dominanzbeziehungen begründen. Sie unterlaufen die Idee friedensfördernder Interdependenzen. Das macht deutlich, dass es, anders als Angell dachte, nicht Verflechtung an sich ist, die friedensfördernde Effekte erzeugt. Vielmehr gibt es unterschiedliche Formen und Qualitäten von Interdependenz, deren institutionelle Absicherung von Bedeutung ist. Interdependenzmanagement beziehungsweise die Frage kontrollierter Ver- und Entflechtung ist hier das Stichwort.
Gefragt ist Interdependenzmanagement
In allen Formen von Interdependenz, aber besonders in den beiden problematischen Spielarten stark asymmetrischer oder zu in- und extensiver Verflechtung werden Institutionen benötigt. Diese sorgen dafür, dass Verflechtung sich in Kooperation und gemeinsamer Gewinnschöpfung niederschlägt und Risiken effektiv gemanagt werden. Institutionen erzeugen Transparenz für die beteiligten Akteure, etablieren Verfahren der Konfliktbearbeitung und stellen Ausgleichs- oder Sanktionsmechanismen bereit, um den strategischen Missbrauch von Interdependenzen zu unterbinden. Im Bereich der Rüstungskontrolle sorgen Institutionen wie die OPCW mit Verifikationsmechanismen zu verpflichtenden Inspektionen von Produktionsstätten für Vertrauen zwischen den Akteuren. Im Bereich des Handels stellt die Welthandelsorganisation mit den Dispute Settlement Bodies unabhängige Streitschlichtungsmechanismen zur Verfügung, die Konflikte zwischen Mitgliedsstaaten klären und den Staaten auch Sanktionsrechte zusprechen können.
Genau hier liegt der strategische Fehler, den man für die Vergangenheit im Umgang mit Putins Russland ausmachen kann: Auf Kosten der Sicherheit wurden stark asymmetrische Interdependenzen eingegangen und versäumt, dafür Möglichkeiten der Konfliktregulierung oder Vergeltung einzuplanen. Nicht die Wandel-durch-Handel-Politik ist mithin illusionär gewesen, sondern ihre Halbierung, das heißt die Verflechtung ohne starke Institutionalisierung. Interdependenzen mit potenziell antagonistischen Akteuren sind ohne starke institutionelle Absicherung ihrer Risiken nicht zu haben. Im Kalten Krieg war diese Absicherung durch die wechselseitige Abschreckung wirksam, nach dem Kalten Krieg vertraute man allein dem freien Spiel der Märkte und ihrer Anziehungskraft.
Dem freien Spiel der Märkte vertraut gegenwärtig mit Blick auf Russland niemand mehr. Die Probleme des Interdependenzmanagements sind in der gegenwärtigen Situation der Entflechtung klar erkennbar: Asymmetrische und komplexe Interdependenzen erfordern eine kontrollierte Entflechtung, um die friedensfördernde Wirkung von Verflechtung nicht zu untergraben. Schwierig wird es, wenn diese notwendige Entflechtung in eine unkontrollierte Entflechtung umschlägt, in der wahllos weitere Verflechtungsbeziehungen zerstört werden. Das lässt sich in Ansätzen auch in der gegenwärtigen Entflechtung von Russland beobachten, in der auch außerhalb der Sanktionsbereiche immer mehr politische, ökonomische und gesellschaftliche Interdependenzen gekappt werden.
Das ist letztlich auch ein Problem des institutionellen Interdependenzmanagements, denn auch dies kann die friedensfördernden Effekte von Interdependenz konterkarieren. Das gilt nicht nur im ökonomischen Bereich. Wenn auf wirtschaftlicher Ebene auch symmetrische Formen von Verflechtung abgebrochen werden, unterbindet dies die Aufrechterhaltung beziehungsweise Erzeugung gemeinsamer Interessen an Kooperation. Es gilt auch für Entflechtungen im gesellschaftlichen Bereich von Kultur bis Sport, durch die Kanäle in die jeweils andere Gesellschaft verloren gehen. Dies verhindert die Entwicklung von Empathie füreinander. Gesellschaften werden sich wieder fremder und damit auch misstrauischer gegeneinander mit allen negativen Konsequenzen, die sich daraus für eine gemeinsame Friedens- und Sicherheitsordnung ergeben.
