Man kommt um den Frieden nicht herum, wenn man sich mit dem Krieg auseinandersetzt. Das ist vor allem mit Blick auf die wenig produktive Polarisierung zwischen sogenannten „Kriegstreibern“ und „Friedensträumern“ in der bundesrepublikanischen Diskurslandschaft notwendig. Die Polarisierung engt den Diskurs auf Sicherheit und Kriegstüchtigkeit ein. „Sicherheit“ und „Frieden“ schließen einander aber nicht aus. Wir plädieren entsprechend für ein „Mehr“ in den öffentlichen Debatten über den Ukraine-Krieg, das den Friedensbegriff wieder ins Zentrum der Debatten um eine zukünftige europäische Ordnung stellt. Kurzum: Politik und Wissenschaft müssen gerade in den Debatten über den Krieg auch mehr über den Frieden nachdenken.
Vor der Zukunft des Friedens liegt die Gegenwart des Krieges. Müssen wir den Krieg verstehen, bevor wir uns dem Frieden zuwenden? Das scheint logisch. Aber ist es auch praktisch? Welchen Krieg müssen wir verstehen – „den“ Krieg an sich als Erscheinungsform menschlichen Tuns, oder einen speziellen Krieg, der Anlass bietet, diese Fragen zu stellen? Natürlich beides. Der Versuch, genau das mit Blick auf den Ukraine-Krieg zu tun, zeigt, dass unser Verständnis des Krieges als solchem in unser Verständnis dessen eingeht, wie mit dem Ukraine-Konflikt umzugehen sei. Grob vereinfacht: Die Realisten setzen in Erwartung weiterer Kriege auf Stärkung der Kriegstüchtigkeit als Voraussetzung für Verhandlungen; die Pazifisten auf Verhandlungen als bedingungslose Alternative zu einer erneuten weltweiten Aufrüstung und immer neuen Kriegen; die populistischen Darwinisten auf die Ausnutzung der sich ausbreitenden Verwirrung für die Stärkung ihrer innenpolitischen Durchsetzungsfähigkeit.
Was ist zu tun? Wir plädieren für ein vertieftes Nachdenken über uns selbst als Zeitzeugen*innen des Krieges anstelle von noch mehr opportunistischem Geschrei. Das bedeutet aus unserer Sicht: Auch und gerade in Zeiten immer neuer Kriege müssen wir über Friedensperspektiven nachdenken und den Begriff des „Friedens“ damit in den Debatten über den Krieg wieder stärker reflektieren – um ihn jenen Wortführern streitig zu machen, die den Friedensbegriff für die eigene Politik zu instrumentalisieren suchen. Wir sind uns der Berechtigung des Einwandes bewusst, dass die Zeit für solches Nachdenken knapp ist und zu einem endlosen Hin und Her im Streit um die Logik des Krieges und die Logik des Friedens führen kann. Aber wir sehen nichts Besseres, das man gegenwärtig tun sollte oder kann.
Frieden denken in Zeiten des Krieges
Spätestens mit der Invasion der Ukraine durch russische Truppen vor nun fast drei Jahren ist die Gegenwart des Krieges auch in Europa (erneut) sichtbar geworden. Obwohl es schon seit den 1990er Jahren durchaus Anzeichen einer imperialistischen Ausrichtung der russischen Außenpolitik gab, hat der 24. Februar 2022 große Teile der deutschen Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit völlig unvorbereitet getroffen. Darauf verweist nicht zuletzt die „Zeitenwende“-Rede von Olaf Scholz vom 27. Februar 2022. In ihr stellte der Bundeskanzler bekanntlich eine radikale Neuausrichtung der deutschen Verteidigungspolitik in Aussicht: „Wir werden deutlich mehr investieren müssen in die Sicherheit unseres Landes, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen“, so Scholz.
Wie es um die von Scholz so genannte Zeitenwende drei Jahre später bestellt ist und welche politischen Implikationen sie im Konkreten hat, ist umstritten. Die rhetorische Figur der „Zeitenwende“ verweist auf eine diskursive Polarisierung in den bundesrepublikanischen Debatten, die mit einem „neuen“ Streben nach Verteidigungs- (also Kriegs-)Tüchtigkeit auf der einen Seite, dem Vorwurf sich damit der Logik des Krieges zu verschreiben auf der anderen, verbunden ist. Dabei scheinen sowohl in den öffentlichen als auch in den wissenschaftlichen Debatten die Ausrichtung des Denkens und Handelns in Richtung einer Agenda für Frieden wie auch der Begriff des „Friedens“ selbst nahezu vollständig aus dem Blickfeld verschwunden zu sein. Das mag unter dem Eindruck des Kriegsgeschehens erklärbar sein. Denn einerseits wäre man mit Blick auf den Gazakrieg, den Krieg im Sudan oder in Myanmar ja schon froh, wenn es zu einem Waffenstillstand käme. Andererseits: Will man der Ukraine in ihrer völkerrechtlich verbrieften Selbstverteidigung beiseite stehen, muss man sie dazu politisch, ökonomisch und auch militärisch befähigen. Das Recht auf Selbstverteidigung eines jeden souveränen Staates nach Art. 51 der UN-Charta bliebe sonst ein Papiertiger.
