Der Einmarsch Russlands in die Ukraine erschüttert erneut das Vertrauen in das Völkerrecht: Er stellt einen besonders schwerwiegenden Verstoß gegen das Gewaltverbot der UN-Charta dar. Das Gewaltverbot untersagt Staaten die einseitige Androhung und Anwendung militärischer Gewalt außer zu Zwecken der Selbstverteidigung bei einem bewaffneten Angriff (Art. 2, Abs. 4 in Verbindung mit Art. 51). Dieses Verbot hat Russland gebrochen. Versetzt das dem bereits mehrfach totgesagten völkerrechtlichen Gewaltverbot endgültig den Todesstoß?
Gewalt und Recht(fertigung): Ein Grundproblem der internationalen Beziehungen
Das Gewaltverbot hat den Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht verhindert. Das Verbot als solches hätte ihn aber auch nicht verhindern können. Das anzunehmen, liefe auf ein Missverständnis hinaus: Denn die Gültigkeit des Gewaltverbots als völkerrechtliche Norm bemisst sich nicht in erster Linie daran, ob es zu jeder Zeit befolgt wird. Zentral ist vielmehr seine Akzeptanz als verbindlicher Maßstab für die Beurteilung militärischer Gewaltanwendung. 2021 wurden in Deutschland mehr als 200 Morde registriert. Niemand würde aus diesen Rechtsbrüchen ernsthaft schlussfolgern, dass der Straftatbestand des Mordes nach §211 StGB damit seine Gültigkeit verloren hätte. Das ist für die Aufrechterhaltung des Rechts selbst wichtig, weil das Recht zur Freude seiner Feinde auch totgeredet werden kann.
Nun sind staatliches und zwischenstaatliches Recht aber nicht dasselbe. Die Durchsetzung des letzteren kann sich nicht wie in einem funktionierenden Staat auf ein „Monopol legitimer Gewaltsamkeit“ (Max Weber) stützen. Entscheidend ist das Votum des Sicherheitsrates, das letztlich immer von der Abstimmung der fünf Ständigen Mitglieder abhängt, die über ein Veto verfügen. Jede Entscheidung muss also konkurrierende politische Interessen berücksichtigen. Das Recht, das seine Legitimität aus dem Anspruch auf Überparteilichkeit bezieht, ist stets Objekt seiner Instrumentalisierung durch die miteinander im Streit liegenden Parteien.
Das wusste auch Immanuel Kant, der wohl wichtigste Vordenker des modernen Kriegsverbots. Er reagierte darauf mit einem vielschichten Friedensplan: Er konzipierte einen dauerhaften internationalen Rechtsfrieden nicht als Zustand, sondern als einen historischen Prozess, der immer wieder Rückschläge erfahren würde, ohne damit aber zum Erliegen zu kommen. Besondere Bedeutung maß Kant dabei internationalen Institutionen und der Öffentlichkeit zu. Beides waren für ihn kritische Instanzen, die die Anwendung von Gewalt in internationalen Konflikten skandalisieren und damit erschweren sollten. Das hat in der aus europäischer Perspektive so genannten „Nachkriegszeit“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus leidlich gut funktioniert: Ein großer Krieg zwischen Ost und West wurde vermieden (wenn auch nicht die Eskalation des Konflikts bis an den Rand eines mit Atomwaffen geführten Krieges in der Kuba-Krise). Kollektive Gewalt wurde weiterhin ausgeübt, aber überwiegend nicht als zwischenstaatliche, sondern als innerstaatliche Kriege mit internationaler Einmischung (was ihre Bedeutung für die Betroffenen nicht minderte).
War Kant also doch für die Katz?
Jetzt sind wir wieder mit einem zwischenstaatlichen Krieg konfrontiert, und zwar in jener Weltregion, von der im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege ausgingen. War Kant also doch für die Katz? Keineswegs! Selbst Putin sieht sich verpflichtet, seinen Krieg gegen die Ukraine unter Verweis auf das Völkerrecht zu rechtfertigen. Dabei kommt ihm zupass, dass der Westen im sogenannten Krieg gegen den Terror (Afghanistan 2001; Irak 2003) und bei Eingriffen in innerstaatliche Konflikte (Kosovo 1999) seinerseits die Anwendung von Gewalt mit völkerrechtlich fragwürdigen Argumenten gerechtfertigt hat. Umso schlimmer für das Völkerrecht?
Die russische Rechtfertigung des Krieges gegen die Ukraine wird nicht nur von den Nato-Staaten zurückgewiesen: 141 Staaten verurteilten Anfang März 2022 den russischen Angriffskrieg in der UN-Generalversammlung, und 143 Staaten haben dort im Oktober 2022 die Annexionen der ukrainischen Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson für ungültig erklärt. Davon, dass die russische Invasion das Ende des Gewaltverbots der UN-Charta bedeutet, kann also keine Rede sein. Vielmehr hat sich eine kritische Öffentlichkeit gegen den russischen Rechtsbruch gestellt, und das ist im gegenwärtig eskalierenden Kampf um internationale Gefolgschaft im Kontext globaler Machtverschiebungen höchst bedeutsam.
Nun haben sich aber fünfzig Staaten, darunter Indien Südafrika, Brasilien und Mexiko (ganz zu schweigen von China) der westlichen Sanktionspolitik gegen Russland nicht angeschlossen. Hier bestätigt sich, dass das Recht immer beides ist: normativer Bezugsrahmen für die Kritik und gleichzeitig für die Rechtfertigung von Gewalt. Beide sind unaufhebbar miteinander verbunden: Recht ist immer umkämpft. Wie die Normenforschung der vergangenen dreißig Jahre gezeigt hat, ist entscheidend, ob die generelle Geltung völkerrechtlicher Regelungen (also die Anerkennung ihrer Existenzberechtigung) oder ihre Anwendung (in einem konkreten Fall) Gegenstand des Streites ist. In diesem Streit wird heute mehr denn je allen Staaten abverlangt, die Grundsätze der UN-Charta entschieden zu verteidigen. Bei den sich bereits vollziehenden globalen Machtverschiebungen wird sich das als überlebenswichtig erweisen.
Eine kürzere Version dieses Textes unter dem Titel „Ist das Völkerrecht am Ende?“ ist am 28. November 2022 in der Frankfurter Rundschau erschienen.