Der Gipfel in Vilnius unterstreicht eines: Die NATO ist wieder die zentrale sicherheitspolitische Organisation in Europa und darüber hinaus. Ihre Handlungsfähigkeit verdankt sie nicht zuletzt ihrer hegemonialen Figur. Was heute gut funktioniert, wird angesichts der Unwägbarkeiten der amerikanischen Führungsrolle zum Risiko für morgen. Signale für eine Stärkung der europäischen Eigenverantwortung gingen von dem Gipfel nicht aus. Im Gegenteil erteilt er Vorhaben der EU für eine eigenständigere Verteidigung eine Absage. Zukunftsfähig ist dieses Modell nicht.
NATO is back. Zumindest vorläufig. Von hirntot, inneren Zerwürfnissen, Blockaden und Erosion keine Rede mehr. Stattdessen ist die Allianz wieder die führende sicherheitspolitische Organisation in der euro-atlantischen Region und darüber hinaus. Sie überbrückt die Gegensätze zwischen den 31 Mitgliedstaaten mit ihren sehr unterschiedlichen Interessen, bringt trotz des Konsensprinzips Einigung in kontroversen Fragen weit oberhalb des kleinsten gemeinsamen Nenners der Interessen zustande und gibt die Richtung vor.
Neue Stärke
Der NATO-Gipfel in Vilnius am 11. und 12. Juli unterstrich diese Fähigkeit in beeindruckender Weise. Angesichts der vielen Unstimmigkeiten und Konflikte im Vorfeld verlief das Treffen erstaunlich glatt und produktiv. Die Nachfolge des Generalsekretärs klärten die Mitgliedstaaten schon vor dem Gipfel: Der alte wurde zum neuen gekürt. Für den Beitritt Schwedens sprangen die Ampeln auf grün, als der türkische Präsident eine überraschende Volte vollzog und die kurz vorher ins Spiel gebrachte Bedingung eines Neustarts des EU-Beitrittsprozesses seines Landes wieder einsammelte. Die Ukraine bekam nicht das, wofür sie im Vorfeld so heftig geworben hatte und worin sie von vielen NATO-Staaten unterstützt worden war: nämlich einen verbindlichen Fahrplan zum Beitritt. Stattdessen bekräftigt die NATO ihre Zusage, die Ukraine zu einem zeitlich nicht definierten Zeitpunkt zum Beitritt einzuladen, und zwar dann, „wenn alle Mitglieder zustimmen und die Konditionen erfüllt sind“. Trotz der deutlichen Kritik, die Präsident Selensky während seiner Anreise zum Gipfel an dem Beschluss übte, der ein Zeichen der Schwäche sei und Unsicherheit erzeuge, reihte er sich auf dem Gipfel in das Bild der Harmonie ein und interpretierte die vielfältigen Hilfszusagen und Sicherheitsgarantien der G7-Staaten als Bausteine auf dem Weg zum Beitritt.
In Vilnius verschärften die Mitgliedstaaten ihre Position zu China noch einmal, und sie malten die künftige Kooperation mit den ostasiatischen Demokratien in kräftigeren Farben aus. Sie einigten sich darauf, dass 2% des Bruttosozialprodukts nicht die Decke, sondern das Minimum dessen ist, was sie dauerhaft als Anteil für Verteidigung aufwenden werden. Und sie schrieben Beschlüsse früherer Gipfel fort, einschließlich des Bekenntnisses zum Kampf gegen den Terrorismus. Materiell am wichtigsten: Sie nickten die drei neuen regionalen Verteidigungspläne zur Umsetzung des vor einem Jahr beschlossenen Neuen Streitkräftemodells ab. Danach wird die NATO ihre schnell mobilisierbaren Truppen deutlich aufstocken. An die Stelle der 40.000 Soldatinnen und Soldaten umfassenden NATO Response Force (NRF) treten 300.000 Truppen, die durch 500.000 Truppen mit längeren Mobilisierungszeiten verstärkt werden können. Die drei Regionalpläne legen fest, welche Truppenkontingente wie in welche Gebiete an der östlichen Flanke der Allianz verlegt werden können.