Es geht dabei um die Sicherheit der Ukraine ebenso wie um unsere eigene. Soll dies jedoch nicht eine allzeit bedrohte Sicherheit sein, verlangt Sicherheitspolitik nach immer neuen Anstrengungen zur Erhaltung und zum Ausbau von „Kriegstüchtigkeit“. Das ist die Tragik der Sicherheitspolitik: Soweit es mit Aufrüstung verbunden ist, schafft das Streben nach Sicherheit immer neue Unsicherheiten.
Es besteht ja auch weitgehend Übereinstimmung darin, dass es bei einer ständigen Fortschreibung der Waffenlieferungen an die Ukraine nicht bleiben kann. Jetzt und nicht später muss über einen Ausweg aus der gegenwärtigen Gewaltspirale nachgedacht werden – und damit über Friedensperspektiven im Krieg. Denn die Abwesenheit des „Friedens“ in der Sicherheitspolitik macht diese Politik perspektivlos und damit anfällig für deren Umkippen in neue Rüstungswettläufe.
Die wenig produktive Polarisierung zwischen „Kriegstreibern“ und „Friedensträumern“ in der bundesrepublikanischen Diskurslandschaft hat es in der Tat möglich gemacht, dass das Thema Frieden von populistischen Parteien wie AfD und BSW gekapert wird, worauf Nicole Deitelhoff und Christopher Daase jüngst in ihrem Beitrag für den Spiegel (28.12.2024) aufmerksam gemacht haben. Für Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft gilt es daher, den Friedensbegriff wieder ins Zentrum der Debatten um eine zukünftige europäische Ordnung zu stellen. Kurzum: Politik und Wissenschaft müssen wieder mehr Frieden wagen!
Kriege verstehen oder den Frieden denken?! Über einen Scheinwiderspruch
In einer Zeit des Krieges mag es müßig – oder naiv – erscheinen, über den Frieden nachzudenken: Ist es nicht „wichtiger, den Krieg zu verstehen, als sich darüber zu streiten, was Friede ist oder sein soll?“ (Brock 2002: 95) Dafür plädieren „(Neo-)Realisten“ in der Lehre der Internationalen Beziehungen. Der derzeit wohl gefragteste unter ihnen, Carlo Masala, analysiert in seinem neuen Buch (im Rückgriff auf den Neorealismus à la Kenneth Waltz) Kriege als unaufhebbares Kennzeichen der internationalen Politik und sucht damit die Frage zu beantworten, „warum die Welt keinen Frieden findet.“ Masala schließt sein Buch mit dem Plädoyer, wer den Frieden wolle, müsse mit dem Krieg nicht nur rechnen, sondern sich auch auf ihn vorbereiten (getreu dem alten römischen Sprichwort si vis pacem, para bellum). Kann und muss der Frieden da außen vor bleiben, weil er sich bei hinreichender Kriegstüchtigkeit von selbst einstellt?
Den Krieg zu verstehen, ist seit jeher eine zentrale Aufgabe der Friedens- und Konfliktforschung vor allem als Teil des Lehr- und Forschungsfeldes der Internationalen Beziehungen (IB). Die Beschäftigung mit Krieg oder Frieden verweist aber nur scheinbar auf eine Alternative. Um Frieden erreichen zu können, muss man den Krieg verstehen – aber nicht um ihn zu optimieren, sondern um ihn als soziale Institution zu überwinden. Dazu hat die Friedensforschung einiges beigetragen. Dass Immanuel Kant vor allem in der deutschen Friedensforschung dabei ein zentraler Ausgangspunkt war und ist, dürfte dem Dialog mit den Realisten nicht schaden, weil gerade das nüchterne Menschenbild Kants ebenso wie seine Skepsis gegenüber einem Weltstaat als Lösung aller Probleme gerade auch für Realisten interessant ist.
