Kultusminister L. Friedeburg, Friedenspädagogin B. A. Reardon und D. Senghaas im November 1972
Bad Nauheim, November 1972: Dieter Senghaas (rechts), zusammen mit dem damaligen Hessischen Kultusminister Ludwig Friedeburg und der Professorin und Friedenspädagogin Betty A. Reardon. Foto: D. Senghaas

Ein kritischer Friedensforscher – Dieter Senghaas im Gespräch

Dieter Senghaas war 1970 Teil des Gründertrios der HSFK und prägte die deutsche Friedensforschung mit seinen kritischen Analysen zum Ost-West-Konflikt sowie zu den Beziehungen zwischen globalem Norden und Süden. Lothar Brock, der die Gründerjahre der deutschen Friedensforschung an der FU Berlin mitgestaltete, blickt zum 50 jährigen Jubiläum der HSFK mit ihm zurück auf die Anfangsjahre des Instituts, das sich in einem nicht immer wohlwollenden politischen Klima behaupten musste. Auch wenn sich das heute geändert hat, rät er der HSFK vor allem eines: kritisch bleiben.

 

 

Das Interview ist in der folgenden Kurzversion auch im Jubiläumsmagazin der HSFK erschienen. 

 

Lothar Brock: Es war am 30. Oktober 1970 als der Hessische Ministerpräsident Albert Osswald dir, Ernst-Otto Czempiel und Hans Nicklas die Stiftungsurkunde überreicht hat. Erinnerst du dich?

Dieter Senghaas: An die Übergabe selbst erinnere ich mich nicht, ich erinnere mich natürlich an Czempiel und Nicklas. Und ich erinnere mich insbesondere an Ludwig von Friedeburg, der jetzt nicht erwähnt worden ist. Denn Ludwig von Friedeburg war eigentlich der intellektuelle Hintergrund in Wiesbaden für unser Projekt. Ich hatte das Glück, dass er 1975 Professor am Institut für Sozialforschung wurde, dies unter den Vorzeichen von Horkheimer und Adorno. Er war Zweitgutachter meiner Dissertation über die Abschreckungskritik. Das heißt, es gab persönliche Beziehungen, die sehr wichtig waren, um zwischen Frankfurt und Wiesbaden wirklich eine produktive, konstruktive Verbindung zu schaffen.

Lothar Brock: Aber Ludwig von Friedeburg hatte keine formelle Funktion in der HSFK?

Dieter Senghaas: Nein. Er war von 1969 bis 1974 Kultusminister. Also genau in der Zeit, als wir alles geplant und aufgebaut haben, und natürlich auch zur Zeit von Willy Brandt als Kanzler.

Lothar Brock: Nun war zwei Tage vor Überreichung dieser Stiftungsurkunde an euch die Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung gegründet worden, ein Jahr später das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg, die Liste ließe sich fortführen. Woher kam aus deiner Sicht ab Ende der 1960er Jahre plötzlich dieser Gründungselan in der deutschen Friedensforschung?

Dieter Senghaas: Ich denke, es hat neben persönlichem Engagement mit der politischen Gesamtkonstellation – international und national – zu tun. Denn wir durchlebten ja den Ost-West-Konflikt, zugespitzt durch die klare Trennung von DDR und Bundesrepublik in Gestalt der Mauer. Ende der 1960er Jahre kam dann eine Phase der Entspannung in Gang. Jetzt ging es darum: Wenn es die Entspannung gibt, was macht man dann? Kooperation, Rüstungskontrolle, im ökonomischen Bereich, im Bereich von Wissenschaft zwischen Ost und West? Es waren neue offene Fragen und Motivationen, die dazu geführt haben, die Friedensforschung in der Bundesrepublik zu fördern.

Lothar Brock: Warum ist die HSFK als eine eigenständige Institution gegründet worden und nicht als ein Forschungsinstitut an der Universität Frankfurt?

