Trotz der längst verfahrenen militärischen Lage für die Ukraine und bekannten Kurswechsels in den USA hielten Deutschland und Europa an der unrealistischen Strategie fest, nur mit militärischer Unterstützung und Sanktionen eine Verhaltensänderung Moskaus zu erreichen. Damit allein lässt sich der Krieg nicht zu möglichst günstigen Bedingungen für Kyjiw beenden. Die europäische Passivität gegenüber dem diplomatischen Ansatz von Präsident Trump wird auch nicht helfen, mehr europäische Souveränität zu erlangen. Vielmehr wird die Zukunft der Ukraine und unsere eigene Sicherheitsarchitektur mit ihm und auch mit Präsident Putin ausgehandelt werden müssen. Statt panisch nur ins Militär zu investieren, sollten sich die europäischen Regierungen ausnüchtern und diplomatisch rüsten, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen.
Militärische Sackgasse & US Power Mediation
Auf dem ukrainischen Schlachtfeld deutete sich die zunehmende russische Initiative bereits seit Herbst 2022 an und war spätestens im Frühjahr 2024 kaum noch zu leugnen. Die einseitige Strategie der Europäer und der USA, Moskau einzig durch Sanktionen und militärische Unterstützung der Ukraine zu schwächen und politisch zu beugen, ist gescheitert. Die nukleare Großmacht Russland lässt sich nicht allein durch Zwangsmaßnahmen umstimmen. Dennoch beharrte der Westen im Sog amerikanischer, französischer und deutscher Wahlkämpfe auf einer Ukraine-Politik, die immer tiefer in die Sackgasse führte. Trump und seine MAGA-Bewegung haben mit dem Versprechen einer radikalen politischen Wende auch in den internationalen Beziehungen nicht nur eine historische Wahl, sondern einen großen Kulturkampf gewonnen. Zum Kern ihres außenpolitischen Programms gehören ein diplomatischer Exit aus dem Ukrainekrieg und die Neujustierung der Beziehungen zu Russland.
Die Europäer unterschätzten die Entschlossenheit Trumps, seine Wahlversprechen umzusetzen und mit Putin über eine Beendigung des Krieges zu verhandeln. Die Analyse in der New York Times von J.D. Vance und der in Europa viel gescholtenen Plan von Keith Kellogg haben diesen Kurswechsel früh und unmissverständlich skizziert. Die zögernde Ukraine wurde mit den Mitteln eines Power Mediators an den Verhandlungstisch gezwungen. Nach dem Eklat beim Treffen zwischen den Präsidenten Trump und Selenskyj sowie Vizepräsident Vance im Oval Office war die Aufregung über die Brutalität der Amerikaner groß. Sie reichte von Empörung der Superlative (Baerbock: „Zeit der Ruchlosigkeit“), über verschwörungstheoretische Verdächtigungen (Merz: „bewusst herbeigeführt“) bis hin zu ideeller Selbstüberhöhung (Kallas: „Die freie Welt braucht einen neuen Anführer“). Nur wenige pragmatische Stimmen (z.B. NATO Generalsekretär Rutte oder Ministerpräsidentin Meloni) erkannten die Fatalität eines abrupten transatlantischen Bruchs und riefen zur Kooperation auf. Nachdem die Ukraine einige Tage ohne amerikanische Geheimdienstinformationen und militärische Unterstützung bei der Raketenabwehr dem Aggressor hilflos ausgeliefert war, lenkte Selenskyj ein und erklärte sich zu Zugeständnissen bereit.
