Am 08. März 2023 wurde Ilwad Elman mit dem Hessischen Friedenspreis 2022 der Albert-Osswald-Stiftung ausgezeichnet. Über ihre Projekte setzt Elman sich gemeinsam mit ihrer Mutter unermüdlich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten, Frauen und Kindern in Somalia ein, um einen nachhaltigen Frieden in dem Land am Horn von Afrika zu erreichen.
Somalia ist eines der ärmsten und gefährlichsten Länder der Welt, welches seit Jahrzehnten durch politische Unruhen und bewaffnete Gewaltkonflikte geprägt wird. Die erste große Welle der Gewalt erfolgte in den 1980er Jahren, als der damalige Präsident Siad Barre mit Repressionen gegen die Zivilbevölkerung und Oppositionsbewegungen vorging. Der Sturz des Diktators 1991 hinterließ ein Machtvakuum, das weitere Konflikte zwischen rivalisierenden Milizen und politischen Gruppen beförderte und schließlich zum weitgehenden Zerfall der staatlichen Ordnung führte. Die verschiedenen internationalen Interventionen zu Beginn der 1990er Jahre, an denen die UN und die USA beteiligt waren, trugen allesamt nicht zur Befriedung bei. Insbesondere die islamistische Gruppe Al-Shabaab gewann an Einfluss und Kontrolle über weite Teile des Landes und führt bis heute einen brutalen Krieg gegen die somalische Regierung und ihre internationalen Verbündeten.
Weitere internationale Bemühungen, Stabilität und Frieden in Somalia wiederherzustellen, wurden seit Mitte der 2000er unternommen, darunter die Mission der Afrikanischen Union in Somalia¹ die im Jahr 2007 ins Leben gerufen wurde und derzeit die weltweit größte Friedensmission ist. Im Jahr 2012 wurde eine neue provisorische Verfassung verabschiedet und eine Zentralregierung eingesetzt. Dennoch bleibt die politische Situation in Somalia fragil, insbesondere der Konflikt zwischen der Regierung und Al-Shabaab eskaliert immer wieder. „78 % der Bevölkerung – sind jünger als 30 Jahre. Das bedeutet, dass 78 % der Menschen in Somalia noch nie eine Zeit ohne Krieg und ohne Terror erlebt haben. Sie kennen kein Leben in Frieden“, stellt der hessische Ministerpräsident Boris Rhein bei der Verleihung des Friedenspreises fest.
Neben politischer Stabilisierung ist Somalia auch auf humanitäre Hilfe angewiesen. Denn Somalia ist so sehr vom Klimawandel betroffen wie kaum ein anderer Staat. Im Jahr 2023 erleiden die Menschen in Somalia die schlimmste Dürre seit 40 Jahren, zusätzlich zu massiven Überschwemmungen am Fluss Shabelle. Ganze Gebiete sind unbewohnbar und mehr als eine halbe Million Menschen wurden im Laufe der letzten Monate aufgrund von Umweltkatastrophen und Konflikten mit der Terrormiliz Al-Shabaab vertrieben. Die Hälfte der somalischen Bevölkerung benötigt humanitäre Hilfe. 6,7 Millionen Menschen, etwas mehr als die Gesamtbevölkerung Hessens, sind mit einer Nahrungsmittelkrise konfrontiert wegen der lokalen Konflikte und aufgrund des Krieges in der Ukraine und seinen Auswirkungen auf die Preise für Lebensmittel, Kraftstoffe und Düngemittel. Ein Großteil der Bevölkerung Somalias kämpft ums bloße Überleben, was die Möglichkeit eines dauerhaften Friedens in Somalia weiter erschwert.²
Trotzdem geben viele Somalis ihre Hoffnung auf ein friedlicheres und gerechteres Somalia nicht auf und nehmen die Gestaltung der Zukunft ihres Landes und seiner gesamten Gesellschaft in die eigene Hand. Eine von ihnen ist die Aktivistin Ilwad Elman, die nach der Emigration ihrer Familie nach Kanada mit 19 wieder in ihr Heimatland zurückgekehrt ist.
