Militärmarsch
Filip Andrejevic, Soldiers dressed in army camouflage march in formation, 2020 | Photo: Filip Andrejevic | unsplash.com

Eine militärisch autonome EU? Europäische Sicherheit und transatlantische Partnerschaft nach Afghanistan

Die Idee europäischer „Souveränität“ in der Sicherheitspolitik erlebt zur Zeit eine Renaissance. Besonders seit dem desaströs verlaufenen Rückzug westlicher Truppen aus Afghanistan sind die Rufe nach größerer militärischer Unabhängigkeit der EU von den USA wieder deutlich vernehmbar. Was dabei allzu leicht vergessen wird: Der Brexit hat das Ziel einer militärisch autonomen EU in noch weitere Ferne gerückt. Auf mittlere Sicht bleibt volle strategische Autonomie in diesem Bereich unrealistisch. Die beste Chance auf mehr europäische Handlungsfähigkeit liegt im Aufbau eines starken europäischen Pfeilers in der NATO.

Der Abzug aus Afghanistan hat den europäischen Regierungen einmal mehr ihre verteidigungspolitische Abhängigkeit von den USA vor Augen geführt. Schon die Entscheidung aus Afghanistan abzuziehen, war von den USA mehr oder minder im Alleingang getroffen worden. Als die afghanische Regierung daraufhin schneller als erwartet kollabierte, konnten europäische Staaten Evakuierungsflüge nur durchführen, solange die USA die Sicherung des Flughafens in Kabul übernahmen.

Schnell wurden Rufe laut, im Rahmen der EU Fähigkeiten aufzubauen, um solche Einsätze in Zukunft unabhängig von den USA durchführen zu können, beispielsweise vom früheren CDU-Chef Armin Laschet, der ehemaligen Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer oder vom grünen Europaabgeordneten Reinhard Bütikofer. Die Grundidee: Wenn die EU „europäische Souveränität“ oder „strategische Autonomie“ anstrebt, also die Fähigkeit, außenpolitische Ziele zur Not auch ohne Unterstützung anderer erreichen zu können, dann muss sie zumindest in solchen Fällen auch alleine militärisch handlungsfähig sein. Diese Idee will auch die französische EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 vorantreiben. Und Josep Borrell, der Außenbeauftragte der EU, wurde gar mit den Worten zitiert, er werde als Reaktion auf die Erfahrungen mit dem Afghanistan-Abzug den Aufbau einer 50.000 Personen starken Eingreiftruppe vorschlagen. Wenig später sprach Borrell davon, falsch zitiert worden zu sein und sagte, es wäre „verrückt“ von ihm, eine so große Truppe vorzuschlagen. Vielmehr gehe es nur um 5.000 Soldat:innen.

Borrells Klarstellung macht deutlich, dass es kaum um vollständige militärische Autonomie gehen kann. Gegenwärtig dreht sich die Diskussion tatsächlich um die Frage, ob die EU eine Eingreiftruppe in einer Größenordnung von 5.000 Einsatzkräften aufstellen soll. Borrells Entwurf zum „Strategischen Kompass“, einem Strategiedokument, das die Staats- und Regierungschefs im März 2022 beschließen sollen, sieht laut Presseberichten die Schaffung einer solchen Einheit und ihre Einsatzbereitschaft bis 2025 vor. In eine ähnliche Richtung ging im Oktober 2021 auch der Vorschlag Deutschlands mit vier weiteren EU-Mitgliedern, die bereits bestehenden EU-Battlegroups zu Krisenreaktionskräften in Brigadestärke weiterzuentwickeln, deren Einsätze dann auch von einer EU-Koalition der Willigen durchgeführt werden könnten.

In Fragen der Territorialverteidigung jenseits solcher eng begrenzten Kriseninterventionen aber werden die Europäer noch für Jahrzehnte auf die Zusammenarbeit mit den USA angewiesen sein. So schätzte das Londoner IISS, dass es 15-20 Jahre dauern würde, die Fähigkeiten für eine von den USA unabhängige Verteidigung gegen glaubwürdige Bedrohungsszenarien aufzubauen – und auch das nur, falls der politische Wille auf allen Seiten (einschließlich der USA und den Steuerzahlern und Steuerzahlerinnen in der EU) dazu vorhanden wäre.