Hier sei daran erinnert, dass Kant vor dem Erfahrungshorizont der Französischen Revolution und der von ihr ausgehenden Kriege Frieden nicht als Sieg von irgendjemandem über irgendjemand verstanden hat sondern als historischen, nicht-linearen Prozess (wie wir heute sagen würden), in dem der Friede immer wieder neu gestiftet werden muss. Dabei ging es Kant nicht nur um die Beendigung einzelner Kriege, sondern um die Annäherung an eine Welt ohne Krieg als heuristischer Rahmen für die fortschreitende Kritik des Krieges.
Eine solche Perspektive scheint heute angesichts der jüngeren Zeitenwenden und der Renaissance des Realismus aus der Zeit gefallen zu sein: unrealistisch – im besten Falle naiv. Ein Clou von Kants Friedenstheorie ist aber Krieg und Frieden nicht nur unter tagespolitischen Gesichtspunkten zu sehen, sondern die Einbeziehung großer historischer Zusammenhänge zu fördern, wie wir sie derzeit erleben. Es kommt mit anderen Worten darauf an, bei der Auseinandersetzung mit Krieg und Frieden mikrohistorisch überprüfbare Annahmen mit makrohistorischen Perspektiven auf die Einhegung von Gewalt zu verbinden. Das hat den Vorteil, lange historische Entwicklungen in die Theoriebildung einbeziehen zu können. Friedensforschung muss in diesem Sinne sensibel sein für die historischen Kontexte aktueller Konflikte, also für Kontingenzen, Kontinuitäten und Brüche im Umgang mit Konflikten. Denn der nun allseits beschworenen Zeitenwende sind bei genauerer und historisch breiterer Betrachtung viele Zeitenwenden vorausgegangen – ebenso wie lange Phasen des Friedens. Es ist also in Wissenschaft und Politik gerade in Zeiten des Krieges geboten, sich an der normativen Vorgabe einer Einhegung des Krieges als sozialer Institution zu orientieren
Frieden als Prozess: Von der Koexistenz zur Ordnungsbildung
Hieraus folgt die Notwendigkeit, dass sich Friedensstrategien an kontingente Herausforderungen anpassen müssen, ohne das Ziel einer umfassenden Ordnung der internationalen Beziehungen aus den Augen zu verlieren. Aus unserer Sicht muss es dabei heute wie in der Zukunft um zweierlei gehen: um die Beendigung einzelner Kriege wie jenem in der Ukraine, im Nahen Osten, im Sudan, und um die Stärkung der Institutionen und Verfahrensweisen, die einer verständigungsorientierten Bearbeitung von Konflikten dienen.
Die Arbeit am Frieden bedeutet damit aber auch, sich mit Halbheiten zufrieden geben zu müssen so wie das mit der deutschen Teilung am Ende des Zweiten Weltkrieges der Fall war. Sie machte den Frieden zu einer Zumutung für große Teile der deutschen Bevölkerung, war aber die Grundlage für eine lange Phase des Nichtkrieges oder der wiederholten Vermeidung von Beinahe-Kriegen. Im Kontext des Krieges in der Ukraine kann das bedeuten, dass selbst eine von Donald Trump geförderte Beendigung des Krieges einen Friedensprozess in Gang setzen kann, den Ernst-Otto Czempiel in die Formel „abnehmende Gewalt und zunehmende Gerechtigkeit“ gekleidet hat. Diese Formel klingt aus heutiger Sicht zu schön um wahr zu sein, erfasst aber nach wie vor, worum es bei der Ingangsetzung von Friedensprozessen geht. Es gibt Anzeichen dafür, dass sich die ukrainische Regierung auf ein solches Szenario einlassen könnte. Das wird etwa im Erwartungsmanagement deutlich, dass Präsident Selenskyj betreibt, wenn er in Aussicht stellt, eine vorübergehende faktische Kontrolle ukrainischer Gebiete durch Russland zu dulden, wenn deren Rechtsstatus offenbliebe. Das wäre allerdings ein Weg, der nur durch verbindliche Sicherheitsgarantien von Drittstaaten geöffnet werden könnte.