Ein riskantes Erbe
Ilwad Elman lebte in Kanada und wollte 2010 ihr Heimatland Somalia eigentlich nur für einen Monat besuchen. Doch sie blieb in Somalia und engagiert sich dort zusammen mit ihrer Mutter und ihren Schwestern seit mittlerweile 13 Jahren unermüdlich für Versöhnung und Menschenrechte, insbesondere für Frauenrechte, in dem bis heute vom Bürgerkrieg gebeutelten Land. Für diese Arbeit ist sie 2022 gemeinsam mit ihrer Mutter Fartun Adaan mit dem „alternativen Friedensnobelpreis“ ausgezeichnet worden. Am 8. März 2023 hat die Albert-Osswald-Stiftung Elman den Hessischen Friedenspreis 2022 verliehen.3 Für Ilwad Elman ein einzigartiger Preis, weil er auch ein Engagement für den Frieden würdigt, wo Frieden erst erreicht werden muss. „Das ist sehr wichtig, denn den Frieden aufzubauen, ist schwere Arbeit, psychisch und körperlich. Es ist eine frustrierende Arbeit, und sie erfordert blinde Hoffnung, manchmal eine Art von Hoffnung, die einen dazu treibt, in ein brennendes Gebäude hineinzulaufen, entgegen all dem, was einem die Vernunft sagt“, so Elman. Die heute 33-Jährige spricht aus Erfahrung. Denn es erweist sich als eine gefährliche Aufgabe, mit sozialer Arbeit einen Beitrag zum Frieden in Somalia zu leisten.
2019 wurde ihre ältere Schwester Almaas Elman in Mogadischu getötet. Ihr Vater, Elman Ali Ahmed, somalischer Aktivist und Gründer des Elman Peace and Human Rights Center, dessen Arbeit Ilwad Elman gemeinsam mit ihrer Mutter weiterführt, wurde bereits 1996 Opfer eines Attentats. Elman, die 1990 gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Schwestern aus Somalia flüchten musste, kann sich selbst nicht mehr an ihn erinnern, wuchs aber mit Geschichten über ihren Vater auf. „Meine Mutter beschrieb uns seine eigenwillige Persönlichkeit. Während des Krieges trug er nur die Farbe Weiß als Zeichen des Friedens, um die Menschen daran zu erinnern, dass der Krieg nicht die neue Normalität werden durfte. Er trug lange Dreadlocks. Er hatte geschworen, sie erst nach dem Ende des Krieges abzuschneiden.“, erzählt sie.
Vor dem somalischen Bürgerkrieg 1988 engagierte sich ihr Vater zusammen mit seiner Frau Fartun Adaan im ganzen Land als Sozialunternehmer und half Obdachlosen und Drogenabhängigen. Mit dem Ausbruch des somalischen Bürgerkriegs verlagerte sich das Tätigkeitsfeld des Elman Peace and Human Rights Center kriegsbedingt unter alleiniger Leitung Elman Ali Ahmeds auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor der Rekrutierung durch die Konfliktparteien sowie die Rehabilitierung und gesellschaftliche Reintegration von Kindersoldaten.
2006, zehn Jahre nach seinem Tod, kehrt Fartun Adaan nach Somalia zurück, um die Arbeit des Elman Peace and Human Rights Center im Andenken an Elman Ali Ahmed weiterzuführen. Ilwad Elman folgt ihr 2010 nach und ist überwältigt davon, wie die Arbeit ihrer Mutter von der lokalen Bevölkerung wahrgenommen wird. „Als ich nach Somalia kam, sah ich ihre Arbeit. Ich sah, was sie bewirkte, und all die kleinen Kinder, die sie „Hooyo“, Mama, riefen. Da wurde mir bewusst: So viele andere brauchen sie ebenso sehr wie ich und meine Schwestern“, erzählt Elman stolz bei der Verleihung des Hessischen Friedenspreises.
