Die Diskussion um die Frage, wie sich die Sicherheit der Ukraine nach dem Krieg garantieren ließe, ist voll entbrannt. Wenn sich der Weg in die NATO als nicht gangbar erweisen sollte, welche Alternativen böten sich an und wie sind sie zu bewerten? In dem zweiten Blogbeitrag zu dem Thema geht es um Sicherheitsgarantien durch umfassende militärische Unterstützung, durch die Stationierung westlicher Truppen, durch die Aussicht auf EU-Mitgliedschaft und durch Arrangements, die auch russische Sicherheitsinteressen berücksichtigen.
Der mögliche Beitritt der Ukraine zur NATO wurde im ersten Teil dieser Analyse diskutiert. Nun sollen die vier weiteren Vorschläge in den Blick genommen werden.
Sicherheitsgarantien durch umfassende militärische Unterstützung
Einen zweiten Vorschlag legte eine Arbeitsgruppe unter Leitung des ehemaligen NATO-Generalsekretärs Anders Fogh Rasmussen und des Beraters von Präsident Selensky, Andril Yermak, bereits im September 2022 vor. Dieser Kyiv Security Compact knüpft an die Verhandlungen an, die Russland und die Ukraine Ende März letzten Jahres in Istanbul führten, geht aber in den entscheidenden Punkten weit darüber hinaus. In Istanbul hatten Vertreter der Ukraine den Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft im Gegenzug zu einem Rückzug der russischen Truppen von den seit dem 24.02.2022 eroberten Gebieten vorgeschlagen. Der Status der Krim sollte in folgenden Gesprächen geklärt werden. Statt der NATO-Mitgliedschaft bestand Kiew auf umfassenden Sicherheitsgarantien. Wie diese aussehen könnten, blieb in den Gesprächen umstritten. Der ursprüngliche ukrainische Vorschlag sah neben weiteren westlichen Staaten auch alle ständigen Mitglieder des VN-Sicherheitsrats als Garantiemächte vor. Diese Position revidierte Kiew dann aber schnell und lehnte Russland als Garantiemacht ab. Dagegen bestand Russland offenbar auf einer Rolle als Garantiemacht und wollte den materiellen Gehalt westlicher Garantien begrenzen. Im Unterschied dazu bekräftigt der Security Compact das grundsätzliche Recht der Ukraine auf NATO-Beitritt, schlägt aber für einen unbestimmten Zeitraum als Alternative ein Geflecht von multilateralen und bilateralen Sicherheitsgarantien vor. Im Kern würde sich die große Gruppe westlicher Staaten, die in der Ramstein-Koalition die militärische Hilfe für die Ukraine koordiniert, dazu verpflichten, die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine durch umfangreiche Waffenlieferungen und Ausbildungsprogramme zu garantieren. Darüber hinaus könnten die USA der Ukraine den Status eines major non-NATO ally (MNNA) verleihen, den gegenwärtig 19 Staaten u.a. Israel genießen, und so eine besondere Verbundenheit signalisieren. Zusätzlich würde die Koalition westlicher Staaten im Fall einer abermaligen russischen Aggression Sanktionen automatisch wieder in Kraft setzen (ähnlich auch Lise Morjé Howard und Michael O’Hanlon, Foreign Affairs).
