Trauerzug für Bürgermeister Antonio Halili in Tanauan City am 8. Juli 2018. Er war bei einer Fahnenweihe erschossen worden – und eines von drei Opfern tödlicher Gewalt gegen Lokalpolitiker:innen innerhalb einer Woche (© picture alliance/AP Photo, Bullit Marquez).
Trauerzug für Bürgermeister Antonio Halili in Tanauan City am 8. Juli 2018. Er war bei einer Fahnenweihe erschossen worden – und eines von drei Opfern tödlicher Gewalt gegen Lokalpolitiker:innen innerhalb einer Woche (© picture alliance/AP Photo, Bullit Marquez).

Eine gewaltträchtige Ordnung. Gezielte Tötung als Mittel des „demokratischen“ Wettstreits in den Philippinen

Seit Langem ist in den Philippinen die gezielte Tötung politischer Gegner:innen ein fester Bestandteil des „demokratischen“ Wettstreits, dem pro Jahr zwischen 50 und 100 Politiker:innen und Kandidat:innen zum Opfer fallen. Trotz der Persistenz dieses Phänomens wird es jenseits der alltäglichen Berichterstattung in den philippinischen Medien weitestgehend ignoriert und stillschweigend als Teil der sozio-politischen Ordnung akzeptiert. Das Spotlight stellt diese national wie international kaum beachtete Form der Gewalt vor und verankert sie im Kontext eines umfassenderen Gewaltsyndroms.

Die philippinische Demokratie war und ist gewalthaltig und zwar nicht nur in dem Sinn, dass Herrschende Gewalt gegen Kritiker:innen und Herausforder:innen der lokalen oder nationalen Ordnung ausüben. Sie ist auch ausgesprochen gewalthaltig in der intra-elitären Konkurrenz um politische Posten und Pfründe.

Trotzdem gab es bislang – jenseits relativ unvollständiger Berichte über Wahlgewalt – keinen Versuch, das Ausmaß, die räumliche und zeitliche Verteilung und die Betroffenheit der unterschiedlichen Kategorien gewählter Politiker:innen quantitativ zu erheben. Dies leistet erstmals ein vom Autor dieses Spotlights erarbeiteter Datensatz für den Zeitraum von Januar 2007 bis Juni 2021.

Die Gewalt der letzten Jahre

Für die erfassten 14,5 Jahre konnte eine Gesamtzahl von 1.027 aktiven und früheren Politiker:innen sowie Kandidat:innen namentlich erfasst werden, die einem Attentat zum Opfer fielen. Darüber hinaus wurden 163 verletzt, 96 entkamen ohne Verletzungen. Hinzu kommen mehrere hundert Opfer, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren, seien es Sicherheitsbeamt:innen, Verwandte und Freund:innen oder Unbeteiligte.1

Fast alle getöteten Zielpersonen waren Lokalpolitiker:innen, ca. zwei Drittel auf der Dorfebene bzw. der des Stadtbezirks (barangay), die meisten anderen waren Mitglieder des Stadtrates oder Bürgermeister:innen. Hinzu kommt noch eine kleinere Zahl weiterer Opfer in anderen gewählten Positionen (z.B. Gouverneur:innen, Parlamentsabgeordnete sowie Kandidat:innen, die bis dato noch kein Amt ausübten). Mit im Schnitt jährlich 55,5 Getöteten war diese Form der Gewalt schon vor der Präsidentschaft Rodrigo Dutertes ein zwar nicht alltägliches, wohl aber allwöchentliches Ereignis. Allerdings stieg die Zahl der Toten während seiner Präsidentschaft (seit Juli 2016) drastisch auf 100 pro Jahr.

Getötete Politiker:innen und Kandidat:innen 2007–2020

Insgesamt steigt die Gewalt an und verläuft in Wellen, die Höhepunkte liegen jeweils im Wahljahr sowie in der zweiten Hälfte des vorangegangenen Jahres. Wahlen fanden in den Jahren 2007, 2010, 2013, 2016 sowie 2018 und 2019 statt (Grafik 1 und Tabelle 1).

Grafik 1: Getötete Politiker:innen und Kandidat:innen (2007–2020).
Grafik 1: Getötete Politiker:innen und Kandidat:innen (2007–2020, absolute Zahlen).
Tabelle 1: Getötete Politiker:innen und Kandidat:innen (2007–2020).
Tabelle 1: Getötete Politiker:innen und Kandidat:innen (2007–2020).

