Seit Ende des Kalten Krieges haben die Vereinigten Staaten die Größe ihres Nuklearwaffenarsenal signifikant reduziert. Doch vor der US-Wahl 2024 zeichnet sich ein dramatischer Kurswechsel ab: Während Russland mit dem Einsatz von Kernwaffen in der Ukraine droht, bauen China und Nordkorea ihre Nuklearwaffenarsenale stetig aus. Sollten die drei Staaten weiterhin kein Interesse an Rüstungskontrollverhandlungen mit Washington zeigen, könnten deshalb auch die Vereinigten Staaten ihr Nuklearwaffenarsenal zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder vergrößern – und zwar unabhängig davon, wer die Wahl gewinnt. Eine demokratische Administration würde aller Voraussicht nach aber deutlich maßvoller vorgehen als eine republikanische Regierung.
In den Vereinigten Staaten wird wieder verstärkt über nukleare Aufrüstung diskutiert. Dass US-Regierungen die Fähigkeit ihrer Nuklearstreitkräfte ausbauen, ist zunächst einmal keine grundsätzlich neue Entwicklung. Obwohl die Anzahl der stationierten Atomsprengköpfe und Trägersysteme so niedrig ist wie seit 60 Jahren nicht, wurde auch nach Ende des Kalten Krieges kontinuierlich aufgerüstet – allerdings rein qualitativ.
In den 1990er- und 2000er-Jahren erhielten die land- und seegestützten Interkontinentalraketen der U.S. Air Force und der U.S. Navy verbesserte Kommandosysteme, mit denen die Waffen binnen Minuten mit neuen Zielkoordinaten programmiert werden können. Das Ergebnis war eine höhere Flexibilität der US-Nuklearstreitkräfte, obwohl die Zahl der Sprengköpfe insgesamt reduziert wurde. Zwischen 2009 und 2017 stattete die National Nuclear Security Administration (NNSA) alle W76-1 Sprengköpfe, die auf US-amerikanischen U-Booten stationiert sind, mit einem neuen Zündsystem aus. Seitdem können sogenannte Hartziele wie Raketensilos oder Bunkeranlagen auch durch U-Boot-gestützte ballistische Raketen zerstört werden. Nicht zuletzt verleiht das B61-12 Life-Extension-Programm den US-Atombomben, die unter anderem in Europa stationiert sind, neue militärische Fähigkeiten.
Die Debatte dreht sich allerdings schon längst nicht mehr nur um die qualitative Weiterentwicklung des US-Nuklearwaffenarsenals wie etwa das von Barack Obama beschlossene Modernisierungsprogramm oder den seegestützten Marschflugkörper aus der Nuclear Posture Review 2018 der Trump-Administration. Vielmehr steht mittlerweile sogar ein zahlenmäßiger Aufwuchs der stationierten Kernwaffen im Raum, auch weil der aktuell bestehende Rüstungskontrollvertrag New START zwischen den USA und Russland im Februar 2026 ausläuft. Unter einer republikanischen Regierung gilt ein solcher Aufwuchs praktisch als gesetzt. Doch selbst die demokratische Biden-Administration wollte eine solche Kehrtwende in der Nuklearwaffenpolitik zuletzt nicht mehr ausschließen – obwohl der jetzige US-Präsident im Präsidentschaftswahlkampf 2020 noch angekündigt hatte, die Rolle von Atomwaffen in der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik reduzieren zu wollen.
Vor diesem Hintergrund wird die US-Wahl 2024 wohl kaum über die grundlegende Richtung der zukünftigen US-Nuklearwaffenpolitik entscheiden, sondern eher über den Umfang und Zeitplan eines nuklearen Aufrüstungsprogramms.