Comeback der amerikanischen Führungsrolle
Es ist zwar mittlerweile eine Binse, lohnt aber wiederholt zu werden: Putins Krieg zielte auch darauf ab, die NATO im östlichen Europa zu schwächen. Erreicht hat er das Gegenteil: Die Allianz wächst und stellt sich militärisch an der verlängerten Ostflanke deutlich präsenter auf. Die Ostsee wird von ihr dominiert und die neutrale Zone in Nord- und im zentralen Osteuropa aufgelöst. Die NATO einschließlich der integrierten Militärstruktur rückt über kurz oder lang auf einer Linie vom Nordkap bis zum Schwarzen Meer direkt an Russland (und Weißrussland) heran. Egal ob der Krieg mit einer Niederlage Russlands, einem Waffenstillstand oder einem politischen Kompromiss endet: Russland wird aus Europa herausgedrängt und scheidet de facto als europäische Macht aus.
Diese Handlungsfähigkeit ist überraschend und allein mit dem äußeren Druck, dem praktisch permanenten diplomatischen Austausch auf den Fluren des Hauptquartiers in Brüssel und der Autorität des Generalsekretärs kaum zu erklären. Entscheidend ist etwas weiteres, nämlich der hegemoniale Einfluss der atlantischen Führungsmacht. Wenn also die NATO wieder zurück ist, dann deshalb, weil die USA wieder zurück sind. Während des Gipfels kam die tonangebende und disziplinierende Wirkung der amerikanischen Führung deutlich zu tragen.
Die dänische Regierungschefin Mette Frederiksen scheiterte als letzte mögliche Kandidatin für den Posten an der Spitze der NATO und damit als Alternative zu einer abermaligen Verlängerung des Vertrags von Stoltenberg, weil sie bei ihrer Vorstellungsrunde in Washington wichtige Kongressmitglieder nicht überzeugen konnte.
Die Auflösung der türkischen Blockade des Beitritts Schwedens gelang nicht nur, weil Ankara einen Schwenk in Richtung Westorientierung vollzieht und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell unverbindliche Zugeständnisse in Richtung einer Modernisierung der Zollunion andeutete. Letztlich aber waren es die von den USA gesetzten Anreize und Sanktionsdrohungen, die den türkischen Schwenk erklären. Sie drohten einerseits, die Türkei weiter zu isolieren, andererseits boten sie Anreize in Form der Lieferung von F-16-Kampfflugzeugen und einer Einladung Erdogans ins Weiße Haus.
Auch der Streit über Zeitpunkt und Bedingungen des Beitritts der Ukraine wurde von den USA entschieden. Washington hatte für seine zögernde Haltung gute Gründe. Sicherheitsgarantien jetzt anzubieten ist allein deshalb geboten, weil solche Garantien eine Voraussetzung für die Bereitschaft Kiews zu möglichen Verhandlungen über ein Ende des Krieges darstellen. Heute einen verbindlichen Fahrplan zur Aufnahme in die NATO festzulegen ist hingegen eine ganz andere Sache. Denn niemand weiß, wie der Krieg endet, welche Form der ukrainisch-russische Konflikt dann haben wird und wie die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse in der Ukraine nach dem Krieg aussehen werden. Um nur einen Aspekt dieser Unsicherheit zu nennen: Wenn der Krieg mit einem für beide Seiten unbefriedigenden und folglich instabilen Waffenstillstand enden sollte, würde eine schnelle Aufnahme der Ukraine das erhebliche Risiko der Verwicklung in den nächsten Krieg bergen. Wollte die NATO dieses Risiko durch eine Maximierung der Abschreckung und eine Kontrolle der ukrainischen Außenpolitik reduzieren, stellte sich die Frage, wie sie dies erreichen kann und welche Mitgliedstaaten durch militärische Maßnahmen und die Vornestationierung von Truppen in der Ukraine Artikel-5-Garantien untermauern.