Wie ist dieser Vorschlag zu bewerten? Er ist von seinen Initiatoren vermutlich vor dem Hintergrund gedacht worden, dass der Krieg mit einem Kompromiss endet. In diesem Fall überzeugt er mehr als andere. Die Gefahr des entrapment bliebe gering. Dennoch böte er auch Antworten auf die Angst vor abandonment. Die (Rest-)Ukraine bliebe aber bei der Verteidigung auf sich gestellt, würde allerdings politisch-institutionell über die EU-Beitrittsperspektive und andere Arrangements eng mit dem Westen verkoppelt. Zudem genösse sie die verlässliche und sichtbare Unterstützung westlicher Staaten. Ihre Fähigkeit zur Abschreckung und Verteidigung wäre weit robuster als Anfang 2022; und das Signal an Moskau, dass ein abermaliger Krieg nicht lohnt, wäre ungleich deutlicher. Wenn man zudem in Rechnung stellt, dass Putins Entscheidung zur Aggression auch auf der (falschen) Annahme beruhte, der Krieg sei schnell zu gewinnen, wird die abschreckende Wirkung dieses Arrangements deutlich. Allerdings bliebe die Ukraine in einem Zwischenraum. Russische Phantasien, das imperiale Projekt hätte doch noch Chancen, wären weniger verlässlich gebannt als bei der NATO-Lösung. Und die Ukraine wäre weniger fest in westliche Institutionen eingebunden und kontrolliert.
Stationierung westlicher Truppen
Ein dritter Lösungsvorschlag liefe darauf hinaus, zusätzlich zu dauerhaften Waffenlieferungen Truppen von NATO-Staaten (unter Umständen als Teil eines internationalen Militärverbandes zur Überwachung des Waffenstillstandes) sowie Militärberater dauerhaft in der Ukraine zu stationieren und eine gegen russische Kampfjets gerichtete Flugverbotszone einzurichten. Dieser Vorschlag birgt gravierende Risiken. Insbesondere wenn der Krieg mit einem Waffenstillstand endet, ginge damit das große Risiko für die truppenstellenden Staaten und somit die NATO einher, automatisch in einen abermaligen Krieg verwickelt zu werden. Er würde aber die Wahrscheinlichkeit eines solchen Krieges kaum minimieren können. Denn dieses Arrangement würde an Moskau das Signal senden, dass die westliche Verpflichtung für die Sicherheit der Ukraine brüchig ist (oder brüchiger als bei einem NATO-Beitritt). Und es würde gegenüber Kiew signalisieren, dass die Ukraine in einem Zwischenstatus verbleibt. Entsprechend geringer wäre eine westliche Kontrolle ukrainischer Sicherheitspolitik, entsprechend größer die Verlockung für ukrainische Akteure, ein als ungerecht empfundenes Nachkriegsarrangement in Frage zu stellen.
Arrangements, die russische Interessen berücksichtigen
Ein vierter Vorschlag zielt schließlich darauf ab, Sicherheitsgarantien für die Ukraine mit dem Angebot an Moskau zu koppeln, dann wieder eine Perspektive auf Zusammenarbeit zu eröffnen, wenn ein Nachfolgeregime sich vom aggressiven Kurs Putins abwendet. In einigen Varianten sieht auch dieser Vorschlag zunächst die Stationierung von NATO-Truppen in der Ukraine vor, u.a. als „tripwire to prevent fresh Russian aggression“, lehnt aber die Aufnahme der Ukraine in die NATO als zu provokativ und die Chance auf Zusammenarbeit mit Moskau störend ab. In ähnliche Richtung argumentiert Johannes Varwick. Er sieht das Dilemma, dass Sicherheitsgarantien einerseits für die Ukraine akzeptabel sein müssten, andererseits nicht als „NATO-Beitritt durch die Hintertür“ erscheinen dürfen und sucht nach einem Sicherheitsarrangement, das auch für Russland akzeptabel ist.