Als Frau muss sich ihre Mutter gegen großen Widerstand und Anfeindungen zur Wehr setzen. „Meiner Mutter wurde das Zentrum [das Elman Peace and Human Rights Center Anm.d.Red] gestürmt, es wurde geschlossen. Ich sah, wie diese starke Frau, die stärkste, die ich kenne, zusammenbrach, weil sie so frustriert war. Bevor sie sich der eigentlichen Friedensarbeit in Somalia widmen konnte, bestand die erste Hürde darin, dass sie keine Söhne hatte und man ihr daher das Recht absprach, das Erbe ihres verstorbenen Mannes in Form des Elman Peace Center zu würdigen“, erzählt Elman weiter. Sie entscheidet sich zu bleiben, um jungen Mädchen in Somalia zu beweisen, dass auch Frauen sich in der somalischen Gesellschaft engagieren können.
Empowerment für Frauen
Dies ist keine leichte Aufgabe, denn trotz der formalen gesetzlichen Gleichstellung der Geschlechter werden Frauen im patriarchal geprägten Somalia vielfach benachteiligt. Viele Frauen werden durch soziale und kulturelle Hürden am Recht gehindert, politisch zu partizipieren oder Eigentum zu besitzen und darüber unabhängig verfügen zu können, was sich auch am Beispiel der Elmans zeigt. „[Ich sah], mit wie viel Widerstand und Anfeindungen, [selbst aus der eigenen Familie], meine Mutter zu kämpfen hatte. Es hieß oft: Eine Frau kann kein Erbe fortführen, wenn sie keine Söhne hat.“, so die Preisträgerin. Ihre Auszeichnung mit dem Hessischen Friedenspreis am 8. März pünktlich zum Weltfrauentag empfindet Boris Rhein deswegen als passend: „1977 hat die UNO – deswegen passt es gut, dass wir heute zusammen sind – den 8. März offiziell zum Tag für die Rechte der Frau und den Weltfrieden erklärt. In Hessen zeichnen wir heute, am 8. März, eine Frau aus, die genau diese beiden Ziele, nämlich die Stärkung der Frauenrechte und einen unermüdlichen Einsatz für den Frieden, auf eine wirklich beeindruckende Weise mit vielfältigem Engagement verfolgt.“
Sich für die Rechte der Mädchen und Frauen ihres Heimatlandes zu engagieren ist der 33-Jährigen ein besonderes Anliegen: „Ich dachte darüber nach. Wir mit unserer kanadischen Staatsbürgerschaft hatten jederzeit die Möglichkeit, uns diesem gefährlichen Patriarchat zu entziehen. Aber was bedeutete das für die Mädchen in Somalia, für andere Witwen, für diejenigen, die keine Alternative haben, die nicht einfach das Land verlassen können? So haben wir uns gemeinsam entschieden, zu bleiben, zu kämpfen, den Diskurs über die Gewalt gegen Frauen zu eröffnen“. Die Gewalt gegen Mädchen und Frauen, vor allem sexualisierte Gewalt, ist in Somalia besonders ausgeprägt. Von 2019 auf 2020 verdoppelte sich die Rate der gemeldeten Fällen von sexualisierter Gewalt und steigt seitdem weiter an. Ein Großteil dieser Taten bleibt ungestraft. Laut UN-Informationen erreichen 80 Prozent der Fälle von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt die Justiz nicht.4 Der Bedarf an psychosozialer Betreuung traumatisierter Frauen und Mädchen übersteigt in Somalia bei Weitem das Ausmaß des Versorgungsangebots.5
Auf diesem Gebiet leistet Ilwad Elman einen bedeutsamen Beitrag. 2010 gründete sie mit den „Sister Somalia“ das erste Krisenzentrum für Überlebende sexualisierter Gewalt in Somalia. Die Initiative verbindet kulturell angepasste Traumatherapien und Bildungsprogramme. 2014 wird Elman Jugendbotschafterin in Somalia für die Beendigung sexueller Gewalt in Konflikten. Außerdem ist sie auch weiterhin Gründungsmitglied des „Advisory Committee for Researching Gender Based Violence Social Norms“. Mit ihrer Arbeit hatte sie maßgeblichen Anteil am ersten Gesetz zur Bekämpfung von Sexualstraftaten, das in Somalia 2018 verabschiedet wurde.