Dieter Senghaas: Naja, welche Universität wäre es denn gewesen, das war ja nicht notwendigerweise Frankfurt. Es hätte ja auch Gießen, Marburg oder Darmstadt sein können. Und wenn man es an einer Universität ansiedelt, an welcher Stelle siedelt man es dann an? Wäre es ein eigenständiges Institut gewesen, dann hätten die Soziologen, Politikwissenschaftler, Völkerrechtler, die Sozialpsychologen und so weiter gefragt: Warum nicht das Sigmund-Freud-Institut ergänzen, warum nicht das Institut für Sozialforschung ergänzen? Das umging man und wollte, glaube ich, schon einen ganz deutlich eigenen Akzent setzen. Nämlich ein Institut, das notwendigerweise von vornherein zumindest im Anspruch multidisziplinär und interdisziplinär ist.

Lothar Brock: Die Friedensforschung bewegt sich ja zwischen Ökonomie, Soziologie, Psychologie, ist also ein sehr weites Feld. Welches sollte der Kernbereich der Arbeit in der HSFK sein?

Dieter Senghaas: Der Kern sollten die Kernprobleme der Weltpolitik sein und vor allem die, die sich in der Bundesrepublik oder im Ost-West-Konflikt niederschlugen, insbesondere natürlich die Abschreckungsproblematik, die Rüstungsdynamik. Im Kommen war damals die Nord-Süd-Problematik, wo es plötzlich alternative Perspektiven zur Modernisierungstheorie gab. Und es ging darum, das hat insbesondere Ernst-Otto Czempiel thematisch mit hereingebracht, dass man über Friedensstrukturen sprach: Was heißt es eigentlich, nachhaltige Friedensstrukturen international, regional, aber auch vor Ort innergesellschaftlich aufzubauen? Von Wiesbaden aus gab es den Impuls, dass sich alles übersetzen lassen sollte in Friedenspädagogik. Und Hans Nicklas war ja derjenige, der diese Brücke in die HSFK eingebracht hat.

Lothar Brock: Konfliktpädagogik hieß, dass man Schüler dazu erzieht, auch kritisch mit ihrer Umwelt umzugehen bis hin zum – und der Begriff fiel da – Widerstand gegen bestehende Verhältnisse. Das hat einen Aufschrei gegeben. Hat die HSFK in Person von Hans Nicklas an solchen Formulierungen mitgewirkt?

Dieter Senghaas: Also ich vermute ja, dass es da seinen Ausgangspunkt genommen hat. Es war ja auch ganz naheliegend, denn der Anspruch der HSFK selbst war die Kritik des symbolischen Gebrauchs der Politik. Zum Beispiel sagte man in der Öffentlichkeit: In der Rüstungskontrolle wird Rüstung kontrolliert. In Wirklichkeit wurde Rüstung zwar auch eingeschränkt, aber gleichzeitig modernisiert: Man baute auf eine einzelne Interkontinentalrakete nicht nur einen Waffenkopf, sondern plötzlich waren es mehrere, die unabhängig voneinander eingesetzt werden konnten. Das war Aufrüstung. „Rüstungskontrolle“ war wie eine Ideologie: der symbolische Gebrauch von Begriffen, die aber gar nicht das reflektierten, was in Wirklichkeit passierte. Wenn sich unsere Kritik daran übersetzt hat in das Wissen, das an Schulen vermittelt werden sollte, dann war das völlig korrekt.

Lothar Brock: Die Friedensforschung hat sich teilweise sehr stark solidarisiert mit nationalen Befreiungsbewegungen. Das erzeugte Spannungen mit der Politik. Auch die HSFK geriet Anfang der 1980er Jahre in Auseinandersetzungen mit der Politik in Hessen, vor allem beim Streit um den Ausbau der Startbahn West und mit Blick auf die von Egbert Jahn organisierte „Walduniversität“, die als Unterstützung des Protests verstanden wurde. Heute sind wir Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft und damit sozusagen als Spitzenforschung geadelt. Die alten Konflikte zwischen Forschung und Politik, die gibt es nicht mehr. Wie erklärst du dir das?

Dieter Senghaas: Zunächst war für uns wichtiger, wirklich gute Erkenntnisse zu publizieren. Nicht irgendwelche Positionen zu vertreten, weil das aus irgendwelchen Gründen – ideologischen, politischen oder taktischen – wichtig sei, sondern wirklich solide aufgearbeitete Befunde in entsprechende Öffentlichkeitsarbeit zu übersetzen. Die anderen Probleme, Egbert Jahn und die Walduniversität und dergleichen, die kamen durch Außenaktivitäten zustande.