Was folgt daraus für die Ausarbeitung der Nationalen Sicherheitsstrategie?
Interdependenzen sollten einen systematischen Platz in einer Sicherheitsstrategie erhalten, denn sie können entweder friedens- und sicherheitsfördernd sein oder zum Konflikttreiber werden. Entscheidend dafür ist die institutionelle Kontrolle beziehungsweise das Management von Interdependenz. Insbesondere stark asymmetrische und komplexe Interdependenzen, wie sie sich in der tief globalisierten Just-In-Time-Produktion zeigen, in der im Störfall keine Absicherung bereitsteht, müssen zurückgebaut werden. Das gelingt, indem alternative Wertschöpfungsketten etabliert (Flexibilität) und mehrfach existierenden Strukturen, sogenannte Redundanzen, erzeugt werden (Nachhaltigkeit). Das gilt insbesondere gegenüber antagonistischen Akteuren, bei denen die Gefahr der missbräuchlichen Nutzung der Verflechtung hoch ist.
Im Zuge der generell zunehmenden Rivalitäten zwischen „dem Westen“ und Russland, aber auch China, wird beides bedeuten, mehr in die Verflechtung innerhalb der jeweiligen „politischen Lager“ zu investieren. Gleichzeitig werden Verflechtungen in das jeweils andere Lager zurückgebaut. Wirtschaft wird damit nicht nur sicherheitspolitisch bedeutsamer, sie wird überhaupt wieder stärker politisch gesteuert. Auch hierbei ist allerdings Vorsicht geboten. Die Verteilung zentraler Rohstoffe und Ressourcen orientiert sich nicht an der politischen Freiheit der einzelnen Staaten. Eine rein „westliche“ Verflechtung wird ebenso wenig möglich sein, wie eine rein an normativen Wertevorstellungen orientierte Politik.
Stattdessen geht es neben der Flexibilisierung und Nachhaltigkeit einerseits darum, symmetrische Verflechtungen weiter zu fördern, um Kanäle in die jeweils anderen Gesellschaften offen zu halten und eine zukünftige Annäherung nicht zu verbauen. Andererseits müssen der Mehrheit der Staaten, die sich keinem der gegenwärtigen Lager unmittelbar zurechnen lassen (oder zurechnen lassen wollen), neue Angebote der Verflechtung eröffnet werden. Diese Verflechtungen müssen von vornherein mit starken Institutionen versehen sein, die sicherstellen, dass sie auf gemeinsame Gewinne und eine stabile kooperative Zukunft zielen.
[1] Gemeint ist der Joint Comprehension Plan of Action, das Nuklearabkommen zwischen den P5 plus Deutschland und dem Iran, den die USA unter der damaligen Trump Administration 2018 aufkündigte und den Iran mit Sanktionen belegte. Die Europäischen Mitglieder versuchten daraufhin mit INSTEX einen alternativen Zahlungsmechanismus bereitzustellen, der Formen des Handels mit dem Iran weiter erlaubt hätte, aber er blieb weitgehend erfolglos.
Dieser Artikel ist am 1. September 2022 ebenfalls auf dem 49security Blog erschienen.
