Wie Wladimir Putin sich im Angriffskrieg auf die Ukraine über Völkerrecht, rationale Abwägungen und nicht zuletzt den Wert des Lebens und friedlicher Koexistenz hinwegsetzt, macht auch hierzulande viele Menschen fassungslos, traurig und wütend. Dazu gesellt sich zunehmend Angst: Welche Gefahren gehen von Atomkraftwerken im Kriegsgebiet aus? Wird Putin nukleare Waffen einsetzen? Und lässt dieser Krieg sich noch eindämmen, oder ist er erst ein Auftakt? Neben solchen verständlichen Sorgen hat Putins Überfall auf die Ukraine hierzulande auch zusehends gefährliche Emotionen mobilisiert, nämlich pauschal antirussische Ressentiments. Sie verkennen den Verlauf der Frontlinien und gefährden basale Friedensbedingungen.
Über zahlreiche Medien erreichen uns Eindrücke unermesslichen Leids: von der Zerstörung ukrainischer Städte und Infrastruktur, von hastiger Flucht mit kaum dem Allernötigsten, von Familien, die zur Trennung gezwungen sind, und von Menschen, die sich zum Kämpfen in einem Krieg wiederfinden, den sie weder wollten noch verhindern konnten – und das in unserer Nachbarschaft. Mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine wird seit Ende Februar ein Krieg in Europa geführt, den hierzulande nur wenige für ein realistisches Szenario gehalten haben. In Deutschland sind angesichts der verstörenden Entwicklungen die emotionale Anteilnahme, Hilfs- und Spendenbereitschaft für die Ukraine groß. Putins Krieg und die humanitäre Notlage, die er erzeugt, haben neben Fürsorge und Angst allerdings auch Emotionen hervorgeholt, die Anlass zur Sorge geben: Berichte von Anfeindungen, von verbalen und tätlichen Angriffen auf russischsprachige Menschen mehren sich. Angesichts zunehmender Berichte von Ausgrenzung und Diskriminierung rief Bernd Fabritius als Beauftragter der Bundesregierung für nationale Minderheiten schon Anfang März zu Respekt, Toleranz und Solidarität auf. Diese Forderung braucht nachdrückliche Unterstützung. Abgesehen davon, dass für viele Volksgruppen aus ehemaligen Sowjetrepubliken Russisch schlicht die Verkehrssprache ist, sollte auch im Hinblick auf Menschen russischer Nationalität daran erinnert werden, dass es keine pauschale Kollektivschuld für die Verbrechen einer politischen Führung gibt. Hinzu kommt, dass russenfeindliche Akte Putin in die Karten spielen, denn mit der Behauptung, die westliche Welt habe eine antirussische Psychose, versucht dieser seine Gefolgschaft hinter sich zu versammeln. Statt anachronistischen Deutungen auf den Leim zu gehen, die ein ganzes Volk zum Feindbild verdichten, sollten die transnationalen Konfliktlinien und Gemeinsamkeiten stärker in den Blick geraten.
Transnationale Blickachsen
Spätestens im Zweiten Weltkrieg wurde sichtbar, dass Kriege per Definition zwar eine Sache von Staaten sind, aber nicht ganze Nationen in Gegenstellung bringen. Die Konfrontationslinien können entlang gänzlich anderer Logiken verlaufen. Autoritarismus, Diktatur versus Demokratie, Kapitalismus versus Sozialismus, Nationalismus versus Internationalismus bzw. Multilateralismus sind einige der Frontstellungen, die quer zum Bild der kämpfenden Nationen liegen. Sicher, Charles Tilly hat recht, wenn er betont, „war made the state, and the state made war“. Als Denkfigur, die das Entstehen nationaler imagined communities (Anderson) mit deren staatlich gefasster Verteidigung an gedachten und realen Außenlinien in Verbindung setzt, steht Tillys Argument außer Frage. Dennoch stehen sich in den Kriegen des 20. und nunmehr 21. Jahrhunderts nicht geschlossene Nationen gegenüber. Was sich im Spanischen Bürgerkrieg mit den Internationalen Brigaden bereits andeutete, wurde im Zweiten Weltkrieg umso sichtbarer: Es kämpften nicht bloß Armeen von Nationalstaaten gegeneinander, sondern auch politische Lager, die grundlegend unterschiedliche Projekte vertraten. Manche Fronten verliefen also quer zu den Nationen. Als Anknüpfungspunkte für eine Friedensordnung zeigten gerade solche transnationalen Erfahrungen Auswirkungen in der europäischen Nachkriegsgeschichte. „Erbfeinde“ suchten sich miteinander auszusöhnen und nationalistische Freund-Feind-Schemata zu überwinden. Die Idee einer nationalen „Kollektivschuld“ verfing nicht mehr allgemein – und das obwohl große Teile des deutschen Volkes den nationalsozialistischen Weg bereitwillig mitgegangen waren.