Geteilte Bedrohungswahrnehmung in Washington
Russlands aggressive Außenpolitik im Zuge der Vollinvasion der Ukraine im Februar 2022 und die russisch-chinesische Partnerschaft haben dazu geführt, dass in Washington das Problem der opportunistischen Aggression in den Fokus des verteidigungspolitischen Diskurses gerückt ist. Dahinter verbirgt sich der Gedanke, dass die USA zum Beispiel in einen Krieg mit Russland verwickelt werden könnten und infolgedessen nicht mehr über die erforderlichen konventionellen militärischen Ressourcen verfügen würden, um China vor einer Invasion Taiwans abzuhalten.
Wie die Nuclear Posture Review 2022 andeutet, haben die Vereinigten Staaten zur Abschreckung opportunistischer Aggression verstärkt oder zumindest teilweise auf ihr Nuklearwaffenarsenal vertraut. Mittlerweile hat sich jedoch der Konsens durchgesetzt, dass die US-Nuklearstreitkräfte der neuen Bedrohungslage nicht mehr gewappnet sind. Grund dafür ist der erhebliche Ausbau des chinesischen Nuklearwaffenarsenals. Aus Sicht der Vereinigten Staaten entsteht mit China gerade ein zweiter nuklearer Gegenspieler, der bald ähnlich stark sein könnte wie Russland.
Nach übereinstimmenden Schätzungen des Pentagons und der Federation of American Scientists umfasst das chinesische Nuklearwaffenarsenal aktuell um die 500 Sprengköpfe, also insgesamt 90 mehr als noch im Jahr davor. Außerdem geht das US-Verteidigungsministerium davon aus, dass China bis zu 1000 Sprengköpfe im Jahr 2030 und 1500 Sprengköpfe im Jahr 2035 stationieren könnte, sofern das derzeitige Tempo der Expansion beibehalten wird. Damit würde China in knapp zehn Jahren über beinahe so viele Nuklearsprengköpfe verfügen wie die Vereinigten Staaten und Russland aktuell im Rahmen von New START auf ihren strategischen Trägersystemen – also Raketen und Bombern mit interkontinentaler Reichweite – stationieren dürfen.
Ein derartig rasanter Ausbau des chinesischen Nuklearwaffenarsenals wäre zwar grundsätzlich möglich, in der Vergangenheit haben sich die Prognosen des Pentagons in Bezug auf das chinesische Nuklearwaffenprogramm allerdings häufig als ungenau herausgestellt. Auch die neusten Hochrechnungen basieren auf einer Reihe von Annahmen, die nicht notwendigerweise eintreten müssen. Die Volksrepublik müsste tatsächlich alle verfügbaren Sprengköpfe auch auf entsprechenden Trägersystemen stationieren, was nicht sonderlich wahrscheinlich und eher eine Worst-Case-Annahme ist. Schließlich umfasst das gesamte Kernwaffenarsenal der USA mitsamt Reserve insgesamt um die 3.700 Sprengköpfe. Selbst wenn China im Jahr 2035 über 1.500 Sprengköpfe verfügen sollte, wäre dieser Aufwuchs zumindest relativ gesehen weit weniger dramatisch als oftmals dargestellt.
Trotz alledem herrscht in den Vereinigten Staaten weitestgehend Einigkeit über die nukleare Bedrohungslage. Das zeigt sich unter anderem an der vom US-Kongress eingesetzten, überparteilichen Strategic Posture Commission. Diese schlussfolgerte im Oktober 2023: Um die Bedrohung durch zwei gleichstarke Nuklearwaffenstaaten – also Russland und China – zu bewältigen, seien entweder größere Nuklearstreitkräfte, anders aufgestellt Nuklearstreitkräfte, oder beides erforderlich. Weder Donald Trump noch die von Joe Biden unterstützte Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris oder ein anderer demokratischer Präsident werden sich den grundsätzlichen Empfehlungen der Strategic Posture Commission in einer zweiten Amtszeit vollständig entziehen können.
