Die Forderung nach breiterer Beteiligung von Opfervertreter*innen wurde bereits vor Jahren auf Berliner Straßen getragen. | Photo: flickr, Berlin Postkolonial. | CC BY-ND 2.0

Gut gemeint genügt nicht: Die Aussöhnung mit Namibia braucht die Zustimmung lokaler Opfergruppen

Seit Jahren hat Deutschland mit Namibia über ein Aussöhnungsabkommen verhandelt, das die kolonialen Gewalttaten an Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika als Völkermord anerkennt und eine Entschuldigung für das Verbrechen mit finanziellen Hilfen für Wiederaufbau und Entwicklung verbindet. Im Mai 2021 wurde das erfolgreiche Ende der Verhandlungen verkündet. Während die Regierungen beider Länder ihre Einigung als Meilenstein der Aufarbeitung sehen und bereits präsidiale Festakte planen, fallen die Reaktionen der namibischen Opposition kritisch aus. Dass nur wenige handverlesene Opfervertreter*innen in den Prozess einbezogen waren, sei praktizierte Apartheid. In der Tat ist fraglich, ob Versöhnung ohne einen inklusiveren Ansatz gelingen kann.

Lange Zeit war die Auseinandersetzung mit den deutschen Kolonialregimen ein rein geschichtswissenschaftliches Thema. Als im Vergleich mit anderen europäischen Mächten eher kurze Episode, waren die kolonialen Ambitionen des Deutschen Kaiserreichs im öffentlichen Bewusstsein in Deutschland kaum präsent. Gräueltaten, für die das Deutsche Reich in diesem Kontext verantwortlich war, verschwanden zudem in der kollektiven Erinnerung nach 1945 hinter den Verbrechen gegen die Menschheit1, die NS-Deutschland verübt hatte. Erst seit den 1980er Jahren wird die koloniale Gewalt aus dem Blickwinkel des Postkolonialismus breiter diskutiert als Teil einer global konstituierten Gewaltgeschichte der Moderne. Diese Weitung der Perspektive hat auch die Massaker, die deutsche Soldaten im damaligen Deutsch-Südwestafrika im Herero-Krieg (1904-1908) anrichteten, stärker ins Licht der Öffentlichkeit gerückt und zum Wandel im politischen Umgang mit dem „vergessenen Genozid“ beigetragen.

Anerkennung des Völkermords

Als Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul im Jahr 2004 bei den zentralen Gedenkfeiern zur Niederschlagung des Herero-Aufstands in Namibia sprach, benutzte sie als erstes deutsches Regierungsmitglied den Begriff des Völkermords für die Verbrechen, denen 100 Jahre zuvor geschätzte 80.000 Menschen verschiedener Ethnien zum Opfer gefallen waren. Was die Truppen des deutschen Kaiserreichs begangen haben, würde man heute als Völkermord bezeichnen, so die Ministerin, und sie bat „im Sinne des gemeinsamen ,Vaterunser‘ um Vergebung für unsere Schuld“. Wieczorek-Zeul betonte, dass Deutschland historisch und moralisch die Verantwortung übernähme und sich in der Entwicklungshilfe besonders stark für die einstige Kolonie engagieren würde. Von einer rechtlichen Anerkennung und möglichen restorative justice-Reparationszahlungen an Nachfahren der Opfer war indes keine Rede.