Die USA konnten in Vilnius auch deshalb den Takt vorgeben, weil sie einen großen Teil der Lasten der europäischen Verteidigung tragen. Das gilt auch für die Unterstützung der Ukraine. Die amerikanischen Hilfen (einschließlich finanzieller, humanitärer und militärischer Unterstützung) bis zum Januar 2023 belaufen sich auf 73,18 Mrd. Euro. Die EU-Länder und -Institutionen sowie Großbritannien leisteten im gleichen Zeitraum Hilfen im Umfang von 63,23 Mrd. Euro. Bei militärischer Hilfe steuern die USA deutlich mehr als doppelt so viel bei wie die Europäer zusammen. Und sie leisten entscheidende Beiträge zur Stärkung der Ostflanke. Während Deutschland als einziges europäisches NATO-Mitglied unter großen Mühen eine Brigade dauerhaft in Litauen stationieren wird, haben die USA seit Beginn des Krieges zusätzlich drei Brigaden nach Deutschland, Polen und weitere Länder an der Ostflanke verlegt, wenn auch in den östlichen Mitgliedstaaten überwiegend auf Rotationsbasis.
Amerikanische Führung bedeutet nicht amerikanische Dominanz. In der Frage, wie weit sich die NATO auf einen Kurs festlegen soll, der die Kooperation mit den ostasiatischen Demokratien ausbaut und letztlich gegen China gerichtet ist, akzeptierten die USA etwa den französischen Einwand gegen die Eröffnung eines NATO-Büros in Tokyo.
Ungewisse Zukunft
So sehr ihre hegemoniale Figur die Handlungsfähigkeit der Allianz heute sichert, so sehr wird diese zum Risiko für morgen. Denn die Führungsrolle der USA steht auf einem schwankenden Fundament. Selbst wenn Trump nicht wiedergewählt wird und selbst wenn die USA infolge des aufziehenden Großkonflikts mit China ihre Aufmerksamkeit nicht vollständig auf den pazifischen Raum konzentrieren, werden isolationistische Impulse allein mit den wachsenden innergesellschaftlichen Problemen der USA zunehmen. Daher käme es darauf an, den Glücksfall Biden und das von ihm geöffnete Zeitfenster zur Stärkung europäischer Eigenverantwortung zu nutzen. Genau in diesem Sinne sah die Europäische Kommission den Ukrainekrieg als Weckruf und identifizierte die Rüstungskooperation als das Feld, auf dem sich Europa als sicherheits- und verteidigungspolitischer Akteur am ehesten voranbringen lässt. Und eine Reihe von Studien argumentierten, die USA sollten im Sinne eines aufgeklärten Selbstinteresses die europäische Streitkräfte- und Rüstungskooperation unterstützen.
Der NATO-Gipfel sendet genau die entgegengesetzte Botschaft. Das Abschlussdokument bekräftigt in erstaunlich deutlichen Worten die von den USA seit den frühen 2000er Jahren vorgebrachten Einwände gegen eine eigenständigere europäische Verteidigung. Danach ist Duplikation zu vermeiden und sollen europäische Strukturen komplementär zu den umfassenden der NATO bleiben. Viel Spielraum gibt es da nicht. Noch einschränkender: Das Dokument fordert mit Nachdruck die gleichberechtigte Teilnahme von NATO-Ländern, die nicht in der EU sind, bei Rüstungs- und anderen verteidigungspolitischen Anstrengungen der EU. Weil amerikanische Anbieter bereits heute die europäischen Rüstungsmärkte dominieren, blockiert diese Bestimmung den Weg hin zu einer stärker eigenverantwortlichen europäischen Verteidigung, den die EU-Kommission als den am ehesten gangbaren ausgemacht hatte. Die hegemoniale Figur der NATO mag zwar Ursache ihres Erfolges heute sein, sie bleibt aber das größte Risiko für die Handlungsfähigkeit morgen. Zukunftsfähig ist diese Konstruktion kaum.