Image shows a meeting between Biden, Putin, Blinken and Lawrow as well as two translators. They are sitting in front of a wall of bookshelves and the US and Russian flags.
Es geht nicht nur um Verhandlungen, sondern zuallererst um Gespräche zwischen den Großmächten. | Photo: The White House via flickr | Public Domain

Die Quadratur des Kreises: Friedensverhandlungen unter Feinden

Acht Monate dauert der Krieg bereits an, den Russland gegen die Ukraine führt, und immer noch sind wir weit von Friedensverhandlungen entfernt. Unmöglich und unerwünscht seien Verhandlungen, hört man in der öffentlichen Debatte. Nicht alle Argumente gegen Verhandlungen sind aber gleichermaßen stichhaltig und zu oft wird übersehen, dass es nicht nur um Verhandlungen geht und nicht nur zwischen den Kontrahenten, sondern zuallererst um Gespräche und zwar zwischen den Großmächten, die indirekt und direkt an diesem Konflikt beteiligt sind.

Die Argumente gegen Verhandlungen mit Russland lauten, dass diese weder möglich sind noch wünschenswert. Möglich seien sie nicht, weil die russische Föderation kein Interesse an Verhandlungen habe oder sie Maximalziele verfolge, die gar keine Verhandlungen zuließen, weil sie auf die definitive Unterwerfung der Ukraine bis zu deren Auslöschung als unabhängigem Staat zielten. Wünschenswert seien Verhandlungen nicht, weil damit in moralischer Hinsicht ein verbrecherisches Regime für seine Gräueltaten, die es in Butcha, in Mariupol und so vielen anderen Orten der Ukraine begangen hat, noch belohnt würde. In strategischer Perspektive wird darüber hinaus vermutet, dass Russland Verhandlungen nur als eine Atempause nutzen würde, um seine Reserven wieder aufzufüllen und den nächsten Angriff zu beginnen, Russland mithin gar kein glaubwürdiger Verhandlungspartner sei. Schließlich werden auch historische Analogien angeführt, negative, wie das Appeasement gegenüber Hitler in München 1938 oder aber positive zur Abwendung eines Nuklearkriegs in der Kubakrise von 1962, um deutlich zu machen, dass gegenüber einem Aggressor wie Putin nur maximale Härte und Entschlossenheit gefragt seien, um ihn von weiteren Angriffen abzuhalten. All das zusammengenommen scheint es kaum ratsam, Verhandlungen überhaupt ernsthaft ins Auge zu fassen. Allerdings sind die angeführten Argumente weit weniger stichhaltig als sie auf den ersten Blick scheinen mögen. Sie zeichnen einerseits ein Bild von Verhandlungen, dass es so in der Realität, zumal im Krieg, kaum jemals gibt und sie nutzen andererseits problematische Analogien, die bei näherer Betrachtung in andere Richtungen weisen als die angenommenen.

Verhandlungen unter Feinden

Krieg ist die massivste Form der Konfrontation zwischen Akteuren, weil das Überleben beider Seiten zur Disposition gestellt wird. Wenn die Schwelle zur systematischen Gewaltanwendung erst einmal überschritten ist, zerfallen die letzten Reste von wechselseitigem Vertrauen, das sich vielleicht noch in der heraufziehenden Krise bewahrt hatte. Dem Feind wird alles und vor allem nur das Schlimmste zugetraut und deshalb werden Kompromisse zur Lösung des Konflikts zusehends als unmöglich bewertet. Und dabei ist es letztlich egal, wer Schuld an einem Konflikt trägt oder Schuld in ihm auf sich lädt, diese Dynamiken wirken in beide Richtungen: Dennoch endet die Mehrheit der Kriege mit Verhandlungen, nicht immer sofort, nicht immer nachhaltig, doch Verhandlungen spielen eine zentrale Rolle in der Beendigung von Konflikten.