Bei dieser politischen Linie ist es geblieben: 2015 konnte der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier als Erfolg verbuchen, dass sein drei Jahre zuvor in den Bundestag eingebrachter Antrag auf Anerkennung des Völkermords zu einer politischen Leitlinie der Bundesregierung wurde: „Der Vernichtungskrieg in Namibia von 1904 bis 1908 war ein Kriegsverbrechen und Völkermord.“ Dieser Schritt erregte internationale Aufmerksamkeit und bildete zugleich den Auftakt für die langjährigen Verhandlungen zwischen deutscher und namibischer Regierung über mögliche Wiedergutmachungen für die kolonialen Verbrechen, v.a. in Zusammenhang mit der Niederschlagung des Herero-Aufstands. Während Nachfahren der historischen Opfergruppen wiederholt die Forderung erhoben, dass es dabei auch um finanzielle Hilfen für sie als die besonders Geschädigten gehen müsse, suchte die deutsche Seite nach einem Weg, die Verbrechen der Vergangenheit in ihrer Tragweite anzuerkennen, ohne daraus Rechtsansprüche und Präzedenzen erwachsen zu lassen. Der ehemalige deutsche Botschafter in Windhuk, Christian-Matthias Schlaga, brachte es damit auf den Punkt, dass „der Begriff des Genozids nur im ‘moralischen und politischen Sinne, aber nicht im rechtlichen Sinne‘ benutzt werden dürfe“. Reparationen seien ein ‘No-Go‘, da beim Gebrauch dieses Begriffs der Eindruck einer rechtlichen Verpflichtung entstehe. Stattdessen solle es ein freiwilliges Engagement geben (Zimmerer 2019). Beziffert wurde die „Geste der Anerkennung des unermesslichen Leids, das den Opfern zugefügt wurde“, vom Auswärtigen Amt im Mai 2021 mit insgesamt 1,1 Milliarden Euro für ein Programm zum Wiederaufbau und zur Entwicklung (gestreckt auf 30 Jahre)2. Bei dessen Gestaltung und Umsetzung würden die vom Völkermord betroffenen Gemeinschaften eine entscheidende Rolle einnehmen, gleichzeitig leite sich daraus jedoch kein Entschädigungsanspruch ab. 

Versöhnung ohne Reparationen?

Die deutsche Strategie, mit Namibia bewusst nur so zu verhandeln, dass keine rechtlichen Ansprüche auf Entschädigungen aus der Anerkennung des Völkermords resultieren würden, hat nicht nur seitens mancher lokaler Opfergruppenvertreter*innen Kritik hervorgerufen. Diese geht so weit, dass der Vorsitzende der OTA (Ovaherero Traditional Authority) Vekuii Rukoro ankündigte, Bundespräsident Steinmeier in Namibia ggf. einen peinlichen Empfang zu bescheren: Deutschland habe ein Abkommen geschlossen über den Genozid an Hereros und Namas, das ratifiziert wurde von einem Parlament aus Swapo3-Leuten und Ovambos, „die nichts über den Genozid wissen“ (FAZ). Während die Ovaherero Genocide Foundation und der Nama-Stammesführerverband NTLA (Nama Traditional Leaders Association), die an den Verhandlungen nicht beteiligt gewesen waren, im Mai 2021 in Windhuk gegen das Abkommen protestierten und mit einer Petition Reparationszahlungen und eine Rückgabe von Land forderten, das einst den Herero und Nama gehört hatte, gibt es völkerrechtliche Kritik auch am geschmeidigen Umgang mit den internationalen Rechtsnormen. Das European Center for Constitutional and Human Rights fällte in seiner Stellungnahme Anfang Juni ein vernichtendes Urteil über das im Mai 2021 für unterschriftsreif erklärte politische Abkommen: Der Verhandlungsprozess habe völkergewohnheitsrechtliche Beteiligungsrechte missachtet, die deutsche Regierung ruhe sich auf Gesten aus und entziehe sich jeglicher rechtlicher Verantwortung. Man wolle Hilfsprogramme anstoßen statt mit einer rechtlichen Anerkennung auf Augenhöhe oder der tatsächlichen Leistung von Reparationen eine echte und nachhaltige Versöhnung einzuleiten. Diese seien entsprechend der Prinzipien der Vereinten Nationen unabdingbar, um koloniale Verbrechen und Unrecht aufzuarbeiten und tragfähige Beziehungen für eine gemeinsame Zukunft zu schaffen.

Der angeführte Zusammenhang zwischen Versöhnung und finanziellen Leistungen als Zeichen eines ernst gemeinten Interesses an „Wiedergutmachung“ und nicht zuletzt als praktische Anerkennung von entstandenen materiellen Schäden ist eine Norm internationaler Politik, welche die besondere Aufmerksamkeit erklärt, die auf die Ergebnisse der deutsch-namibischen Verhandlungen gerichtet war. Dimensionen und Komplexität der kolonialen Gewalt und ihrer langfristigen Folgen dürften dabei ebenso eine Rolle spielen wie die Vielzahl der involvierten Staaten – auf Seiten der Kolonialmächte wie der kolonisierten.

