Krieg ist kein unvermeidbares Schicksal und eine friedliche Welt ist möglich – dieser Optimismus der Friedensforschung wird durch Russlands Angriffs- und Eroberungskrieg einer harten Bewährungsprobe ausgesetzt. Jenseits der drängenden Frage, wie der Krieg gegen die Ukraine beendet werden kann, stellt sich der Friedensforschung ein grundlegendes Problem: Wie kann eine wirklich friedliche Weltordnung heute überhaupt noch aussehen? Der Versuch, Frieden durch Verflechtung und Angleichung zu schaffen, ist im Fall Russlands gescheitert. Kann Frieden durch Abgrenzung eine tragfähige Alternative darstellen?
Putins Angriffskrieg fordert die Friedensforschung in fundamentaler Weise heraus. Friedensforschung basiert seit ihren Anfängen im frühen 20. Jahrhundert auf zwei zusammenhängenden Annahmen. Erstens: Krieg ist nicht naturgegeben. Frieden kann daher mehr sein als die Ruhe vor dem nächsten kriegerischen Sturm. Und zweitens: Dieser Frieden kann aktiv befördert werden. Frieden ist also möglich und machbar.
Untersuchungen zur Entwicklung von globalem Kriegsgeschehen haben diesen grundlegenden Optimismus lange unterstützt. Bereits während des Ost-West-Konflikts fanden sich in den Arbeiten von John Muller Hinweise auf einen sukzessiven Rückgang von Kriegen und kriegerischer Gewalt. Spätere Studien lieferten systematischere Befunde. Steven Pinker argumentierte, ein Prozess der Zivilisierung habe zu abnehmender Gewalt in allen Lebensbereichen geführt und so auch zu einer abnehmenden Zahl von Kriegen und Bürgerkriegen und von in diesen Kriegen getöteten Menschen. Azar Gat zeigte, dass in der Geschichte die Herausbildung von Staaten zu einer ersten Phase des Rückgangs von Gewalt führte. Eine zweite folgte ab dem Ende des 18. Jahrhunderts und setzte sich, allerdings unterbrochen durch zwei Weltkriege, bis über das Ende des Ost-West-Konflikts hin fort.
Für die Zeit seit 1989 zeigten auch Daten wie die des Uppsala Conflict Data Program (UCDP), dass sich der Rückgang von Kriegen und kriegerischer Gewalt noch beschleunigte. Der zwischenstaatliche Krieg schien am Aussterben; der innerstaatliche zumindest auf dem Rückzug. Beobachter wie Andrew Mack und sein Team lieferten für den Rückgang innerstaatlicher Gewalt eine plausible Erklärung: Das koordinierte Vorgehen großer Staaten unter anderem in internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen und mit Hilfe von Instrumenten wie dem Peacekeeping dränge die Gewalt zurück und bearbeite ihre Ursachen.
Diese Diagnosen lieferten den Beleg, dass Krieg und Gewalt kein notwendiges Übel internationaler Politik darstellen und dass aktive Strategien zu ihrer Überwindung erfolgreich sein können. Vier solche Strategien rückte die Friedensforschung dabei in den Mittelpunkt: die Schaffung internationaler Organisationen und Institutionen, internationalen Handel, grenzüberschreitende Kommunikation sowie Demokratie bzw. Demokratisierung.
Russische Kriegspolitik: das Ende der Friedensstrategien?
Doch Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine hat dem grundlegenden Optimismus der Friedensforschung einen erheblichen Schlag versetzt – und das wahrscheinlich mit bleibender Wirkung. Und dies nicht nur, weil hier ein Staat den schon für überwunden gehaltenen Angriffs- und Eroberungskrieg wieder zu einem fast selbstverständlichen Mittel seiner Politik gemacht hat. Sondern weil dies ausgerechnet ein Staat ist, der wie kein zweiter in das gesamte Spektrum von Friedensstrategien eingebunden worden war.
Seit 1989 woben westliche Demokratien zunächst die Sowjetunion und dann Russland in internationale Institutionen ein. Der Handel nahm rapide zu, ebenso der grenzüberschreitende Austausch von Menschen und Ideen. Und schließlich investierten westliche Staaten erheblich in die Demokratisierung Russlands. Doch seit 2011 und besonders markant seit 2022 ist international wieder ein enormer Anstieg von kriegerischer Gewalt und Opferzahlen zu beobachten und Russland spielt für diesen Anstieg eine zentrale Rolle. Zwar verschwand militärische Gewalt nie aus der internationalen Politik. Sie hat, wie beispielsweise die Gewalteruption in Äthiopien zwischen 2020 und 2022, oftmals regionale Ursachen. Und sie wurde auch durch westliche Demokratien ausgeübt mit – vor allem in Afghanistan – erheblichen Opferzahlen.
Die Trendumkehr hin zu wieder höheren Opferzahlen wurde aber zunächst durch den eskalierenden Bürgerkrieg in Syrien eingeleitet. Putin erschwerte dessen Befriedung nicht nur, er fachte ihn durch die russische Intervention sogar an. Und auch der russische Krieg im Donbass seit 2014 und vor allem gegen die gesamte Ukraine seit 2022 führt zu einem erheblichen Anstieg der Opferzahlen. Wenn künftig nicht sogar eine Serie von Kriegen in Europa droht, müssen wir uns dennoch zumindest darauf einstellen, dass Großmächte regionale Konflikte nicht mehr einhegen, sondern so wie vor 1989 befeuern.
Bedeutet dies das Ende für die Hoffnung, Frieden könne durch geeignete Strategien gezielt gefördert werden und mehr sein als erfolgreiche Abschreckung?