Robustere Nuklearwaffenpolitik auch unter den Demokraten
Die Biden-Administration hat sich bezüglich ihrer zukünftigen Nuklearwaffenpolitik eher bedeckt gehalten. Gleichzeitig räumte Pranay Vaddi, Senior Director für Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung im Nationalen Sicherheitsrat der Biden-Administration, auf einer Veranstaltung der Arms Control Association im Juni 2024 ein: „Wenn sich die Entwicklung der gegnerischen Waffenarsenale nicht ändert, könnten wir in den kommenden Jahren an einen Punkt gelangen, an dem eine Aufstockung der derzeitigen stationierten Zahlen erforderlich wird.“ Und sofern der Präsident eine solche Entscheidung treffen sollte, müsse man voll und ganz darauf vorbereitet sein, so Vaddi.
Wann genau dieser Punkt erreicht sein könnte, hat die aktuelle Administration bewusst offengelassen. Vermutlich wären jedoch entweder ein weiterer Aufwuchs des chinesischen Nuklearwaffenarsenals oder ein signifikanter Ausbau des russischen Nuklearwaffenarsenals über die New START-Grenzen von 1.550 stationierten Sprengköpfe hinaus erforderlich. Aktuell liegt keine der beiden Voraussetzungen vor, sodass zumindest noch nicht unmittelbar mit einem zahlenmäßigen Ausbau der US-Nuklearstreitkräfte unter einer demokratischen Präsidentin oder Präsident gerechnet werden muss.
Sollte sich das ändern, wäre wohl zunächst mit einem maßvollen Vorgehen zu rechnen. Zumindest die aktuelle demokratische Regierung unter Joe Biden beabsichtigt laut eigener Aussage nicht, zahlenmäßig mit Russland und China gleichzuziehen oder die beiden Staaten gar zu übertrumpfen. Deshalb könnte sich eine demokratische Administration zum Beispiel die großzügige Zählregelung von New START zu Nutze machen und zusätzliche Marschflugkörper auf ihren Bomberbasen stationieren – eine Herangehensweise, für die sich kürzlich die ehemalige US-Diplomatin und New START-Chefverhandlerin Rose Gottemoeller ausgesprochen hat. Da ein Bomber immer nur als ein Sprengkopf zählt – egal wie viele Sprengköpfe tatsächlich auf einem Bomber stationiert sind – ließe sich so die tatsächliche Zahl der stationierten Sprengköpfe erhöhen, ohne die Obergrenzen von New START zu verletzen und Russland zu etwaigen Gegenmaßnahmen zu verleiten.
In jedem Fall darf unter einer demokratischen Administration aber mit einer robusteren Nuklearwaffenpolitik gerechnet werden – auch, um Russland und China zur Aufnahme von Rüstungskontrollgesprächen zu bewegen. Schon im Oktober 2023 hatte die US-Regierung die Entwicklung einer weiteren Variante der B61-Atombombe angekündigt. Die geplante B61-13 soll dabei zusätzliche Optionen zum Angriff gehärteter und großflächiger militärischer Ziele bieten. Außerdem hat die aktuelle Administration auch ihren Widerstand gegen den vom US-Kongress geforderten seegestützten Marschflugkörper weitestgehend aufgegeben und die Entwicklung eines entsprechenden Waffensystems in die Wege geleitet.
Sofortige Maßnahmen unter Donald Trump?
Einer republikanischen Administration unter Donald Trump würde all das wohl noch nicht weit genug gehen. Für einige Experten wie Franklin C. Miller, der an der Nuclear Posture Review 2018 unter Donald Trump als Berater beteiligt war und sicherlich auch in einer zweiten Trump-Administration Einfluss auf die US-Nuklearwaffenpolitik nehmen würde, waren die Bedingungen für einen Ausbau des US-amerikanischen Nuklearwaffenarsenals auf 3.000 bis 3.500 Sprengköpfe ohnehin schon vor zwei Jahren erfüllt.