Diese Gewalt ist im ganzen Land verbreitet, wenngleich mit deutlichen regionalen und lokalen Schwerpunkten. So starben in zwei ländlichen Regionen im Norden der Philippinen (Ilocos Region, Cordillera Administrative Region) zwischen 2007 und 2020 23 bzw. 26 Politiker:innen pro Millionen Einwohner:innen, während in einer anderen direkt benachbarten Region die Tötungsrate bei zwölf lag (Cagayan). Die Hauptstadtregion weist mit 5,9 eine vergleichsweise niedrige Rate auf, ebenso die direkt benachbarte Region Calabarzon (5,6). Die niedrigste Rate (4,0) findet sich in der Mimaropa-Region, die das nördliche Luzon mit der südlich davon gelegenen Inselgruppe der Visayas verbindet. Selbst dort wurden in diesen 14 Jahren allerdings bei knapp drei Millionen Einwohner:innen noch zwölf Politiker:innen und Kandidat:innen ermordet.

Bei genauerem Hinsehen wird erkennbar, dass sich innerhalb der Regionen teilweise fundamentale Unterschiede auf Provinzebene und darunter verbergen. Der Blick auf die einzelnen Jahre wiederum verdeutlicht, dass die Gewalt in den verschiedenen Einheiten jeweils eigenen zeitlichen Mustern folgt und mithin die generelle Beobachtung der Steigerung und des Wellencharakters der Gewalt auf einer großen lokalen Vielfalt aufsitzt. Gewalt erscheint als ein dauerhaftes Phänomen. Sie ist allgegenwärtig, folgt jedoch lokalen Mustern und Dynamiken. Die Steigerung der Gewaltintensität der letzten Jahre signalisiert, dass die Enttabuisierung von gezielter Tötung und Selbstjustiz im Rahmen der Kampagne gegen Drogenkriminalität weitreichende Folgen in allen gesellschaftlichen Bereichen hat.

Das umfassendere Problem: eine gewaltträchtige Ordnung

Das Ausmaß dieser Gewalt war und ist im internationalen Vergleich außergewöhnlich. Das gilt gerade auch in Anbetracht der Tatsache, dass es sich hier – anders als in Mexiko, wo in den letzten Jahren Hunderte von Politiker:innen der Gewalt der Drogenbanden zum Opfer fielen – grundsätzlich nicht um ein Krisenphänomen handelt und es auch keine Hinweise darauf gibt, dass ein nennenswerter Anteil der Gewalt von der Organisierten Kriminalität ausgeht.2 Angesichts der beinahe vollumfänglichen Straflosigkeit ist man auf Indizien angewiesen, die auf die Auftraggeber:innen verweisen. Diese sprechen klar dafür, dass die Aufträge zum Mord in der Regel von Mitgliedern der politischen Klasse ausgehen.3

In den Philippinen besteht auch 35 Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie4 trotz regelmäßiger freier Wahlen und Regierungswechsel das Problem einer Gewalt fort, die sich vom politischen Establishment ausgehend gegen Mitglieder des Establishments richtet.

Diese intra-elitäre Gewalt ist Bestandteil eines umfassenderen, alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringenden Gewaltsyndroms. Ein hohes Maß an gezielten Tötungen richtet sich gleichermaßen gegen Journalist:innen, Richter:innen, Staats- oder Rechtsanwält:innen und politische Aktivist:innen, aber auch gegen die Allgemeinheit.

Im Vergleich sticht die Tötungsrate von Politiker:innen allerdings deutlich hervor. Im Schnitt werden jedes Jahr zehnmal mehr Politiker:innen umgebracht als Journalist:innen, Richter:innen, Staats- oder Rechtsanwält:innen. Selbst die gegen politische Aktivist:innen gerichtete tödliche Gewalt forderte zwischen 2007 und 2020 weniger Opfer als die Gewalt gegen gewählte Amtsinhaber:innen und Kandidat:innen. Gleichzeitig weisen die Philippinen mit mehr als 12.000 intentionalen Tötungsdelikten ein für Asien außergewöhnlich hohes gesamtgesellschaftliches Gewaltniveau auf. Zum Vergleich: Indonesien hatte im letzten Jahrzehnt pro Jahr ca. 1.200 intentionale Tötungsdelikte,5 obgleich es mehr als doppelt so viele Einwohner:innen hat wie die Philippinen.

Gewalt gilt als rechtfertigbare Option

Die gegen Politiker:innen und Kandidat:innen gerichtete Gewalt ist dabei ein Ausdruck eines umfassenderen Verständnisses von Gewalt: Sie gilt als ein etabliertes, kaum problematisiertes Mittel des Konfliktaustrags, das in besonderem Maß innerhalb der Elite6 zum Tragen kommt.

Direkte Belege für das Ausmaß kognitiver bzw. kultureller Normalisierung7 von Gewalt sind nicht nur für die Philippinen rar. Allerdings findet sich eine Reihe entsprechender Indizien. So stechen die Philippinen im international vergleichenden „World Values Survey“ mit extremen Werten hervor – etwa bei Fragen nach der Rechtfertigbarkeit von politischer Gewalt, von Gewalt gegen die eigene Ehefrau ebenso wie gegen andere Personen im Allgemeinen.

