Seit die USA und Deutschland am Rande des NATO-Gipfels 2024 bekanntgegeben haben, dass ab 2026 konventionelle Mittelstreckenwaffen in Deutschland stationiert werden sollen, stehen die neuen Waffensysteme im Fokus der sicherheitspolitischen Diskussion. Dabei werden Rolle und Bedeutung der Systeme hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Abschreckung diskutiert. Allerdings spielen sie auch eine zentrale Rolle im neuen Multi-Domain-Operationskonzept der US-Armee. Um alle Dimensionen der geplanten Stationierung erfassen zu können, müssen die weitreichenden Waffen deshalb auch unter dem Aspekt der Kriegsführung betrachtet werden.
Es ist eine Entscheidung mit Sprengkraft: In einer gemeinsamen Absichtserklärung vom 19. Juli 2024 gaben die USA und Deutschland bekannt, dass ab 2026 konventionelle Mittelstreckenwaffen einer sogenannten Multi-Domain Task Force der US-Armee in Deutschland stationiert werden sollen – zunächst nur episodisch, in Zukunft aber auch dauerhaft. Die geplante Stationierung, so heißt es in der knappen Absichtserklärung, soll das Engagement der USA für die NATO und die Abschreckungskapazitäten Europas demonstrieren.
Auch die Bundesregierung rechtfertigt in einer separaten Stellungnahme die geplante Stationierung besonders mit einer Stärkung der Abschreckung. Dabei verweist sie auf die gestiegene Bedrohungslage durch landgestützte russische Mittelstreckensysteme – also Flugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern. Die Entwicklung und Stationierung dieser Waffensysteme durch die Russische Föderation hatte bereits im Jahr 2019 zum Ende des Vertrags über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) geführt. Damit wurde auch die Einführung von bodengestützten Mittelstreckenwaffen durch das US-Militär möglich. Im Gegensatz zu russischen Mittelstreckenwaffen handelt es sich jedoch ausschließlich um konventionelle, also nicht-nukleare Systeme. Eine nukleare Bewaffnung ist zumindest aktuell nicht vorgesehen und wäre technisch auch nicht unmittelbar realisierbar.
Die Diskussion in Deutschland hat sich bislang besonders auf die Fragen fokussiert, ob die Mittelstreckenwaffen zur Abschreckung gegenüber Russland beitragen können, welche Risiken mit der Stationierung einhergehen und was das alles für die Zukunft der Rüstungskontrolle bedeutet. Doch ein wichtiger Aspekt ist bislang kaum Teil der öffentlichen Debatte: Was passiert, wenn die Abschreckung scheitert und die Waffensysteme gegen Russland eingesetzt werden? Vor diesem Hintergrund beleuchtet dieses PRIF Spotlight das Multi-Domain-Operationskonzept und die Multi-Domain Task Forces der US-Armee, ordnet die Stationierung in einen breiteren Kontext ein und zeigt auf, warum Multi-Domain-Operationen sowohl vor als auch während eines militärischen Konflikts mit Eskalationsrisiken behaftet sind.
Neue Strategie für den Konflikt mit Russland und China
Das Konzept der Multi-Domain-Operationen ist seit Herbst 2022 die offizielle Doktrin der US-Armee und wurde entwickelt, um die Landstreitkräfte der USA auf eine militärische Auseinandersetzung mit Russland und China vorzubereiten. Die Kernidee dahinter ist die umfassende Integration verschiedener militärischer Fähigkeiten, um gleichzeitig in allen Domänen (Land, See, Luft, Weltraum, Cyberspace) sowie dem elektromagnetischen Spektrum (Störung gegnerischer Kommunikation, Aufklärung oder Navigation) und dem Informationsraum gegen gegnerische Kräfte wirken zu können. Mittlerweile haben das gesamte US-Militär und auch die NATO das Konzept adaptiert.