Als Emmanuel Macron bei einer Afrika-Reise 2017 dazu aufrief, die Franko-Afrikanischen Beziehungen nicht länger durch die Linse des Kolonialismus zu sehen, lehnte auch er finanzielle Reparationen ab, denn das sei „total lächerlich“. Dabei bezeichnete er die Gewalttaten der europäischen Kolonialmächte als unbestreitbar, und schon 2001 hatte Frankreich den Sklavenhandel per Gesetz als crime contre l’humanité klassifiziert. In der Tat steht seit einigen Jahren zur Debatte, wie eine Gewaltgeschichte aus Jahrhunderten und ihre Langzeitfolgen kompensiert werden könnten. In den USA heißt das konkret, „Wie viel kosten 250 Jahre Sklaverei?“ – inklusive der daraus resultierenden strukturellen Ungleichheiten. Barack Obama befand als US-Präsident, Schaden und Wunden infolge der Sklaverei könnten durch Geld nicht ausgeglichen werden. Armut oder schlechtere Gesundheitsversorgung der afroamerikanischen Bevölkerung gehe man besser direkt an. Ähnlich lassen sich die Argumentationen Macrons oder auch die Logik des deutsch-namibischen Abkommens einordnen: What’s the right price to pay for genocide?

Zweifel an der Handlungslogik von Reparationen hegt auch die Kolonialforscherin Olivette Otele von der Universität Bristol. Sie plädiert für Maßnahmen „wiederherstellender Gerechtigkeit“, die beispielsweise gezielte Investitionen in die Bildungs- oder Gesundheitssysteme ehemals kolonisierter Länder sein könnten. Vor allem sollte man langfristig denken: „Nicht einfach zahlen und glauben, dass unsere Verantwortung damit endet” (DW). Hat Deutschland mit den geplanten Infrastrukturhilfen für Namibia an Stelle von Reparationen also doch alles richtig gemacht?

Versöhnung ohne Zustimmung von Opfergruppen?

„Gelebte Versöhnung kann nicht dekretiert werden“, so Heiko Maas. Dem wird niemand widersprechen. Eben deshalb kommt der Partizipation von Opfergruppen bzw. ihren Angehörigen und Nachkommen ja eine besondere Bedeutung zu: Das politische Abkommen zwischen Deutschland und Namibia will den Basic Principles of Remedy and Reparations der Vereinten Nationen Rechnung tragen, indem es bei der Implementierung die Beteiligung und besondere Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse der „Nachkommen der besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen“ vorsieht. Gegen den Widerstand der namibischen Unterhändler (!) seien die 1,1 Milliarden Euro, die Deutschland in Aussicht stellt, für Landkäufe, Infrastruktur, Wasserversorgung und Bildung insbesondere in Regionen vorgesehen, wo Nama und Herero leben (FAZ). Vertreter dieser Gemeinschaften waren auf namibischer Seite in die Verhandlungen eng eingebunden, besagt außerdem die AA-Pressemitteilung.

All das lässt aufhorchen: wie kann ein zwischenstaatliches Abkommen Erwartungen auf Versöhnung legitimieren, wenn Unterhändler gegen eine vermeintliche Privilegierung von lokalen Opfervertreter*innen Stellung nehmen? Der ehemalige Minister der SWAPO-Regierung  und Unterhändler von 2015 Kazenambo Kazenambo, selbst Herero,  kommentierte unzufrieden, die Verhandlungen seien von Anfang an fragwürdig gewesen, da sie suggerierten, dass jeder Namibier betroffen sei: „sie leugnen die Tatsache, dass die Nama und die Herero betroffen sind, also sind diese Verhandlungen ein Betrug von Anfang bis Ende“(ARD). Die Sorge, dass die namibische Regierung das Abkommen nutzen würde, um Klientel-Interessen durchzusetzen, statt die – freilich untereinander nicht einigen – Vertreter*innen von Herero, Nama und weiteren ethnischen Gruppen, welche Opfer des Völkermords waren, in die Konsultationen einzubeziehen, begleitete die jahrelangen Verhandlungen und ging ihnen bereits voraus (Mannitz/Reitz).