Große Ziele, magerer Fortschritt

Dabei verfolgen die Europäer das Ziel, militärisch autonom handlungsfähig zu werden, schon seit knapp 30 Jahren. 1992 beschlossen die in der Westeuropäischen Union organisierten Staaten den Katalog der sogenannten „Petersberg-Aufgaben“, zu deren Wahrnehmung sie in Zukunft auch ohne Unterstützung der USA fähig sein wollten. Evakuierungseinsätze wie der in Kabul waren schon damals Teil des Katalogs und zwar am weniger anspruchsvollen Ende des angestrebten Aufgaben­spektrums. Das Ziel wurde 1999 und 2004 im EU-Rahmen erneuert. Zwar wurden die Zielsetzungen der EU im Laufe der Jahre bescheidener und man rückte von der ursprünglichen Vorstellung, 50-60.000 Soldat:innen einsetzen zu können, ab. Das Ziel, „schnell und entschieden“ auf Krisen reagieren und unter anderem Rettungseinsätze durchführen zu können, blieb aber erhalten und sollte eigentlich bis 2010 erreicht gewesen sein.

Auch durch verstärkte Kooperation im Rüstungssektor wollten die EU-Mitglieder in den letzten Jahren ihre Fähigkeiten zu gemeinsamem Handeln verbessern. Doch hier hinken sie ihren Zielen ebenfalls hinterher. 2017 startete beispielsweise die PESCO-Initiative, in deren Rahmen Projekte zur Entwicklung gemeinsamer Fähigkeiten organisiert werden – wie die Einrichtung einer Koordinierungsstelle für Sanitätsdienste oder die Schaffung eines IT-Systems zur Führung von EU-Einsätzen. Bei ihrer Einrichtung wurde die PESCO von der damaligen Bundesregierung als „Meilenstein“ (Sigmar Gabriel) und „ein weiterer Schritt in die Richtung der Armee der Europäer“ (Ursula von der Leyen) gelobt, doch bis heute scheint sie kaum von der Stelle zu kommen. Presseberichten vom Sommer 2021 zufolge zeigt der jüngste Jahresbericht, dass zahlreiche Projekte ihre Zeitpläne bereits anpassen mussten. Nach dreieinhalb Jahren umfasste die Initiative zwar 46 Projekte, davon befanden sich aber 38 in den frühen Phasen, in denen erst noch die Idee und der Umfang des Projekts genauer ausgearbeitet werden.

Brexit als weiterer Rückschlag

Zu all diesen Schwierigkeiten kommt hinzu, dass die EU durch den Brexit inzwischen ein militärisches Schwergewicht aus ihren Reihen verloren hat. Großbritannien war neben Frankreich das einzige Mitglied, das sich als global einsatzfähige militärische Macht verstand und dazu die dazu notwendigen Ressourcen tatsächlich vorhielt. Als EU-Mitgliedstaat verfügte Großbritannien über 25% jener Schlüsselfähigkeiten in der EU, die nötig sind, um Streitkräfte vor Ort zu bringen und Einsätze aufrecht erhalten zu können, wie beispielsweise Schwertransportflugzeuge. Es stellte eines von sechs nationalen Operationshauptquartieren, durch das komplexe Einsätze geführt werden können. 20% des Streitkräftekatalogs bestanden aus britischen Zusagen. Und auch was die Rüstungsindustrie angeht, hat Großbritannien in Europa eine Schlüsselposition inne. Knapp 30 Prozent der großen europäischen Rüstungsproduzenten sind britische Firmen, unter ihnen auch der größte, BAE Systems.