Multi-Domain-Operationen sollen dabei in erster Linie ein zentrales militärisches Problem adressieren: Das US-Militär geht davon aus, dass Russland und China im Kriegsfall versuchen würden, US-amerikanische Streitkräfte aus dem Kampfgebiet fernzuhalten (Anti-Access) und deren Bewegungsfreiheit innerhalb dieses Gebiets einzuschränken (Area-Denial). Im Falle einer russischen Aggression gegen das Baltikum könnte Russland etwa versuchen, eine Reaktion der USA und der NATO durch Präzisionsschläge auf Militärbasen im Bündnisgebiet, den Einsatz von modernen Luftverteidigungssystemen gegen anfliegende NATO-Kampfflugzeuge sowie gezielte Desinformationskampagnen gegen einzelne NATO-Mitgliedstaaten zu verzögern oder gar zu verhindern.
All das würde einen von den USA angeführten Gegenangriff erschweren. Denn US-amerikanische Ansätze zur Landkriegsführung sehen vor, dass feindliche Kräfte zunächst durch intensive Luftangriffe abgenutzt werden, bevor sie durch Landstreitkräfte im Gefecht der verbundenen Waffen – also das koordinierte Zusammenwirken verschiedener Truppengattungen wie zum Beispiel Kampfpanzer, mechanisierte Infanterie, Artillerie und Kampfhubschrauber – endgültig bekämpft werden. Sofern den US-Streitkräften der Zugang in umkämpftes Gebiet verwehrt oder zumindest verzögert wird, so die Annahme, könnten Russland und China also innerhalb weniger Tage fremdes Territorium in einem Überraschungsangriff erobern und die eigenen Geländegewinne so schnell konsolidieren, dass ein erfolgreicher Gegenangriff durch US-amerikanische und alliierte Kräfte am Ende zu kostspielig wäre – ein sogenanntes fait accompli.
Umfangreiche Aktivitäten in Friedens- und Krisenzeiten
Um ein fait accompli-Szenario zu verhindern, setzen Multi-Domain-Operationen auf Geschwindigkeit. Die US-Armee plant, unverzüglich nach Ausbruch eines militärischen Konflikts in gegnerische Anti-Access-/Area-Denial-Systeme (integrierte Luftverteidigungssysteme sowie Abschussrampen für ballistische Raketen und Marschflugkörper) einzudringen (penetrate), diese zu zerschlagen (disintegrate) und die gewonnene Bewegungsfreiheit auszunutzen (exploit). Im Falle einer russischen Aggression gegen das Baltikum würde die US-Armee damit höchstwahrscheinlich schon beginnen, noch bevor der NATO-Bündnisfall überhaupt festgestellt werden könnte. Speziell dafür wurden die Multi-Domain Task Forces konzipiert.
Die Multi-Domain Task Forces sind militärische Großverbände auf Brigadeebene (3.000 bis 5.000 Soldat*innen) und verfügen zusätzlich zu ihrem Hauptquartier über insgesamt vier Bataillone (jeweils bis zu 1.000 Soldat*innen). Neben einem Bataillon zur Bekämpfung von Zielen tief hinter feindlichen Linien mit Mittelstreckenwaffen (Long-Range Fires Battalion) sind das ein Bataillon zur Aufklärung, elektronischen und Cyberkriegsführung (Multi-Domain Effects Battalion), eines zur Luftverteidigung (Indirect Fire Protection Capability Battalion) sowie ein weiteres für Unterstützungsaufgaben (Brigade Support Battalion). Die für Europa vorgesehene 2. Multi-Domain Task Force ist seit 2021 in Wiesbaden und Fort Drum (New York, USA) stationiert.
Auch wenn die Mittelstreckenwaffen im Mittelpunkt der deutschen Diskussion stehen, sind das eigentliche Herzstück der Multi-Domain Task Forces die Multi-Domain Effects Battalions. Diese vereinen militärische Fähigkeiten in den Bereichen Cyber, Weltraum, Aufklärung, Kommunikation und elektronische Kampfführung unter einem Dach. Ihre Aufgabe: Gegnerische Radarsysteme, Funksender, Befehlsstände sowie Raketenstellungen mit Hilfe von Satellitenfähigkeiten, Höhenballons und Drohnen aufzuklären, stillzulegen und somit Luftüberlegenheit und Bewegungsfreiheit für das gesamte US-Militär zu schaffen – entweder mit leistungsfähigen Störsendern, Cyberangriffen und Angriffsdrohnen, oder mit Hilfe der Mittelstreckenwaffen der Long-Range Fires Battalions.