Das liegt nicht zuletzt daran, dass viele Kriege nicht in einer klaren Niederlage gipfeln, sondern sich eher festfahren, weil die Gegner in etwa gleich stark sind oder durch die Art der Kriegsführung (asymmetrischer Krieg) oder durch Unterstützung von Dritten in eine solche Situation kommen. Dann wird ein Stellungskrieg wahrscheinlich, indem sich die Frontlinien kaum mehr verschieben, aber Mensch und Material verschlissen werden. Je länger eine solche Situation anhält, desto schmerzhafter und kostspieliger wird der Krieg für beide Seiten und desto attraktiver werden Verhandlungen trotz allen Misstrauens und Unversöhnlichkeit. Das ist der so genannte Reifepunkt von Konflikten, indem erfolgreiche Verhandlungen eher wahrscheinlich sind, weil beide Seiten ein genuines Eigeninteresse an einem Kompromiss haben. Das heißt aber auch, dass Verhandlungen nicht von Vertrauen der beiden Seiten ineinander ausgehen, sondern ihr fernes Ergebnis ist eventuell der Aufbau von sehr dünnem Vertrauen. Sie starten auch nicht mit weitgehenden Zugeständnissen an den jeweils anderen, sondern in der Regel mit Maximalzielen, denn beide Seiten versuchen soweit möglich, ihre Ziele auch in Verhandlungen durchzusetzen. Je nachdem, wie stark die Verhandlungsposition, die Unterstützung und nicht zuletzt das Verhandlungsgeschick, desto eher wird ihnen das gelingen. Maximalforderungen werden immer auf den Tisch gelegt und rote Linien gezogen, damit man nicht frühzeitig Verhandlungsmasse aus der Hand gibt. Schließlich sind Maximalforderungen auch deshalb typisch, weil die jeweilige Unterstützerbasis nicht verprellt werden darf. Wer Krieg führt, muss Unterstützung mobilisieren: Freiwillige, die in den Krieg ziehen, Rüstungsanstrengungen der Wirtschaft, externe Ressourcen. Wer dann öffentlich die Ziele, mit denen er mobilisiert hat, zurücknimmt, droht ins Hintertreffen zu geraten, weil sich viele Unterstützer abwenden und die Mobilisierung nachlässt oder die jeweiligen Anführer ihr politisches Überleben riskieren. Auch während der Verhandlungen hört der Krieg ja nicht auf und das Geschehen im Feld beeinflusst die Verhandlungen, d.h. die Möglichkeiten Zugeständnisse zu fordern oder aber die Notwendigkeit, welche geben zu müssen.

Selbst das Ergebnis von Verhandlungen steht unter diesem Vorbehalt. Gerade weil Gesellschaften einander in und direkt nach Kriegen unversöhnlich gegenüberstehen, muss der eigenen Seite vermittelt werden können, dass man keine unangemessenen Zugeständnisse an den Gegner gemacht, sondern zentrale Ziele erreicht hat, denn sonst drohen die Ergebnisse keinen Bestand zu haben, weil sich die jeweiligen Adressaten nicht daran gebunden fühlen oder Verhandlungsführer entfernen. Auch dann bleibt das Problem, wie sichergestellt werden kann, dass beide Seiten die Vereinbarung auch ernsthaft umsetzen. Erfolgreiche Verhandlungsprozesse sind häufig von einiger Dauer und auch mit Rückschritten und vielen Verhandlungsschleifen versehen. Darum werden teils Dritte eingeschaltet, die die Verhandlungen begleiten und die Einhaltung überwachen oder unterstützen, wie etwa die Vereinten Nationen oder auch regionale Organisationen.

Erfolgreiche Verhandlungen unter Feinden gleichen deshalb immer einer Quadratur des Kreises: Zugeständnisse dürfen erst gar nicht artikuliert werden, um die eigene Position nicht zu schwächen, und im Ergebnis müssen sie sich als mindestens Teilsieg verkaufen lassen, um ihren Bestand und das (politische) Überleben des jeweiligen Verhandlungsführers zu gewährleisten. Die so verrufene Gesichtswahrung gilt daher immer auch für beide Seiten.