Die amerikanische Parteinahme zugunsten der Ukraine ist Vergangenheit: Das Weiße Haus versteht sich nunmehr als vermittelnde Großmacht. Die Koppelung der überlebensnotwendigen amerikanischen Unterstützung an eine volle Kooperation Kyjiws zeigte sofort Wirkung. Auch die Angebote wirtschaftlicher Anreize scheinen sowohl für die Ukraine (Investitionen und ziviles US-Personal an strategisch wichtigen Orten) als auch für Russland (Energiekooperation, Sanktionserleichterungen) interessant. Zugleich stellt sich die Frage, ob der Vermittlungsdruck Washingtons vor allem zu Lasten der Ukraine geht. Der neue Vorschlag für ein amerikanisch-ukrainisches Rohstoffabkommen deutet ebenso darauf hin wie der frühe Ausschluss ihres NATO-Beitritts ohne Aussicht auf weitreichende Sicherheitsgarantien. Die Wiederaufnahme der militärischen und geheimdienstlichen Hilfe für die Ukraine und Trumps Zolldrohungen auf russisches Öl, als Putin die Legitimität Selenskyjs als Verhandlungspartner bestritt und damit einen Deal verzögerte, signalisieren jedoch auch Bereitschaft, Druck auf Moskau auszuüben.
Diplomatisches Versagen Europas
Europa hat es seit Trumps Wahlsieg versäumt, seine Ukraine-Politik an die neuen Realitäten anzupassen und keine Ideen für ein Dealdesign entwickelt, um europäische und Kyjiws Interessen innerhalb der von der US-Regierung gesetzten Leitplanken zu integrieren. Es war ein Fehler, eigene diplomatische Trümpfe – wie die Neutralität der Schweiz und Österreichs – der Orthodoxie von Parteinahme und Militanz zu opfern. Die Zukunft Europas wird nun in Riad und nicht in Genf oder Wien verhandelt. Aus Pietät wirkte man mit wirtschaftlichen Sanktionen nur negativ auf Russland ein, anstatt durch ergänzende Angebote auch Anreize für eine Verhaltensänderung zu setzen. Auch das Potenzial, das sich aus der NATO-Erweiterung um Schweden und Finnland, der europäischen Aufrüstung und Stationierung amerikanischer Raketenabwehr und Mittelstreckenfähigkeiten ergibt, um Dialogimpulse für Rüstungskontrolle, Risikoreduzierung und Eskalationsmanagement zu setzen, blieb bis heute ungenutzt.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass Washington die Europäer weder zu den Sondierungen, noch zu den nachfolgenden Pendel-Verhandlungen über einen partiellen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine nach Saudi-Arabien eingeladen hat. Vielmehr scheint es im Interesse der USA, die bilateralen strategischen Beziehungen zu Russland zunächst separat zu besprechen und insgesamt die Zahl der Verhandler gering zu halten. So ist es für die Durchsetzung einer politischen Konfliktlösung vielleicht sogar zuträglich, dass die gespaltenen und verhandlungsunfähigen Europäer Zaungäste sind, während die USA, Russland und die Ukraine diplomatisch Fakten schaffen.
Bedenkt man die kurze Zeit der bisherigen Gespräche, wurden einige Schnittmengen ausgelotet (partieller Waffenstillstand für Energieinfrastruktur sowie im Schwarzen Meer, Pläne für wirtschaftliche Kooperation) und zum Teil umgesetzt (weitere Gefangenenaustausche, Übergabe von Gefallenen). Obwohl bekannt ist, wie schwierig diese Verhandlungen sind, wurde in Deutschland jeder Wasserstand notorisch kritisiert. Dies folgt einem Muster: Bereits frühere diplomatische Anstrengungen im Verlauf des Krieges wurden von vornherein diskreditiert (türkische und UN-Initiative für ein Getreideabkommen, IAEA-Delegation in Saporischschja). Der sonst eher besonnene Verteidigungsminister Pistorius bezeichnete kürzlich die Aussicht auf eine 30-tägige Aussetzung von Angriffen auf die Energieinfrastruktur als „Nullnummer“, da diese in der Ukraine ohnehin bestens geschützt sei. Dabei waren gerade solche Angriffe zuvor als besonders perfide und destruktive russische Kriegsführung dargestellt worden. Und es sind vor allem die Amerikaner, die diesen vermeintlich gewährleisteten Schutz beisteuern.