Damit all das sofort nach Ausbruch eines militärischen Konflikts geschehen kann, sollen die Multi-Domain Effect Battalions bereits in Friedens- und Krisenzeiten – also unterhalb der Schwelle zum bewaffneten Konflikt – Ziele auskundschaften, in feindliche Computernetzwerke eindringen sowie im elektromagnetischen Spektrum operieren, also zum Beispiel feindliche Kommunikation oder Navigation stören. Diese Aktivitäten haben nicht nur das Ziel, bereits vor Eintritt des Verteidigungsfalls günstige Bedingungen für einen schnellen Übergang in die bewaffnete Auseinandersetzung zu schaffen (Operational Preparation of the Environment), sondern sollen den Gegner auch von aggressiven Handlungen abschrecken.
Allerdings können derartige militärische Aktivitäten, die bislang übergeordneten Führungsebenen vorbehalten oder ausschließlich für den Konfliktfall vorgesehen waren, auch selbst einen Konflikt auslösen oder zumindest diplomatische Bemühungen zur Konfliktverhinderung unterminieren. Diesen Aspekt hebt sogar die US-Armee in ihrer eigenen Doktrin hervor. Sämtliche Maßnahmen, die unterhalb der Schwelle zum bewaffneten Konflikt stattfinden, müssen deshalb vorsichtig abgestimmt werden – sie müssen einerseits die notwendigen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Gegenoffensive schaffen und den Gegner abschrecken, dürfen andererseits aber nicht selbst einen militärischen Konflikt provozieren.
Gemeinsame Operationen im militärischen Konflikt
Sollten Bemühungen zur Deeskalation einer Krise scheitern und es schlussendlich zum Ausbruch eines militärischen Konflikts kommen, können die Multi-Domain Task Forces durch Verwendung bereits gesammelter Aufklärungsdaten umgehend mit der Bekämpfung gegnerischer Luftverteidigungssysteme und Raketenstellungen beginnen. Allerdings wäre die US-Armee dafür nicht allein verantwortlich: Das Multi-Domain-Operationskonzept betont explizit gemeinsame Operationen und die Integration von Fähigkeiten anderer Nationen und Teilstreitkräfte – zum Beispiel mit den Luftstreitkräften und der Marine. Innerhalb der NATO arbeitet etwa auch das Allied Air Command in Ramstein an Konzepten, um gegnerische Anti-Access-/Area-Denial-Netzwerke zu neutralisieren – erst im Herbst 2024 fand dafür die Übung Ramstein Flag 24 mit über 130 NATO-Kampfflugzeugen in Griechenland statt. Aus diesem Grund müssen die US-amerikanischen Mittelstreckenwaffen, die ab 2026 in Deutschland stationiert werden sollen, im militärischen Gesamtkontext betrachtet werden.