Tabelle 2: Dokumentierte extralegale Tötungen pro Jahr (2007–2020).8
Tabelle 2: Dokumentierte extralegale Tötungen pro Jahr (2007–2020).8

Für 10% ist es immer zu rechtfertigen, dass ein Mann seine Ehefrau schlägt, für 8% ist Gewalt gegen andere und für 7% politische Gewalt immer rechtfertigbar. Auch in der Gesamtverteilung des Antwortverhaltens weisen die Philippinen gegenüber dem Durchschnitt extreme Werte auf (siehe Grafik 2).9

 

Grafik 2: Rechtfertigung von Gewalt: die Philippinen im internationalen Vergleich.
Grafik 2: Rechtfertigung von Gewalt: die Philippinen im internationalen Vergleich.

 Der Datensatz

Für genauere Informationen zum Datensatz und detailliertere Analysen zum Thema der politischen Gewalt in den Philippinen, siehe
Kreuzer, Peter: „If You Can’t Beat Them, Kill Them“. Fatal Violence Against Politicians in the Philippines, PRIF Report 2/2021, Frankfurt/M.

 


In die gleiche Richtung der stillschweigenden Akzeptanz von Gewalt weisen die dauerhaft stabilen Zustimmungswerte für die nationale Kampagne gegen illegale Drogen. Sie liegen bei um die 80%, obwohl dieser Kampagne schon Tausende von Filipinos und Filipinas zum Opfer gefallen sind. Gleichzeitig geben seit der Amtsübernahme Dutertes mehr Menschen an, mit der Qualität der Demokratie zufrieden zu sein (ca. 80%) als unter seinen zwei Vorgänger:innen Macapagal-Arroyo und Aquino. 90% der Filipinos und Filipinas sind trotz des dramatischen Drogenkriegs des Präsidenten auch der Meinung, dass die Menschenrechte im Land respektiert werden.10

Fazit

Regelmäßige Wahlen, beständige Regierungswechsel, selbst eine freie Presse und aktive Zivilgesellschaft reichen nicht aus, das demokratische Versprechen eines friedlichen Interessenausgleichs und niedrigen innergesellschaftlichen Gewaltniveaus zu gewährleisten. Zwar kann eine demokratische Ordnung prinzipiell gewaltmindernd in die Gesellschaft hineinwirken, das setzt allerdings voraus, dass die politischen Akteure die Norm des gewaltfreien Konfliktaustrags in ihrem Handeln respektieren. Es setzt auch voraus, dass die, die dies nicht tun, weder straffrei ausgehen noch wiedergewählt werden. Bislang wird die Anwendung von Gewalt in den Philippinen jedoch weder vor Gericht noch an der Wahlurne bestraft. Folglich fehlen die Anreize, entsprechende Verhaltensmuster zu ändern. Vielmehr erscheinen Straffreiheit und die Akzeptanz von Gewalt als seit Jahrzehnten etablierte Erwartungsmuster an die empirisch vorfindbare politische und gesellschaftliche Praxis. Von daher spricht alles für den Fortbestand der Gewalt in der Politik – und darüber hinaus.

 

 


Download (pdf): Kreuzer, Peter: Eine gewaltträchtige Ordnung. Gezielte Tötung als Mittel des „demokratischen“ Wettstreits in den Philippinen, PRIF Spotlight 12/2021, Frankfurt/M.

 

Zu den Fußnoten.

 

 

 

 


Weitere Publikationen des Autors zum Thema der politischen Gewalt in den Philippinen:

Kreuzer, Peter: A Patron-Strongman Who Delivers: Explaining Enduring Public Support for President Duterte in the Philippines, PRIF-Report 1/2020, Frankfurt/M (pdf).

Kreuzer, Peter: Mafia-style Domination in the Philippines: Comparing Provinces, PRIF Report No. 117, Frankfurt/M. 2012 (pdf).

Kreuzer, Peter: Philippine Governance: Merging Politics and Crime, PRIF Report No. 93, Frankfurt/M. 2009 (pdf).

Peter Kreuzer
Dr. Peter Kreuzer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter am PRIF. Sein Fokus liegt auf politischer Gewalt in den Philippinen und maritimen Konflikten im Südchinesischen Meer. // Dr Peter Kreuzer is a Senior Researcher at PRIF. He focuses on political violence in the Philippines and maritime conflicts in the South China Sea.

Peter Kreuzer

Dr. Peter Kreuzer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter am PRIF. Sein Fokus liegt auf politischer Gewalt in den Philippinen und maritimen Konflikten im Südchinesischen Meer. // Dr Peter Kreuzer is a Senior Researcher at PRIF. He focuses on political violence in the Philippines and maritime conflicts in the South China Sea.

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