Der Brexit schwächt die Ambitionen der EU also gleich auf beiden zentralen Feldern: Gemeinsame Einsätze werden schwieriger, weil es noch mühsamer wird, die nötigen Fähigkeiten zusammenzustellen und die Rüstungszusammenarbeit wird gehemmt, weil ein potenter Kooperationspartner weitgehend ausfällt. Es wäre zwar denkbar gewesen, den Brexit so zu gestalten, dass Großbritannien in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein privilegierter Kooperationspartner geblieben wäre. Aber die EU steuerte schon früh im Verhandlungsprozess darauf zu, Großbritannien als normalen Drittstaat zu behandeln, indem das Land beispielsweise schon 2018 aus der weiteren Entwicklung des Satellitennavigationssystems GALILEO ausgeschlossen wurde. Die Briten nahmen die Verteidigungspolitik daraufhin aus den Brexit-Verhandlungen heraus und eine engere, privilegierte Beziehung im Verteidigungsbereich stand nicht mehr auf der Tagesordnung.

Zugegeben: Als EU-Mitglied war Großbritannien kein besonders aktiver Unterstützer der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit in der EU und setzte seine Fähigkeiten nur äußerst zurückhaltend für gemeinsame Einsätze ein. Aber ohne das Potenzial Großbritanniens wird es noch schwieriger, sich dem Ziel strategischer Autonomie in der Verteidigung anzunähern. Vorstellungen jedenfalls, ohne den Bremser Großbritannien werde sich die EU-Sicherheitspolitik nun viel dynamischer entwickeln, haben sich bislang nicht bestätigt. Großbritannien hatte beispielsweise die Entwicklung eines eigenen EU-Operationshauptquartiers zur Durchführung gemeinsamer Einsätze jahrelang verhindert. Seit es zu Beginn der Brexit-Verhandlungen seinen Widerstand aufgab, konnte zwar relativ zügig der Beschluss gefasst werden, ein solches Hauptquartier aufzubauen. Aber selbst das vergleichsweise bescheidene Ziel, ab Ende 2020 Einsätze mit einer Stärke von 2.500 Soldatinnen und Soldaten führen zu können, musste inzwischen zwei Mal aufgeschoben werden, momentan auf Ende 2021. Der Entwurf zum „Strategischen Kompass“ sieht nun vor, dass das EU-Hauptquartier bis 2030 in der Lage sein soll, alle Einsätze der EU zu führen.

NATO als realistische Alternative

In kritischen Verteidigungsfragen werden die Europäer auf absehbare Zeit von den USA abhängig bleiben. Und ohne Großbritannien wird es noch schwieriger, diese Abhängigkeit über die EU zu verringern. Die EU droht, alte Muster zu wiederholen, wenn sie nun auf die Afghanistan-Erfahrung reagiert, indem sie sich erneut vornimmt, autonome Handlungsfähigkeiten aufzubauen: gewichtige Vorsätze und Beschlüsse, schleppende Umsetzung und letztlich Einsatzfähigkeit nur im Kleinen.

Wollen die Europäer ihre militärische Handlungsfähigkeit stärken, liegt ein alternativer Weg auf der Hand: der Aufbau eines starken europäischen Pfeilers in der NATO. Dieser Weg wurde zwar schon Anfang der neunziger Jahre diskutiert, ohne je ganz in die Tat umgesetzt zu werden. Doch nach dem Brexit und nachdem die Grenzen der EU-Verteidigungspolitik mehr als zwanzig Jahre lang deutlich geworden sind, gibt es gewichtige Argumente für die NATO.

Zunächst kann Großbritannien als europäischer Staat mit den größten militärischen Fähigkeiten hier direkt in eine verstärkte europäische Zusammenarbeit einbezogen werden. Die NATO verfügt überdies seit Jahrzehnten über Prozesse, die die EU erst mühsam neu aufsetzen musste, beispielsweise zur koordinierten Entwicklung von militärischen Fähigkeiten. Die europäischen Bemühungen in die NATO hinein zu verlagern, würde gleichzeitig ein deutliches Signal senden, dass die Europäer bereit sind, aktiv in die Allianz zu investieren. Das würde den Sorgen der USA über die ungleiche Lastenverteilung in der NATO begegnen, könnte die inneren Spannungen in der NATO verringern und so jene Organisation stabilisieren, ohne die europäische Sicherheit kaum zu garantieren ist.