Sowohl das von der konservativen Heritage-Foundation geführte Project 2025 als auch die Heritage-Foundation selbst haben außerdem detaillierte Pläne zum Ausbau der US-Nuklearstreitkräfte erstellt, die nach Amtseinführung umgehend in die Tat umgesetzt werden könnten. Diese Maßnahmenkataloge umfassen nicht nur eine Beschleunigung und Ausweitung des nuklearen Modernisierungsprogramms und die Entwicklung des seegestützten Marschflugkörpers. Vielmehr sollten die Minuteman III-Interkontinentalraketen ab 2026 mit zusätzlichen Sprengköpfen bestückt und die Entwicklung weiterer Systeme wie nuklear bewaffneter Mittelstreckenraketen, Hyperschallwaffen sowie mobiler Interkontinentalraketen geprüft werden. Dazu kommt der Ausbau der nuklearen Infrastruktur mitsamt den nationalen Laboratorien, die für die Entwicklung von Nuklearsprengköpfen verantwortlich sind. Trumps ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater Robert O’Brien brachte kürzlich sogar eine Wiederaufnahme von Nuklearwaffentests ins Spiel, was die Teststoppnorm noch stärker unter Druck setzen dürfte als bisher.
Das größte Hindernis bei der Umsetzung dieser umfangreichen Pläne dürfte am Ende das Geld sein. Denn bereits jetzt schätzt das Congressional Budget Office die Kosten für die US-Nuklearstreitkräfte bis ins Jahr 2032 auf um die 750 Milliarden US-Dollar. Falls eine republikanische US-Regierung alle Pläne der Heritage-Foundation genauso umsetzen möchte, wären vermutlich noch einmal dutzende Milliarden zusätzlich erforderlich – Geld, das der US-Kongress erst einmal bereitstellen müsste und für das gegebenenfalls Kürzungen an anderer Stelle erforderlich wären.
Ausblick
Sollte der zukünftige US-Präsident oder die zukünftige US-Präsidentin die Entscheidung für einen Ausbau des US-Nuklearwaffenarsenals treffen, könnten die USA ihre umfangreiche strategische Upload-Kapazität nutzen, um Sprengköpfe aus der Reserve zu holen und die Anzahl ihrer stationierten, strategischen Nuklearsprengköpfe von aktuell knapp 1.600 auf über 3.500 zu vergrößern. Je nach Trägersystem wäre dies in einigen Tagen, Wochen oder Monaten möglich und würde im Gegensatz zur Beschaffung und Entwicklung zusätzlicher Trägersysteme auch finanziell kaum ins Gewicht fallen. Dafür müssten die USA allerdings zunächst aus New START austreten oder abwarten, bis der Vertrag im Februar 2026 ohnehin ausläuft. So oder so wäre bei einer derart dramatischen Vergrößerung des US-Nuklearwaffenarsenals beinahe sicher mit russischen Gegenmaßnahmen zu rechnen, denn auch Russland könnte eine signifikante Anzahl an Sprengköpfen aus der Reserve holen. Und auch der nukleare Nichtverbreitungsvertrag, der sich ohnehin schon in der Krise befindet, könnte weiter Schaden nehmen.
Abrüstung, Rüstungskontrolle, und Nichtverbreitung nehmen in der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland traditionell einen hohen Stellenwert ein. Gleichzeitig ist der Einfluss Deutschlands begrenzt. Sofern sich Moskau und insbesondere Peking nicht unerwartet zur Aufnahme von ernsthaften Rüstungskontrollgesprächen mit den USA bereiterklären sollten, wird man zumindest einen moderaten Aufwuchs der US-amerikanischen Nuklearstreitkräfte in den kommenden Jahren kaum mehr verhindern können. Und nachdem China die ohnehin schon stockenden Gespräche mit den USA erst kürzlich ausgesetzt hat, stehen die Chancen dafür schlecht.