Verhandlungen und Gespräche

Nimmt man all das zusammen, dann ist die Zeit für Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland wahrlich nicht günstig. Das Kriegsgeschehen ist noch immer dynamisch. Beide Seiten rechnen sich noch oder wieder Chancen aus, den Krieg militärisch für sich zu entscheiden. Ein Reifungspunkt ist gegenwärtig nicht zu erkennen. Die Ukraine erzielt seit Wochen Geländegewinne, Selenskij hat inzwischen sogar ein Dekret unterzeichnet, das Verhandlungen mit Putin ausschließt. Russland wiederum hat auf die Erfolge der ukrainischen Streitkräfte mit Teilmobilmachung, widerrechtlicher Annexion der besetzten Gebiete, nuklearen Drohungen und Bombardements auf kritische Infrastrukturen reagiert. Nichtsdestoweniger lassen sich auch Signale für eine mögliche, wenngleich sehr schwache Öffnung gegenüber Verhandlungen erkennen. Parallel zur Teilmobilmachung hat Putin dem größten Gefangenenaustausch bislang zugestimmt und dabei auch etliche Asowstahlkämpfer freigelassen, die für die russische Propaganda von enormer Bedeutung sind. Er hat jüngst mehrfach geäußert, kein Interesse an einer weiteren Eskalation zu haben und er folgt nicht der Linie der Hardliner in seinen Reihen, die eine nukleare Strategie in der Ukraine fordern. Auch die widerrechtliche Annexion muss nicht als reine Eskalation gelesen werden, sie könnte auch eine Strategie sein, schon jetzt mehr Verhandlungsmasse zu erzeugen, um die eigene Position zu stärken. Nichts davon muss genau so sein, aber es sind winzige irritierende Signale, die genau beobachtet und nicht wegen eines letztlich auch historisch nicht haltbaren Zwangs zur Stärke ignoriert werden sollten.

Historische Analogien

Gemeinhin wird auf historische Analogien wie das fehlgeleitete Appeasement gegenüber Hitler oder aber die glücklich ausgegangene Kubakrise verwiesen, um zu argumentieren, dass nur Stärke und Entschlossenheit gegen Putin helfen werden, Frieden wiederherzustellen und zu sichern in der Ukraine, in Europa und mit Blick auf China auch global. Aber diese Analogien sind eher ambivalent. In einem instruktiven Essay hat Christopher Daase jüngst in der APuZ dargelegt, dass neue Archivveröffentlichungen zeigen, dass die Kubakrise nicht durch größtmögliche Härte gelöst wurde, sondern durch einen schmerzhaften Kompromiss zwischen beiden Seiten, weil sie gewahr wurden, dass Stärke sie in die nukleare Katastrophe treiben würde. In dieser Situation war es die persönliche Kommunikation zwischen den beiden Präsidenten trotz teils anderslautender Ratschläge ihrer Berater, die eine Deeskalation anstieß und letztlich einem vertraulichen Kompromiss den Weg bahnte, der beiden Seiten erlaubte ihr Gesicht zu wahren: Den USA, die sagen konnten, sie hätten die russischen Versuche abgewehrt, Nuklearwaffen auf Kuba zu stationieren; und Russland, das sicherstellen konnte, dass endlich die US-amerikanischen Jupiterraketen aus der Türkei abgezogen wurden. In der Folge dieser Krise entwickelte sich ein kommunikativer Rahmen zwischen den Feinden, der die Detente mitermöglichte und eine Politik der Parität statt der Dominanz entwickelte, die mithin nicht länger den Sieg, sondern die Stabilität der Ordnung als Zielvorgabe hatte.