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Mit Außenpolitik kann man keine Wahlen gewinnen, ohne Außenpolitik aber keine Zukunft
Die UN als globaler „Streitraum“. Zur Aktualität von Dag Hammarskjölds Erbe
Dag Hammarskjöld? War das nicht der mit dem mysteriösen Flugzeugabsturz im Kongo? Außerhalb des kleinen Kreises derer, die sich intensiv mit der Geschichte der Vereinten Nationen beschäftigen, verblasst die Erinnerung an den zweiten UN-Generalsekretär zunehmend. Wir wollen den 60. Todestag von Dag Hammarskjöld zum Anlass nehmen, um nochmals einen Blick auf dieses „Wunderkind aus Schweden“ zu werfen – und zu fragen, inwiefern Hammarskjölds Erbe heute noch von Bedeutung ist. Unser Blick richtet sich dabei vor allem nach vorne: In Anlehnung an Hammarskjöld argumentieren wir, dass die UN nur als globaler „Streitraum“ zukunftsfähig ist.
Dag Hammarskjöld wurde am 29. Juli 1905 im schwedischen Jönköping geboren. Die Hammarskjölds waren zu dieser Zeit eine bekannte Adelsfamilie in Schweden, aus der über Generationen hinweg leitende Beamte und hohe Staatsdiener hervorgegangen waren. Dass Dag nach einem Studium mit Bestnoten und einem Doktortitel der Universität Uppsala ebenfalls in den Staatsdienst eintrat, kam deshalb – vermutlich für alle Beteiligten – wenig überraschend. Mit nur 27 Jahren wurde Hammarskjöld Staatssekretär im Finanzministerium und war, auch aufgrund seines unermüdlichen Arbeitseinsatzes, kurze Zeit später in der gesamten schwedischen Administration als „some kind of wonderboy“1 bekannt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg widmete sich Hammarskjöld zunehmend der internationalen Politik, vertrat sein Land beispielsweise 1947 beim Ausschuss für den Marshall-Plan in Paris. Auch auf dem internationalen Parkett machte sich das „Wunderkind“ aus Schweden schnell einen Namen und wurde kurze Zeit später zum stellvertretenden Außenminister ernannt. Im Jahr 1953 war Dag Hammarskjöld auf der internationalen Bühne deshalb kein völlig Unbekannter mehr, trotzdem kam seine Nominierung zum UN-Generalsekretär überraschend. Hammarskjöld selbst hatte nicht mit einer Nominierung gerechnet, und dachte zunächst an einen April-Scherz, als er von einem Journalisten mitten in der Nacht angerufen und um einen Kommentar gebeten wurde. Brian Urquhart, Hammarskjölds langjähriger Mitarbeiter und Biograph, spricht gar von reinem Zufall: „They went searching around all over the place and, by pure accident, picked up somebody who was exactly the opposite to what everybody wanted. They thought they’d got a safe, bureaucratic civil servant, non-political – and they got Hammarskjöld.”2
Mit nur 47 Jahren wurde Hammarskjöld am 7. April 1953 zum – bis heute jüngsten – UN-Generalsekretär ernannt; und 1957 einstimmig für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Der Rest ist – wie man so schön sagt – Geschichte: Hammarskjölds erfolgreiche Verhandlungen mit China zur Freilassung amerikanischer Piloten; seine gelungene Deeskalation der Suez-Krise und die Aufstellung der ersten bewaffneten Peacekeeping-Mission; die heikle (und am Ende nicht erfolgreiche) Intervention in der gerade unabhängig gewordenen Republik Kongo; und nicht zuletzt sein – bis heute nicht endgültig aufgeklärter – Tod bei einem Flugzeugabsturz am 18. September 1961 in Nordrhodesien.3 In seinen acht Jahren als Generalsekretär wurde Hammarskjöld zum „living symbol“ und prägenden Gesicht der Vereinten Nationen.4 Er bekam posthum den Friedensnobelpreis verliehen, John F. Kennedy adelte ihn als „greatest statesman of our century”, und auch das nach seinem Tod erschienene spirituelle Tagebuch „Markings“, welches international zum Bestseller wurde, befeuerte Hammarskjölds weltweite Popularität.5
Über all das und noch viel mehr wurde bereits ausführlich geschrieben: Hammarskjölds Leben und Wirken füllt ganze Bibliotheksregale.6 Wir wollen deshalb den Blick nach vorne richten und anlässlich seines 60. Todestages fragen, inwiefern Hammarskjölds Erbe heute noch von Relevanz ist. Was lässt sich von Hammarskjöld mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen lernen, mit denen die Vereinten Nationen zurzeit konfrontiert sind?