Generell wäre zu untersuchen, inwieweit die Entspannungspolitik im Kalten Krieg bei allen Unterschieden der historischen Kontexte Lehren für die Gegenwart bieten kann. Die Entspannungspolitik beruhte auf dem Bekenntnis zur Koexistenz bei grundlegenden gesellschaftspolitischen Differenzen. Sie zielte nicht direkt auf die Überwindung des Kalten Krieges, sondern auf Annäherung, die mittel- oder langfristig einen Übergang von der Koexistenz zur Kooperation öffnen würde. In einem früheren Beitrag dieser Reihe plädieren Matthias Dembinski und Dirk Peters bezogen auf den Ukraine-Krieg für politische Abgrenzung als Friedensstrategie bei gleichzeitiger Akzeptanz der Grundregeln eines nicht-militärischen Umgangs mit Konflikten. Nicole Deitelhoff und Christopher Daase schlagen im oben angesprochenen Beitrag eine dreigliedrige Friedensstrategie vor, in der sich ebenfalls Elemente der Entspannungspolitik finden: In einem ersten Schritt, den sie als „antagonistische Friedenssicherung“ beschreiben, sollen Gespräche zu Abschreckung, Aufrüstung, Rüstungskontrolle und Allianzbildung angeboten werden, um Kommunikationskanäle zu öffnen und offen zu halten. Schon damit sollen auch Eskalationsspiralen vermieden werden. In einem zweiten Schritt könnte dann eine friedliche Koexistenz institutionalisiert und rechtlich abgesichert werden. Und in einem dritten Schritt ginge es um die Neuetablierung einer kooperativen Friedensordnung, unter der die Koexistenz zu neuen institutionalisierten Formen der substantiellen Kooperationen ausgebaut würde.
Der Beitrag von Daase und Deitelhoff im Spiegel verweist auf eine zentrale Frage, die sich aus einer prozessualen Friedensperspektive ergibt: Kommt Sicherheit vor Frieden oder bedürfen Schritte zu mehr Sicherheit einer friedenspolitischen Perspektive, die die Förderung von Sicherheit erst plausibel macht? Oder schließen sich die Ausrichtung auf Frieden und die Ausrichtung auf Sicherheit im Umgang mit Konflikten aus wie die Unterscheidung zwischen einer Logik des Friedens und einer Logik der Sicherheit nahezulegen scheint, die Hanne-Margret Birckenbach und Sabine Jaberg für die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung ausgearbeitet haben?
Frieden durch Selbstbindung: Verrechtlichung jenseits von Doppelstandards
Im Umgang mit diesen Fragen sollten wir uns womöglich auf eine dritte Ebene begeben: die des Denkens in zivilisatorischen Errungenschaften, die nicht aufgegeben werden dürfen. Dazu gehört zweifellos das völkerrechtliche Kriegsverbot der UN-Charta (Art. 2 Abs. 4). Diese Norm ist durch den Ukraine-Krieg genauso wenig verloren gegangen wie durch die anderen Kriege, die seit der Gründung der UN bzw. seit dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928 geführt worden sind. Putins anfängliche Bemühungen, den Krieg nicht Krieg nennen zu müssen und die Rechtfertigung der Waffengewalt als Verteidigung auszuweisen – genauso wie die Verurteilungen des Krieges und der territorialen Annexionen durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen – zeigen, dass die Norm des unilateralen Gewaltverbots nicht in Frage gestellt worden ist. Das verhindert den Krieg genauso wenig wie nationale Gesetze Mord und Totschlag verhindern. Insofern bietet die UN-Charta weiterhin einen normativen Bezugsrahmen für die Auseinandersetzung mit Krieg und Frieden. Ihn aufrecht zu halten und weiter auszubauen muss ein zentrales Anliegen der deutschen Außenpolitik bleiben. Dazu gehört, dass Doppelstandards im Umgang mit der UN-Charta und dem ihr zugeordneten Völkerrecht auch in den eigenen Reihen der liberalen Demokratien aufgearbeitet werden.
Wie wichtig hier eine kritische Selbstprüfung ist, wird mit Blick auf den Internationalen Strafgerichtshof deutlich. Als Putin wegen Kriegsverbrechen zur Fahndung ausgeschrieben wurde, fand das Gericht im Westen viel Beifall. Als Netanyahu zur Fahndung ausgeschrieben wurde, war die Empörung groß. Putins Angriffskrieg soll hier nicht mit der Reaktion der Netanyahu-Regierung auf den 7. Oktober 2023 gleichgesetzt werden. Es geht vielmehr darum zu begreifen, wie unterschiedlich die Wahrnehmung internationaler Rechtsakte je nach Kontext ist. Nicht nur in den USA, sondern auch in anderen Demokratien besteht die Neigung, die Selbstbindung anderer Staaten an das Recht zu unterstützen, sich selbst aber einer Ausweitung der Zuständigkeit des Völkerrechts zu verweigern. Aber auch das spricht dafür, das Völkerrecht gegen Versuche seiner Demontage – besonders gravierend jüngst in Donald Trumps Drohungen gegenüber Grönland, Kanada und Panama – zu verteidigen. Das geht nur, wenn man es selbst ernst nimmt. Das schließt ein, dass die Kritik an der Gewalt der anderen immer auch mit den eigenen Fehlleistungen rückgekoppelt wird. Das könnte zu einem “Mehr” im Umgang mit Konflikten beitragen.