Nicht unbedingt. Es bedeutet aber, dass die Friedensforschung über ein weiteres Spektrum von Friedensstrategien nachdenken muss. Die Erfahrungen der letzten Jahre mit Russland zeigen zunächst, dass die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ins Zentrum gerückten Strategien nicht immer erfolgreich sind. So vielfältig sie auch sind, ihnen liegt letztlich ein gemeinsamer Gedanke zugrunde: dass nämlich immer engere Zusammenarbeit zu einer allmählichen Angleichung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse führt. Gegenüber Russland ist diese Strategie von Frieden durch Assoziation und Transformation nun gescheitert.
Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass andere Strategien ebenfalls scheitern müssen. Doch wie könnten alternative Strategien aussehen? Kann es Friedensstrategien jenseits von „Frieden durch Assoziation“ und „Sicherheit durch Abschreckung“ geben? Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als sich momentan die Großmächte der Welt immer weniger in Richtung liberaler und eng verflochtener Demokratien entwickeln, die mit anderen Demokratien zusammen eine Friedenszone bilden könnten. Das gilt nicht nur für Russland, sondern auch für China. Und selbst in den USA und in Westeuropa gerät die Demokratie zunehmend unter Druck.
Plan B: Frieden durch Abgrenzung
Ein Frieden, der über den immer prekären Frieden durch Abschreckung hinausgeht, aber nicht auf die Eigendynamik immer engerer Verflechtung und Angleichung setzt, ist durchaus denkbar. Es wäre ein Frieden durch Abgrenzung, eine Form friedlicher Koexistenz, in der alle Beteiligten die grundlegenden Unterschiede untereinander und die Grenzen zwischen einander dauerhaft akzeptieren, ein „pluraler Frieden“.
Ein solcher pluraler Frieden wäre gewissermaßen ‚dünner‘ als der Frieden, der auf Verflechtung und Angleichung setzt. Statt auf immer engere Verflechtung setzt ein pluraler Frieden zunächst auf klare Grenzziehung. Diese Grenzen werden allerdings nicht durch Abschreckung gesichert, sondern durch wechselseitige Anerkennung der Sicherheitsinteressen der jeweils anderen. Zu Abgrenzung und Anerkennung tritt als drittes Merkmal ein Mindestmaß an Toleranz für die innere Ordnung des Gegenübers. Gewalt ist so nicht nur als Mittel zum Verschieben von Grenzen ausgeschlossen, sondern auch als Mittel für die Intervention in die inneren Verhältnisse des Gegenübers.
Der plurale Frieden ist so zwar weniger anspruchsvoll als der Frieden durch Angleichung, weil er nicht darauf setzt, dass Staaten und Gesellschaften sich immer enger annähern müssen. Dennoch fußt auch er auf anspruchsvollen Voraussetzungen. Es geht nicht um eine Koexistenz vor dem Hintergrund eines Kräftegleichgewichts (wie sie etwa in Chruschtschows Vorstellung von friedlicher Koexistenz zum Ausdruck kam), die letztlich doch auf dem Recht des Stärkeren beruht. Friedliche Koexistenz kann auch nicht einfach darin bestehen, über die Gewalttätigkeit der anderen Seite hinwegzusehen oder ihr alle Zugeständnisse zu machen, die sie unter Androhung von Gewalt einfordert. Als Friedensstrategie erfordert sie vielmehr zumindest eine grundsätzliche Übereinstimmung über grundlegende Normen des gewaltfreien Umgangs miteinander – unabhängig von der Stärke des anderen. Dazu gehört dann auch die Norm der Nichtintervention. Dass deren Einhaltung westlichen Demokratien schwerfällt, ist hinlänglich bekannt. Aber auch Staaten, die die Bedeutung von Souveränität betonen und Nichteinmischung zur zentralen Norm der Weltordnung machen wollen, haben oft selbst Schwierigkeiten, die Souveränität anderer zu akzeptieren bzw. für ihre Wahrung diplomatisch einzutreten. Das zeigt nicht zuletzt die russische Aggression und die chinesische Weigerung, Stellung dagegen zu beziehen.
Friedliche Koexistenz erfordert also von allen Beteiligten auch die Fähigkeit, die Pluralität von Ordnungsvorstellungen zu akzeptieren und die Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten zu tolerieren. Diese Toleranz bedeutet nicht, Ungerechtigkeit zu ignorieren oder auf die Skandalisierung ungerechter Verhältnisse zu verzichten. Aber sie bedeutet die Bereitschaft, sich mit dem als ungerecht wahrgenommenen Gegenüber zumindest auf grundlegende Formen des Umgangs zu einigen und das schließt auch den Verzicht darauf ein, die inneren Verhältnisse des anderen gewaltsam zu ändern. Ein solcher Frieden erfordert daher zur Verhinderung von Gewalt zwischen Staaten Gewalt innerhalb von Staaten bis zu einem gewissen Grad zu akzeptieren. Er ebnet damit nur einen Teil des Wegs zu einer friedlichen Welt und kann daher aus Sicht der Friedensforschung immer nur zweite Wahl sein.
Was für ihn spricht: Er ist weniger voraussetzungsreich als die assoziativen Friedensstrategien. Dort wo sie versagen und weder Gewalt im Inneren von Staaten noch zwischen ihnen verhindern können, verspricht die Idee des pluralen Friedens Fortschritte auf dem Weg zu einer friedlichen Welt. Die Friedensforschung wäre deshalb gut beraten, dieser Idee friedlicher Koexistenz, ihren Möglichkeiten und Grenzen, mehr Aufmerksamkeit zu widmen.