Dag Hammarskjölds „UN-Erbe“
Es ist weder möglich noch unsere Absicht, den vielen Innovationen, die Dag Hammarskjöld in seiner Zeit als UN-Generalsekretär angestoßen hat – darunter etwa die Entwicklung des bewaffneten Peacekeeping7 – hier auch nur ansatzweise gerecht zu werden. Wir greifen stattdessen einen Grundgedanken von Hammarskjöld heraus, den wir als zentral für Überlegungen zur Zukunft der UN erachten, nämlich sein Verständnis der Vereinten Nationen als globaler Streitraum. Dieses Verständnis spiegelt sich u.a. in den folgenden zwei Themenkomplexen wider, die beide bis heute eng mit dem Namen Hammarskjöld verbunden sind:
(1) „For all the others“ – gleichberechtigte Perspektiven in einer ungleichen Welt
Der erste Aspekt betrifft das Verhältnis der UN zu den geopolitischen Großmächten. Hammarskjöld vertrat mit Verve die Position, dass seine Loyalität als UN-Generalsekretär einzig und allein den Zielen der UN-Charta gelte. Unparteilichkeit war für Hammarskjöld das höchste Gut, jedoch verstand er diese nicht etwa als passive „Neutralität“, sondern als Auftrag und Verpflichtung zur aktiven Verteidigung der Werte der Charta.8 Sah er diese von den Großmächten verletzt, positionierte er sich ohne Zögern auch gegen die USA oder die Sowjetunion.9 Er zeigte dabei „klare Kante“ und versuchte so, die UN aus den Fängen bzw. der Lagerbildung des Kalten Krieges herauszuhalten. Darüber hinaus machte er sich im Verlauf seiner Amtszeit immer mehr zum Anwalt der kleinen und mittleren Staaten in der UN. In seiner berühmt gewordenen Antwort auf eine harte persönliche Attacke des sowjetischen Staatschefs Nikita Chruschtschow formulierte Hammarskjöld deutlich, für wen die UN aus seiner Sicht vor allem da seien: „It is not the Soviet Union or, indeed, any other Big Powers which need the United Nations for their protection. It is all the others. […] I shall remain in my post during the term of my office as a servant of the Organization in the interests of all those other nations as long as they wish me to do so”.10 Hammarskjöld vertrat demnach sehr entschieden die Position, dass globale Konflikte, die alle betreffen, auch mit allen diskutiert werden müssen. Die Vereinten Nationen waren für ihn der Ort, an dem alle Staaten – ungeachtet der globalen Machtverteilung – gleichberechtigt ihre jeweiligen Positionen und Perspektiven einbringen können sollten.
(2) Stille Diplomatie – Vertrauensbildung im Konflikt
Der zweite Aspekt steht in Verbindung mit der stets aktuellen Frage, wie aufkommenden Konflikten zwischen Staaten präventiv begegnet werden kann. Hammarskjöld praktizierte zu seiner Zeit oftmals eine „stille“ bzw. vertrauliche Diplomatie. Im Unterschied zur „öffentlichen Diplomatie“ (etwa in der UN-Generalversammlung; Pressekonferenzen; etc.) zielt diese auf das vertrauliche – nicht jedoch „geheime“ – Gespräch zwischen Staatschefs von Angesicht zu Angesicht ab. Hammarskjöld sah im persönlichen Austausch, basierend auf einem gegenseitigen Vorschuss an Vertrauen, sowie im hartnäckigen Suchen nach gesichtswahrenden Lösungen eine große Chance, um Konflikte gewaltfrei und präventiv zu lösen. Seine Verhandlung mit dem chinesischen Außenminister Tschou En-Lai, in der es um die Freilassung von inhaftierten amerikanischen Piloten ging, gilt als beispielhaft für diese Form der stillen Diplomatie. Im Kern geht es dabei um Vertrauensbildung im Konflikt: Um zu vermeiden, dass sich ein Konflikt zwischen zwei Mitgliedsstaaten auf öffentlicher Bühne hochschaukelt und immer weiter eskaliert, vermitteln die Vereinten Nationen direkt zwischen den Parteien. In vertraulichen Gesprächen – und in Abwesenheit öffentlicher Schuldzuweisungen – baut sich so langsam gegenseitiges Vertrauen zwischen den Konfliktparteien auf.11 Für Hammarskjöld waren die Vereinten Nationen folglich nicht nur der Ort, an dem alle Mitgliedsstaaten ihre Perspektiven gleichberechtigt einbringen und Konflikte austragen können, sondern auch der Akteur, der in der Lage ist, zwischen einzelnen Mitgliedsstaaten vertraulich zu vermitteln.