Strategische Kompetenz gefragt
Die Reflexhaftigkeit, mit der sich derartige Fehleinschätzungen wiederholen, veranschaulicht, wie tief die Aversion europäischer Regierungen (und Think Tanks) gegen jedes diplomatische Engagement und Kompromisse im Ukraine-Krieg inzwischen verwurzelt ist. Die anhaltende Engführung des strategischen Denkens auf Militär und Sanktionen hat wertvolle Handlungsoptionen zunichte gemacht. Um einen dynamischen Konfliktverlauf zu den eigenen Gunsten zu manipulieren, bedarf es Flexibilität und eines ganzheitlichen strategischen Ansatzes, der den verfügbaren Instrumentenkasten militärischer, wirtschaftlicher und diplomatischer Mittel ausschöpft.
Weder auf dem Schlachtfeld noch am Verhandlungstisch wird man ohne strategische Kompetenz erfolgreich sein. Das bedeutet: über Widersprüche hinausdenken („sowohl als auch“ statt „entweder, oder“) und damit vorbehaltlos neue Handlungsoptionen schaffen. Im Lichte der eigenen Möglichkeiten müssen zuerst die politischen Ziele definiert und daraus die geeigneten Mittel zu ihrer Erreichung abgeleitet werden. Nur so können die Europäer aus ihrer Nebenrolle herauswachsen und an einem tragfähigen Friedensplan für die Ukraine und den Kontinent mitwirken. Ohne Verhandlungsziele und -strategie, die auf einer nüchternen Lage- und Interessenanalyse aufbauen, können sie am Verhandlungstisch wenig ausrichten. Dabei ist es höchste Zeit, Verhandlungsmasse zu generieren und zu klären, wer die Federführung für Europa innehat.
NATO europäisieren und strategische Beziehungen neu ordnen
Was also tun? Europa muss die Gelegenheit am Schopf packen und diplomatisch mitgestalten. Es genügt nicht, nur in die eigenen Streitkräfte zu investieren und den militärisch-industriellen Komplex auszubauen. Es braucht auch sicherheitspolitische Steuerung, effiziente militärische Entscheidungsprozesse und eine abgestimmte operative Infrastruktur, wie sie die NATO vorhält. Mit anderen Worten: Wir müssen die NATO europäisieren. Dazu müssten Verfahren eingeführt werden, die das Bündnis auch ohne die USA handlungsfähig machen. Eine solche Reform kann nur zusammen mit Washington gelingen. Bei den Verhandlungen dürfen wir auf eine wichtige Interessenschnittmenge mit den Amerikanern bauen – den gemeinsamen Wunsch nach mehr europäischer Eigenständigkeit.
Dazu gehören auch eigene Kapazitäten der Rüstungskontrolle, direkte militärische Kommunikationskanäle mit gegnerischen Streitkräften und andere risikoreduzierende Arrangements. All das steht heute ganz oder überwiegend unter amerikanischer Kontrolle. Die Entwicklung europäischer Fähigkeiten im gesamten Spektrum des Eskalationsmanagements muss vorrangiges Verhandlungsziel sowohl mit den USA als auch mit Russland sein. Direkte militärische Kontakte könnten z.B. zwischen europäisch geführten NATO-Kommandostellen und äquivalenten russischen Positionen etabliert werden. Solche und andere Kontaktpunkte würden im Krisenfall helfen, Missverständnisse und unbeabsichtigte Eskalationen auch ohne die Amerikaner zu vermeiden. Weitere vertrauensbildende Maßnahmen wie die gegenseitige Ankündigung von Raketentests oder größeren Truppenübungen lägen angesichts eines wachsenden europäischen Abschreckungsdispositivs ebenfalls im gemeinsamen strategischen Interesse.