Auch heute ist dieser kommunikative Rahmen vonnöten, denn trotz aller Unterschiede erleben wir wieder eine Eskalationsdynamik, in der beide Seiten mit großem Misstrauen auf die Äußerungen und Handlungen des Gegenübers blicken: Darum sind Gespräche, nicht Verhandlungen, momentan wichtig, auch und gerade zwischen Russland und den USA. Kommunikation hilft, Missverständnissen zwischen nuklearen Großmächten vorzubeugen, sie kann Positionen zu klären und Verfahren der Deeskalation zu beleben, indem sie etwa dazu beiträgt, dass beide Seiten sich einigen, welche Handlungen strikt zu unterlassen sind und an welchen Punkten man sofort Kontakt aufnimmt. Im Idealfall können solche Gespräche sogar dazu beitragen, Korridore für mögliche Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zu entwickeln, wenn es nämlich gelingt, die Konfliktfelder, die die beiden Kontrahenten betreffen von jenen zu trennen, die das Verhältnis der Großmächte belasten.

Bleibt noch das Argument, Verhandlungen seien schon deshalb abzulehnen, weil Russland seit Beginn und andauernd Kriegsverbrechen und Gräueltaten in der Ukraine zu verantworten hat wie auch der Krieg als solcher ein geächteter Angriffskrieg ist. Die rechtliche und auch die moralische Einschätzung ist völlig zutreffend, aber sie hilft wenig in der Beendigung eines Krieges. Die internationale Politk kann anders als die nationalstaatliche nicht auf ein integriertes Rechtssystem mit Strafverfolgungsbehörden und Polizeien zurückgreifen. Die Staatengemeinschaft ist, vor allem dann, wenn die Akteure erst einmal zur Gewalt gegriffen haben, auf dezentrale Rechtsdurchsetzung durch ökonomische und politische (Sanktionen) sowie als ultima ratio auf militärische Zwangsmaßnahmen (gewaltsame Intervention) angewiesen. Dieses Problem verschärft sich, wenn Großmächte, nuklear bewaffnete zumal, eine der Kriegsparteien sind und auch über Vetomacht im UN-Sicherheitsrat verfügen, weil dann militärische Optionen nur noch sehr eingeschränkt gangbar sind. In einer solche Konstellation sind, trotz aller Schuld und gerechtfertigten Verurteilung, Verhandlungen eines der wesentlichen Mittel zur Konfliktbeilegung, denn nukleare Großmächte ziehen sich eher zurück, sie verhandeln, aber sie kapitulieren nicht.

Nichts von dem vorangestellten ist darauf angelegt, der Ukraine vorzuschreiben, worüber und mit wem oder wann sie verhandeln soll. Es geht nur darum, nicht aus den falschen Gründen Verhandlungen und Gesprächen generell den Weg abzuschneiden, bevor sie überhaupt begonnen haben.

Eine kürzere Fassung dieses Textes ist bereits am 20. Oktober 2022 in der Süddeutschen Zeitung erschienen.

Nicole Deitelhoff
Prof. Dr. Nicole Deitelhoff ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der HSFK und Leiterin der Programmbereiche „Internationale Institutionen“ und „Transnationale Politik“. Sie forscht zu Kontestation und Krisen von Institutionen und Normen, politischer Herrschaft, Opposition und Dissidenz sowie Demokratie und Zusammenhalt. // Prof. Dr. Nicole Deitelhoff is Executive Director at PRIF and head of PRIF’s research departments “International Institutions” and “Transnational Politics”. She conducts research on contestation and crises of international institutions and norms, political order, opposition and dissidence, democracy and societal cohesion. | Twitter: @ndeitelhoff

Nicole Deitelhoff

Prof. Dr. Nicole Deitelhoff ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der HSFK und Leiterin der Programmbereiche „Internationale Institutionen“ und „Transnationale Politik“. Sie forscht zu Kontestation und Krisen von Institutionen und Normen, politischer Herrschaft, Opposition und Dissidenz sowie Demokratie und Zusammenhalt. // Prof. Dr. Nicole Deitelhoff is Executive Director at PRIF and head of PRIF’s research departments “International Institutions” and “Transnational Politics”. She conducts research on contestation and crises of international institutions and norms, political order, opposition and dissidence, democracy and societal cohesion. | Twitter: @ndeitelhoff

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