Gestern, heute, morgen: Die UN als globaler „Streitraum“
In diesen zwei Elementen – der UN „for all the others“ und der „stillen Diplomatie“ – steckt Hammarskjölds Verständnis der Vereinten Nationen als globaler „Streitraum“. Dieser Streitraum ermöglicht sowohl die öffentliche Austragung von Konflikten zu Fragen der Weltordnung, als auch vertrauliche (und vertrauensbildende) Gespräche zwischen zwei einzelnen Konfliktparteien. Hammarskjöld hat das früh verstanden: Er war nicht nur ein begnadeter Diplomat, sondern auch ein Meister darin, die UN in ihrer (potenziellen) Rolle und Funktion zu erkennen. Dabei hatte er stets fest im Blick, dass die UN „für alle“ da sein müssen – und einen Raum darstellen, in dem Interessenskonflikte nicht geleugnet, sondern konstruktiv ausgetragen werden können: „We can look at the Organization as a body where ideologies are permitted to clash inside the wider framework of a fundamental unity of purpose for peace.”12 Die UNO vertritt einen allgemeinen Willen, keinen partikularen: Sie muss deshalb Differenzen zulassen und gleichzeitig „working compromises“ ermöglichen – sie muss ein globaler Streitraum sein.
Für Hammarskjöld ist die universelle Mitgliedschaft in der UNO dementsprechend ein zentraler Baustein für ihren Erfolg. Für ihn ist entscheidend, dass die UN für alle Staaten offen sind – und nicht zu einem Club von Gleichgesinnten verkommen: „The idea of the United Nations as a club to which only the like-minded will be admitted, in which membership is a privilege and expulsion is the retribution for wrong doing, is totally unrealistic and self-defeating.”13 Gerade deshalb sei es gefährlich, wenn manche Staaten die UN nicht mehr als zentrales Forum für die Aushandlung von Konflikten ansehen. Die UN, so Hammarskjöld, müssten stets im Zentrum des Geschehens sein und dürften nicht von anderen Initiativen oder Foren untergraben werden: „We must not let the United Nations become a mere hostage to the conscience of the Member States, a shrine at which obeisance is paid at the appropriate seasons while the real action goes on elsewhere.”
Heute jedoch droht genau diese Gefahr. Viele Staaten sehen die UN nicht mehr als zentrales Forum, um ihre Vorhaben voranzutreiben. Sie nutzen die UN zwar vielfach noch als „Service-Agentur“, die einzelne Programme umsetzen kann – aber nicht mehr als Anlaufstelle, um politische Differenzen auszutragen und mit anderen Staaten nach Lösungen für die globalen Probleme unserer Zeit zu suchen. Keine Frage: Allianzen für Multilateralismus oder „Summits for Democracies“ können wichtige Impulse setzen und Themen auf die Agenda bringen. Aber als „like-minded clubs“ sind sie eben – ganz bewusst – keine globalen „Streiträume“. Genau diese Räume aber brauchen wir heute mehr denn je, nicht zuletzt mit Blick auf die zunehmenden Großmachtrivalitäten. Die UN ist wie keine andere Institution dafür prädestiniert, einen solchen Streitraum zu bieten. Will sie zukunftsfähig bleiben, muss sie sich deshalb – trotz aller aktuellen Schwierigkeiten14 – in Anlehnung an Hammarskjöld genau dies wieder verstärkt zum Ziel setzen.