Reduzierung nuklearer Risiken
Diplomatische Anstrengung bei der Neujustierung der strategischen Beziehungen zwischen Europa, den USA und Russland ist auch wegen der massiv gestiegenen russischen nuklearen Bedrohung notwendig. Durch die auf europäischem Boden stationierten US-Streitkräfte, Nuklearwaffen und Raketenabwehr haben wir eine substanzielle Verhandlungsmacht. Um Reduktionen auf russischer Seite zu erreichen, müssten Anpassungen bei den geplanten oder bereits stationierten US-Fähigkeiten in Europa mit nuklearer oder strategischer Relevanz vorgeschlagen werden. Die anvisierte Tomahawk-Stationierung könnte zu Verhandlungsmasse werden. Priorität sollte die Zurücknahme taktischer Fähigkeiten in Belarus und Kaliningrad haben.
Verhandlungsmasse generieren für territoriale Streitfragen
Für die territorialen Streitfragen wiederum nützen der Ukraine und den Europäern die völkerrechtlich zentralen Beschlüsse der UN-Generalversammlung (ES 11/1, ES 11/4 und deren Neuauflagen), welche die Grenzverletzungen scharf verurteilen und die internationale Anerkennung russischer Annexionen ablehnen. Sie stärken die ukrainische Verhandlungsposition, da sie eine Klärung des völkerrechtlichen Status der besetzten Gebiete ohne Zustimmung Kyjiws ausschließen. Die Akzeptanz einer russischen Krim und die Aussicht auf Aufhebung europäischer Wirtschaftssanktionen könnten in Verhandlungen eingesetzt werden für möglichst weitgehende russische Konzessionen bei Sicherheitsgarantien und wenn es um den rechtlichen Status anderer Gebiete geht. Auch eine begrenzte Versorgung Europas mit russischem Erdgas zuzulassen, sollte kein Tabu sein, wenn die europäische Energiesouveränität gewahrt bleibt und dies mit zusätzlichen militärischen Garantien für die Ukraine verbunden wird.
Die Zukunft der europäischen Sicherheit verhandeln
Schließlich gilt es auch das langfristige Konfliktmanagement in den Blick zu nehmen und sich auf einen geeigneten institutionellen Rahmen zu einigen. Komplementär zu möglichen Friedenstruppen, einer robusten europäischen Wehrhaftigkeit und Abschreckung sollte der militärische und sicherheitspolitische Pfeiler der OSZE wiederbelebt und für die Überwachung eines Waffenstillstands und militärischen Gleichgewichts genutzt werden. Dies könnte sowohl Beobachtermissionen als auch Konsultationen zur Vermeidung einer kontraproduktiven Rüstungsspirale oder destabilisierender militärischer Aktivitäten umfassen. 50 Jahre nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki bieten zwei parteiübergreifend geschätzte OSZE-Vorsitze – Finnland in diesem Jahr und die Schweiz in 2026 – eine Chance für Fortschritte.
Zur Koordination eines europäischen Beitrags im Fall von Friedensverhandlungen nach einem Waffenstillstand müsste eine Kontaktgruppe der wichtigsten europäischen Mächte (z.B. Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen, Italien, Spanien, eine nordisch-baltische Vertretung sowie die EU-Kommission) eingerichtet werden. Sie müsste sich auf eine einflussreiche und zugleich sicherheitspolitisch repräsentative Delegation einigen (z.B. Weimarer Dreieck). Angesichts der Dringlichkeit sollte die neue Bundesregierung ein solches Verhandlungsmandat und den damit verbundenen Strategiewechsel sofort anstoßen. Sie muss jede diplomatische Initiative entschlossen unterstützen und im eigenen wie im ukrainischen Interesse klug ausschöpfen. Denn der Weg zu mehr europäischer Souveränität und einer unabhängigen Ukraine führt über eine Verständigung mit den USA und Russland.
Dieser Blog-Beitrag basiert auf einem Meinungsbeitrag, der zuvor in „Die Welt“ unter dem Titel „Europas diplomatisches Versagen“ veröffentlicht wurde.