Lothar Brock: Die Professionalität der Friedensforschung ist inzwischen von der Politik anerkannt. Könntest du dir vorstellen, dass dieses günstige politische Klima sich in absehbarer Zukunft wieder verändern könnte?

Dieter Senghaas: Das wäre nur dann möglich, wenn die Rechtsextremen fünfzig Prozent der Parlamentssitze in Wiesbaden oder Berlin bekommen würden. Zunächst kann ich mir das nicht vorstellen. Wenn man Schwierigkeiten, die wir in den 1960er, 1970er, 1980er Jahren hatten, vergleicht mit dem neuen Dokument „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern. Leitlinien der Bundesregierung“ vom Auswärtigen Amt aus dem Jahr 2017, dann ist das umwerfend gut. Da gibt es eine konstruktive Brücke zwischen dem, was die Friedens-, Konflikt- und Entwicklungsforschung erarbeitet hat und den politischen Leitlinien. Ich war völlig überrascht. Ich würde der Friedensforschung sehr empfehlen, auf Grundlage dieser Leitlinien immer wieder neu zu fragen: Was hat die Friedensforschung tatsächlich empfohlen und was ist davon in die Politik eingegangen? Wie hat sich die Regierung verhalten? Wo ist es reine Rhetorik geblieben? Dann muss man wieder in ein Gespräch kommen, noch intensiver, zwischen Friedensforschung und Politik. Das fände ich ein fantastisches Projekt.

Lothar Brock: Diese Empfehlung richtet sich ja schon an die sehr nahe Zukunft. Gibt es anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens der HSFK noch irgendwelche Wünsche, die du ihr mit auf den Weg geben möchtest für die nächsten fünfzig Jahre?

Dieter Senghaas: Wir haben sicher ein ganz großes Problem, das wir in den 1960er, 1970er, 1980er, 1990er Jahren so noch nicht thematisiert haben. Wir haben uns beschäftigt mit dem Sicherheitsdilemma, dem Entwicklungsdilemma, dem Kooperationsdilemma, also der gesamten internationalen Ebene. Wir haben nicht das Ökologiedilemma thematisiert. Und ich glaube, dass es dort in der Friedensforschung einen Nachholbedarf gibt, mithilfe des Vorwissens aus unseren anderen Themen auch in diesem – für viele neuen – Bereich weitsichtige Forschung zu betreiben. Leitgedanke muss die gleiche Idee sein: das Problem differenziert aufarbeiten und in die Öffentlichkeit, die Politik und die Pädagogik Brücken schlagen. Die HSFK hat heute die Größe und die Unterstützung aus Politik, Medien, Administration und anderen Wissenschaftsorganisationen, um da einen wirklich konstruktiven Beitrag zu leisten.


Prof. Dieter Senghaas rief die HSFK gemeinsam mit Ernst-Otto Czempiel und Hans Nicklas 1970 ins Leben und war bis 1978 Forschungsgruppenleiter am Institut sowie zwischen 1972 und 1978 Professor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, bevor er an die Universität Bremen wechselte. Seine Arbeit in der kritischen Friedensforschung, die sich auf Abschreckungskritik sowie den Zusammenhang zwischen Frieden und Gerechtigkeit konzentrierte, wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem International Peace Research Award 1987.


 Prof. Lothar Brock war von 1981 bis 2005 Forschungsgruppenleiter an der HSFK und ist heute assoziierter Forscher im Programmbereich Innerstaatliche Konflikte. Er war von 1979 bis 2004 Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und lehrt dort bis heute als Seniorprofessor.

 

 


Dieser Beitrag ist Teil unseres Jubiläumsmagazins zum 50-jährigen Bestehen der HSFK. Das Magazin steht hier zum kostenlosen Download bereit (pdf, 5,42 MB).

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PRIF Redaktion

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Für diesen Beitrag ist die Abteilung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Peace Research Institute Frankfurt (PRIF) verantwortlich. // The Press and Public Relations Department of the Peace Research Institute Frankfurt (PRIF) is responsible for this article.

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