Um jedoch überhaupt als UN „for all“ agieren zu können, müssen die Vereinten Nationen unabhängiger von ihren Mitgliedsstaaten werden, insbesondere von den finanzkräftigen. Die Vereinten Nationen müssen eigenständig steuern können, Akzente setzen und dort intervenieren, wo sie Bedrohungen und Chancen für Frieden und Sicherheit sehen. Das kann nur gelingen, wenn die UN mehr finanzielle Mittel ohne Zweckbindung erhalten, über deren Verwendung dann in den entsprechenden multilateralen Gremien entschieden werden kann.15 Auch die aktuell auf Eis liegende Reformdiskussion bzgl. des UN-Sicherheitsrates mit seiner aus der Zeit gefallenen Machtasymmetrie sollte in diesem Zusammenhang dringend wiederbelebt werden.
Dag Hammarskjöld, zweiter Generalsekretär der UN (1953-1961)
„It is not the Soviet Union or, indeed, any other Big Powers which need the United Nations for their protection. It is all the others.”16
„The UN is faith and works – faith in the possibility of a world without fear and works to bring that faith closer to realization in the life of men”.17
„Our work for peace must begin within the private world of each one of us. To build for man a world without fear, we must be without fear. To build a world of justice, we must be just. And how can we fight for liberty if we are not free in our own minds? How can we as others to sacrifice if we are not ready to do so?”18
„Everything will be all right – you know when? When people, just people, stop thinking of the United Nations as a weird Picasso abstraction and see it as a drawing they made themselves.”19
„I take pride in belonging to the family of grasses, and I remain quite green in spite of a lot of trampling.”20
Darüber hinaus sind gerade die „westlichen“ Staaten in der Pflicht, die UN wieder zum zentralen Gremium der Weltpolitik zu machen und sie als globalen Streitraum wiederzubeleben, der allen offen steht. Dazu gehört, dass der bereits beworbene „Global Summit for Democracy“, den die neue US-Administration unter Präsident Biden plant, keine Veranstaltung der Demokratien ist – kein Club von Like-Minded, die sich ihrer normativen Überlegenheit versichern – sondern stattdessen ein Angebot an alle (UN-Mitglieder) darstellt, über die Vorzüge und Nachteile von Demokratie offen zu streiten und die gemeinsamen Grundlagen für das Handeln in einer geteilten Welt neu zu verhandeln. Ein solcher Streit braucht Mut, denn sein Ausgang ist zwangsläufig offen. Doch mit Blick auf die Zukunft der globalen Weltordnung wird es ohne diese Auseinandersetzung nicht gehen.
Dag Hammarskjölds humanistisches Erbe – Symposium im Frankfurter Haus am Dom
Am Freitag, den 3. September 2021, 14-17 Uhr, veranstaltet die HSFK, gemeinsam mit der Katholischen Akademie Rabanus Maurus, der Evangelischen Akademie Frankfurt und dem Schwedischen Honorargeneralkonsulat Frankfurt, ein Symposium zum unermüdlichen Engagement Dag Hammarskjölds für eine gerechtere und friedlichere Welt und zu seinem humanistischen Erbe 60 Jahre nach seinem tragischen Tod. HSFK-Leiterin Nicole Deitelhoff diskutiert dazu unter anderem mit Per Anders Thöresson, dem Botschafter des Königreichs Schweden in Deutschland.
Die Veranstaltung im Frankfurter Haus am Dom wird als Livestream bei YouTube übertragen. Weitere Informationen finden Sie unter www.hsfk.de/veranstaltungen.