Hier liegt der wesentliche Schwachpunkt des aktuellen politischen Abkommens, und es war absehbar: Reparationen können als versöhnungspolitisches Instrument skeptisch betrachtet werden, als im Einzelnen angemessen oder verharmlosend diskutiert und gegen andere Optionen abgewogen werden, welche eine „Wiedergutmachung“ der Beziehungen mit finanziellen oder symbolischen Mitteln zu erreichen suchen – aber nicht ohne Beteiligung möglichst vieler Repräsentant*innen des primären Geschehens. Dass der deutsche Unterhändler an dieser Stelle nicht auf einer inklusiveren Strategie bestanden hat, welche die lokalen Akteure in ihrer Diversität einbezieht, bleibt vor allem angesichts der öffentlichen Vorwürfe der namibischen Opposition, bei den Verhandlungen sei Apartheid betrieben worden, nicht nur rätselhaft, sondern gefährdet die intendierte Versöhnung systematisch und kann vorhandene Gräben in Namibia weiter vertiefen.

Es stellt angesichts dieser Defizite des unterschriftsreifen Abkommens möglicherweise eine – wenn auch tragisch verursachte – Chance auf Nachbesserungen in anderen Konstellationen dar, dass Namibias Parlament wegen der Corona-Pandemie seine Debatte über die Verabschiedung vorübergehend ausgesetzt hat. Der Chefunterhändler des Aussöhnungsabkommens mit Deutschland, Zev Ngavirue, starb Medienberichten zufolge am 24. Juni 2021 nach einer Covid-19-Diagnose im Krankenhaus. Erst wenige Tage zuvor waren mit dem Paramount-Chief der Herero, Vekuii Rukoro, und Gaob Eduard Afrikaner von der Nama Traditional Leaders Association auch zwei erbitterte Kritiker des Abkommens in Zusammenhang mit einer Corona-Infektion gestorben (DLF).


[1] Crimes against humanity wird meist mit „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ übersetzt. Es geht aber „nicht um fehlende Menschlichkeit, sondern um Verbrechen, die nach Art und Umfang die gesamte Menschheit angehen“ (Huhle 2009, S.1: Vom schwierigen Umgang mit „Verbrechen gegen die Menschheit“ in Nürnberg und danach; pdf-Dokument hier verfügbar.

[2] Diese Höhe der in Aussicht gestellten Zahlungen wurde vielfach als zu gering kommentiert; vgl. beispielsweise hier.

[3] SWAPO steht für South-West Africa People’s Organisation; ehemalige Befreiungsbewegung und seit der Unabhängigkeit Namibias (nach vorheriger ‚Verwaltung‘ durch Südafrika) im Jahr 1990 Regierungspartei. Als Nachfolgeorganisation der Ovamboland Volksorganisation (OPO) ist die SWAPO seit jeher von der zahlenmäßig größten Bevölkerungsgruppe des Landes, den Ovambo (Bantu), dominiert.

Sabine Mannitz
Dr. Sabine Mannitz leitet den Programmbereich „Glokale Verflechtungen“, ist Mitglied des Vorstands der HSFK und PI im regionalen Forschungszentrum Transformationen politischer Gewalt (TraCe). Sie forscht u.a. über Prozesse des Wandels politischer Kultur, soziale Identität und Erinnerungskultur(politik). // Dr Sabine Mannitz is head of the research department “Glocal Junctions”, a member of PRIF's executive board and PI in the regional Research Center “Transformations of Political Violence” (TraCe). Her research fields include processes of change in political culture, social identity and practices of remembrance/remembrance politics.

Sabine Mannitz

Dr. Sabine Mannitz leitet den Programmbereich „Glokale Verflechtungen“, ist Mitglied des Vorstands der HSFK und PI im regionalen Forschungszentrum Transformationen politischer Gewalt (TraCe). Sie forscht u.a. über Prozesse des Wandels politischer Kultur, soziale Identität und Erinnerungskultur(politik). // Dr Sabine Mannitz is head of the research department “Glocal Junctions”, a member of PRIF's executive board and PI in the regional Research Center “Transformations of Political Violence” (TraCe). Her research fields include processes of change in political culture, social identity and practices of remembrance/remembrance politics.

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