Diese Strategie ist kein Selbstläufer und verlangt Anpassungen sowohl von den USA als auch von den Europäern. Diese Anpassungen aber sind durchaus realistisch. Von den USA wird die Bereitschaft verlangt, den europäischen Pfeiler in der NATO auch tatsächlich stärker werden zu lassen und gegebenenfalls rein europäische Einsätze zu dulden, zu denen die USA selbst nicht bereit wären. US-Administrationen haben seit den neunziger Jahren immer wieder betont, wie wichtig ihnen ein stärkerer europäischer Beitrag innerhalb der NATO sei. Mit der Biden-Administration sollten sich die Weichen innerhalb der NATO daher auch in diese Richtung stellen lassen. So hat der US-Präsident gemeinsam mit Emmanuel Macron eine stärkere europäische Verteidigung als positiven Beitrag zur transatlantischen Sicherheit gewürdigt – solange sie „komplementär“ zur NATO bleibe. Komplementarität aber lässt sich am besten innerhalb der NATO garantieren.

Die Europäer wiederum würden mit einem solchen Schritt offen die Tatsache anerkennen, dass die trans­atlantische Partnerschaft zentral für die europäische Verteidigung bleibt und dass die Europäer auf absehbare Zeit nur Juniorpartner der USA sind – ein Eingeständnis, das dem Selbstbild einiger EU-Europäer offensichtlich widerspricht. Als abhängiger Partner werden sich die Europäer zudem den strategischen Entscheidungen der USA in gewissem Maß unterordnen müssen, wenn sie deren Engagement für die europäische Sicherheit erhalten wollen. Das erfordert vor allem eine konstruktive Auseinandersetzung mit der strategischen Umorientierung der USA in Richtung Indo-Pazifik. Tatsächlich könnte ein stärkerer europäischer Pfeiler in der NATO Teil eines strategischen Deals mit den USA sein. Die Europäer übernehmen größere Lasten für die europäische Sicherheit und entlasten damit die USA. Die wiederum können die so frei werdenden Kapazitäten für die Sicherheit im pazifischen Raum einsetzen, ohne sich ganz aus der europäischen Sicherheit verabschieden zu müssen.

Europäische militärische Fähigkeiten primär im Rahmen der NATO und nicht der EU zu stärken, verlangt von der EU schließlich auch Abschied zu nehmen von der Vorstellung, auf allen Politikfeldern einschließlich der Verteidigungspolitik eigenständig handlungsfähig zu sein. Die EU hat enorm wichtige Beiträge zur Sicherheit ihrer Bürger:innen zu leisten, von der inneren Sicherheit bis hin zum Schutz strategisch bedeutsamer Infrastrukturen und Wirtschaftsbereiche. Militärische Verteidigung hingegen lässt sich unter den gegebenen Umständen in der NATO wirksamer organisieren als in der EU.


Download (pdf): Peters, Dirk (2021): Eine militärisch autonome EU? Europäische Sicherheit und transatlantische Partnerschaft nach Afghanistan, PRIF Spotlight 17/2021, Frankfurt/M.

Anhang

 

 

 

 

 

 


 

Dirk Peters
Dr. Dirk Peters ist Vorstandsmitglied und wissenschaftlicher Mitarbeiter der HSFK im Programmbereich „Internationale Institutionen“. Seine Forschungsschwerpunkte sind EU-Sicherheitspolitik und die sicherheitspolitische Rolle von Parlamenten. // Dr Dirk Peters is Member of the Execuive Board and Senior Researcher at PRIF's research department “International Institutions”. His research focuses on EU security policy and the security policy role of parliaments.

Dirk Peters

Dr. Dirk Peters ist Vorstandsmitglied und wissenschaftlicher Mitarbeiter der HSFK im Programmbereich „Internationale Institutionen“. Seine Forschungsschwerpunkte sind EU-Sicherheitspolitik und die sicherheitspolitische Rolle von Parlamenten. // Dr Dirk Peters is Member of the Execuive Board and Senior Researcher at PRIF's research department “International Institutions”. His research focuses on EU security policy and the security policy role of parliaments.

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