Wie das US-Militär zusammen mit anderen Staaten in der Eröffnungsphase eines militärischen Konflikts vorgehen würden, illustriert die Operation Desert Storm gegen den Irak im Jahr 1991. Auch hier sahen sich die USA zunächst mit der Herausforderung konfrontiert, Luftüberlegenheit und Bewegungsfreiheit für eigene Kräfte herzustellen und somit eine Gegenoffensive zur Befreiung Kuwaits zu ermöglichen. Die Militäroperation startete am 17. Januar 1991 um 02:39 Uhr in der Nacht, als mehrere Kampfhubschrauber der US-Armee in irakischen Luftraum eindrangen, zwei Frühwarnradarstellungen zerstörten und so einen zehn Kilometer breiten Korridor für Kampfflugzeuge der US-Luftstreitkräfte eröffneten. Diese griffen daraufhin befestigte und mobile Scud-Raketenstellungen im Irak an. Nur zwölf Minuten nach Zerstörung der irakischen Frühwarnradare bombardierten Tarnkappenflugzeuge einen zentralen Netzwerk-Knotenpunkt des irakischen Luftverteidigungssystems, das Hauptquartier der irakischen Luftwaffe, das Luftverteidigungszentrum, den Präsidentschaftspalast, sowie weitere Kommando- und Telekommunikationseinrichtungen. Beinahe zeitgleich schlugen zudem insgesamt 52 Tomahawk-Marschflugkörper der US-Marine im Großraum Bagdad ein, die zuvor auf Elektrizitätswerke, chemische Anlagen sowie den Präsidentschaftspalast und den Hauptsitz der Baath-Partei abgefeuert worden waren. Nach dieser initialen Blendkampagne (blinding campaign) flogen die Koalitionsstreitkräfte mehrere Angriffswellen gegen irakische Flugabwehrstellungen und Flugplätze, sodass die irakische Luftverteidigung bereits nach der ersten Nacht substanziell geschwächt war und nicht länger als integriertes System funktionierte. Damit wurden die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Luftkampagne und anschließende Bodenoffensive geschaffen.
Eine Militäroperation gegen Russland wäre allerdings ungleich komplexer und mit Eskalationsrisiken behaftet. Denn das russische Militär verfügt nicht nur über deutlich leistungsfähigere Luftverteidigungssysteme, ballistische Raketen und Marschflugkörper als der Irak im Jahr 1991, sondern auch über Nuklearwaffen. Außerdem müsste die NATO aller Voraussicht nach hunderte, wenn nicht sogar tausende Ziele auf russischem Territorium – darunter auch in Kaliningrad – zerstören, um die Bewegungsfreiheit eigener Kräfte sicherzustellen. Russland betrachtet Kommandoeinrichtungen, Radarstellungen sowie andere kritische Infrastrukturen jedoch als unerlässlich für die Funktion des Staates. Sollten diese zerstört und die russische Luftverteidigung wie die irakische Luftverteidigung im Jahr 1991 nicht länger als integriertes System funktionieren, könnte der russische Generalstab dem Präsidenten den Einsatz von Nuklearwaffen empfehlen, um die NATO vor weiteren Angriffen abzuhalten.
Zusammenfassung
Die Multi-Domain Task Forces mit ihren Mittelstreckenwaffen sind eine Schlüsselkomponente der US-Armee, um Bewegungsfreiheit für eigene Kräfte zu schaffen und damit unter anderem eine effektive Verteidigung des Baltikums zu ermöglichen. Das liegt auch im Interesse der Bundesrepublik Deutschland, denn bis Ende 2027 sollen dort insgesamt 5.000 Bundeswehrangehörige der Brigade Litauen stationiert sein. Gleichzeitig ist dieses militärische Vorgehen mit Eskalationsrisiken verbunden. Diese ergeben sich allerdings weniger aus den Mittelstreckenwaffen selbst, sondern vielmehr aus umfassenden militärischen Aktivitäten in Krisenzeiten und der Bekämpfung strategisch wichtiger Ziele einer Nuklearmacht im Falle eines militärischen Konflikts.
Deutschland sollte die geplante Stationierung der Mittelstreckenwaffen zum Anlass nehmen, die Eskalationspotenziale von Multi-Domain-Operationen im NATO-Kontext zu thematisieren und mögliche Maßnahmen zur Risikoreduzierung zu erörtern, denn die unbeabsichtigte Eskalation einer Krise oder ein russischer Nuklearwaffeneinsatz liegen weder im Interesse Deutschlands noch der NATO. Dafür wird es allerdings erforderlich sein, dass neue Waffensysteme zukünftig nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Abschreckung, sondern im Kontext militärischer Operationskonzepte, Doktrinen und Strategien betrachtet werden.
Download (pdf): Kuhn, Frank (2024): Mehr als nur Abschreckung: Mittelstreckenwaffen und Multi-Domain-Operationen in Europa, PRIF Spotlight 9/2024, Frankfurt/M..
*The appearance of U.S. Department of Defense (DoD) visual information does not imply or constitute DoD endorsement.