Zugleich setzt sich Elman dafür ein, dass Überlebende von geschlechtsbezogener und geschlechtsspezifischer Gewalt an der Friedenskonsolidierung beteiligt werden. „Die Rolle der Frauen beim Aufbau einer Nation darf nicht zweitrangig sein. Das muss eine fundamentale Priorität sein“, betont sie bei der Verleihung des Hessischen Friedenspreises.
Drop the Gun, Pick Up the Pen
Diese Form von Inklusion ist der Grundgedanke von Ilwad Elmans Arbeit. Sie bemüht sich verschiedene Opfergruppen am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen, um einen nachhaltigen und stabilen Frieden zu erreichen. Wie ihr Vater Elman Ali Ahmed zuvor konzentriert sie sich dabei auch auf die jungen Menschen des Landes, die mehr als drei Viertel der Bevölkerung des Landes ausmachen und stark vom Krieg und der Armut in Somalia betroffen sind. Noch immer werden Kinder und Jugendliche als Soldaten von den sich bekämpfenden Milizen angeworben. Dagegen engagiert sich Ilwad Elman vehement: etwa als Mitglied der Initiative „Extremely Together“ der Kofi-Annan-Stiftung, die durch Jugendarbeit gewalttätigem Extremismus weltweit vorbeugen will. Mit der Fortsetzung der Kampagne „Drop the Gun, Pick up the Pen”, die ihr Vater ins Leben gerufen hat, möchte Ilwad Elman ehemaligen Kindersoldat*innen die Rückkehr zu einem normalen Leben in der Zivilgesellschaft ermöglichen. „Das Umfeld für diese Arbeit ist noch schwieriger geworden, da die Jugendlichen von der Terrororganisation Al-Shabaab und der Splittergruppe ISIS angeworben werden“, so Elman.
Das dreistufige Programm, das die Jugendlichen entwaffnet, rehabilitiert und reintegriert, haben laut Elman mittlerweile hunderte junge Menschen erfolgreich absolviert. Daneben bietet das „Elman Peace and Human Rights Center“ vielfältige Bildungsangebote an, wo Jugendliche in kompetenzorientierten Kursen ausgebildet und so in die Lage versetzt werden, angemessene Arbeitsplätze zu finden und ihren Lebensunterhalt zu sichern.6
In einem der Projekte fährt Elman zusammen mit Frauen, Kindern und Jugendlichen an den Strand, um mit sportlichen Aktivitäten positive Erlebnisse für die Teilnehmer*innen, von denen viele traumatisiert sind, zu schaffen. Die Fahrt dahin im gepanzerten Konvoi erinnert dabei an den gefährlichen Alltag in Somalia.7 Ilwad Elman zeigt täglich Mut und Engagement dieser Gefahr zu begegnen, um jungen Menschen, besonders Mädchen und Frauen, ein friedlicheres und humaneres Leben zu ermöglichen. Der diesjährige Hessische Friedenspreis würdigt, hochverdient, diesen mutigen Einsatz für die Menschlichkeit.
Letzte Änderungen vorgenommen am 28.08.2023. In einer früheren Version des Beitrags haben wir angegeben, dass der Hessische Friedenspreis 2022 an die Preisträgerin Ilwad Elman durch das Land Hessen verliehen wurde. Dies ist so nicht richtig. Der Hessische Friedenspreis wird von der Albert-Osswald-Stiftung vergeben, die am 16. Oktober 1993 vom ehemaligen Hessischen Ministerpräsidenten Albert Osswald ins Leben gerufen wurde. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.