Auf den ersten Blick erscheint dieser Vorschlag empörend. Denn warum sollte eine Nachkriegsordnung die Sicherheitsinteressen des Aggressors in Rechnung stellen? Auf einen zweiten Blick wird sich dieser Vorschlag in der Substanz möglicherweise als unumgänglich erweisen. Dann nämlich, wenn der Krieg mit einem politischen und territorialen Kompromiss ähnlich wie dem in Istanbul angedachten endet. Wenn dieser Kompromiss für die Krim und möglicherweise auch die selbst erklärten Volksrepubliken einen Sonderstatus vorsieht, kämen womöglich Institutionen wie die Vereinten Nationen oder die OSZE zur Absicherung dieses Status ins Spiel. Eine formale Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO bliebe ausgeschlossen. Auch dieser Vorschlag würde erhebliche Risiken in sich bergen. Denn wenn westliche Truppen in der Ukraine stationiert würden, ob auf bilateraler Basis oder im Rahmen der OSZE, entstünde das Risiko des entrapment, das durch Abschreckung und eine Reduzierung der Kriegswahrscheinlichkeit nicht ausgeglichen würde. Hoch und in den politischen Folgen brisant bliebe auch die ukrainische Angst vor abandonment. Die Stabilität dieses Arrangements beruhte also vor allem auf der trügerischen Hoffnung, dass sich beide Seiten mit dem ungeliebten Kompromiss auf Dauer arrangieren.
Sicherheitsgarantien durch EU-Mitgliedschaft?
Ein fünfter Vorschlag stellt das Sicherheitsversprechen ins Zentrum, das mit der Verleihung des Kandidatenstatus und der in Aussicht gestellten Vollmitgliedschaft in der EU verknüpft ist. Zwar gilt die Beistandspflicht nach Artikel 42(7) EU-Vertrag erst mit dem formalen Beitritt. Allerdings garantiere die EU die Sicherheit von Beitrittskandidaten durch eine Reihe Mechanismen wie wirtschaftliche Unterstützung und die Förderung von Resilienz in kritischen Bereichen angefangen von der Cyber- bis zu Energiesicherheit.
Dieser Vorschlag überzeugt am wenigsten. Nicht überraschend sehen die meisten Beobachter in europäischen Zusagen auch nur ein flankierendes Element. Einem Beitrittskandidaten verspricht die EU wenig. Und der Weg der Ukraine hin zum Ziel der Vollmitgliedschaft ist im besten Fall lang. Im schlechteren Fall könnte er sich als das Ziel entpuppen. Tatsächlich zeichnete sich die Politik der EU gegenüber der Ukraine seit den 1990er Jahren trotz der Umbrüche der Orangenen Revolution, des Maidan und der Krim-Annexion durch erstaunliche Kontinuität aus. Es ging nicht darum, die Ukraine als Vollmitglied dabei zu haben, sondern sie mit Hilfe alternativer institutioneller Arrangements wie der östlichen Partnerschaft lediglich an die EU zu binden. Und ob sich die Interessenlage der Altmitglieder ändert und ihre Zusage über den Krieg hinaus Bestand hat, wird sich zeigen. Und selbst wenn die Ukraine die Vollmitgliedschaft erlangt, blieben europäische Sicherheitsgarantien schwach. Dem Wortlaut nach steht zwar der Artikel 42(7) EUV in Nichts hinter dem Artikel 5 des NATO-Vertrages zurück. Weil aber die EU über keine Zuständigkeiten, Kompetenzen und institutionellen Vorkehrungen im Bereich der kollektiven Verteidigung verfügt, ist ihr Beistandsversprechen materiell nicht unterlegt und entsprechend wenig glaubwürdig.
Zusammenfassend zeigt dieser kurze Überblick, dass der künftige Platz der Ukraine in der europäischen Sicherheitsordnung vom Ausgang des Krieges abhängt. Dennoch muss die Diskussion geführt werden und wird sie bereits geführt. Alle fünf Optionen weisen eine Reihe von Vorteilen und Risiken auf. Dennoch schneiden einige besser ab als andere und können die Ukraine und der Westen in dieser Frage viel falsch machen. Bei der NATO-Option ist der Beitrittsprozess riskant, und erst der Endzustand der akzeptierten Trennung verspricht Stabilität. Der Security Compact schafft Garantien für die Ukraine und ein geringeres Risiko der Verwicklung für die NATO-Mitglieder. Die Optionen dazwischen bergen höhere Risiken.
Teil I dieser Analyse ist am 5. Juni 2023 auf dem PRIF Blog erschienen.