Seitdem hätten die hermetischen und meist nur auf die eigene Gemeinschaft bezogenen nationalen Metanarrative ihre Existenzberechtigung verloren, meint der Historiker Christopher Cornelißen. Diese Einschätzung dürfte stark von den Entwicklungen in der Europäischen Union geprägt sein. Zumindest scheint die Situation vieler postsowjetischer Staaten in eine andere Richtung zu deuten, die ihre Staatlichkeit – wie z.B. die Ukraine – nach dem Zerfall der Sowjetunion sowie von Jugoslawien erst mit dem Anspruch von Nationalität durchgesetzt haben und diese kollektive Identität auch als solche verteidigen. Dass die Regierung in Kiew dabei schon lange, zumal unter Beschuss, zugleich die europäische Identität ihres Landes betont, zeigt allerdings eine bemerkenswerte Durchlässigkeit des nationalen Selbstverständnisses an. Diese Offenheit steht vor allem Deutungen entgegen, die Wladimir Putin z.B. im Juli 2021 mit einem Artikel „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ vertreten haben soll, den Expertinnen und Experten als geschichtspolitische Rechtfertigung seines Angriffskrieges werten. Putins Lesart der Geschichte sei, Russen und Ukrainer wären ein Volk. Das Selbstverständnis, man habe bis ins 13. Jahrhundert das „Goldene Zeitalter der Kiewer Rus“ mit Russland gemeinsam, stellt auch in der Ukraine einen Anknüpfungspunkt für kollektive Erinnerungen dar. Die in der Ukraine vorherrschende Sicht auf das weitere Verhältnis zu Russland sieht aber Fürst Wladimir als die Figur an, die vor 1.000 Jahren eine freie und unabhängige Ukraine begründet und diese nach Europa ausgerichtet habe. Hier treten nicht bloß unterschiedlich Entwürfe von nationalen Kollektiven zutage, sondern auch Unterschiede der transnationalen Projektion. Kein Blick in „die Geschichte“ führt zu eindeutigen Schlussfolgerungen. Genau deshalb ist es notwendig, sich damit zu befassen, wer was wie zu erinnern sucht und daraus welche Ansprüche ableitet. Ebenso wichtig ist es, kollektive Zurechnungen auch im eigenen Blick auf die vermeintlich „Anderen“ auf ihre Implikationen zu überprüfen.
Blockdenken über „die Russen“ ist Relikt unserer Vergangenheit
Auch wenn er schon seit 30 Jahren beendet ist, hat der Kalte Krieg als globaler Systemkonflikt Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen. In Deutschland gilt das in besonderer Weise: in Ost und West waren konträre Rahmenbedingungen für die Neuordnung nach 1945 maßgeblich, auch im Hinblick auf die soziale Identifikation, die sich von der NS-Geschichte absetzte. Wurde über die Jahrzehnte in der Bundesrepublik der Holocaust zum zentralen Referenzpunkt der öffentlichen Erinnerungskultur, war in der DDR das Erinnern an die Kriegsopfer der Sowjetunion bestimmend. Die spielten wiederum im westdeutschen Gedenken an „die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ keine nennenswerte Rolle. Sie wurden damit auch nicht zum Gegenstand einer breiteren Reflektion und Differenzierung.
In den pauschal antirussischen Reflexen, über die seit Beginn des Angriffs auf die Ukraine in Deutschland berichtet wird, scheint das Blockdenken mit all seinen Ressentiments wiederaufzuerstehen. Ein Beispiel aus Hessen: auf einer Kriegsgräberstätte in der Ortschaft Klein-Zimmern nahe Darmstadt wurde Anfang März mutwillig ein Gedenkstein beschädigt, der an vor Ort bestattete Rotarmisten erinnert. Versucht wurde, das Wort „russische“ von der Steintafel abzuschlagen. Nun dokumentiert die für diese Kriegsgräberstätte 1962 geschaffene Tafel zur Erinnerung an „russische“ Kriegstote selbst eine problematische Wahrnehmungsschablone: auf dem Friedhof sind Menschen aus unterschiedlichen Teilen der Sowjetunion bestattet, neben russischen Soldaten auch Menschen kirgisischer, tatarischer, armenischer, aserbaidschanischer oder ukrainischer Nationalität, die als Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit verschleppt wurden und in Hessen an den Folgen verstarben. Selbst wenn es ausnahmslos Russen gewesen wären, bliebe die Beschädigung des Gedenksteins aber ein besonders widersinniger Anschlag angesichts der Bedeutung, die transnationale Erinnerungsarbeit an solchen Orten für eine Aussöhnung gewinnt.
Schon zu Lebzeiten waren sowjetische Kriegsgefangene im nationalsozialistischen Deutschland schlechter gestellt als solche aus anderen Ländern, und dies schlug sich in besonders hohen Todesraten nieder: etwa die Hälfte der 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen überlebte nicht. Im Umgang mit den Toten setzte sich die Menschenverachtung noch fort: „Im Tod sind alle gleich“? – Für Kriegstote aus der Sowjetunion galt das nicht. Eindrücklich sichtbar wird das am Ort des einstigen Stammlagers Ziegenhain, das im heutigen Hessen das größte Kriegsgefangenenlager war. Menschen aus zahlreichen Nationen wurden dort interniert, als Zwangsarbeiter eingesetzt, gequält und getötet; Menschen aus Polen, Frankreich, den Benelux-Ländern, Großbritannien, den USA und der UdSSR, Serbien, Italien. Zum Stammlager Ziegenhain gehörten zwei getrennte Bestattungsorte: ein Friedhof, auf dem die verstorbenen Gefangenen der westlichen alliierten Nationen und aus Polen bestattet wurden; und ein benachbartes Waldstück, auf dem anonym und teils in Massengräbern Menschen aus der UdSSR und Serbien vergraben wurden. Eine ordentliche Bestattung wurde diesen Menschen verwehrt, weil sie zu Angehörigen einer „minderwertigen Rasse“ erklärt worden waren. Nach 1945 sollte die Erinnerung an die vorsätzliche Verletzung des Völkerrechts bei der Gefangenenbehandlung ausgelöscht werden: bei einer ersten Umgestaltung des Waldfriedhofs wurden die sowjetischen und serbischen Einzel- und Massengräber 1960 eingeebnet, unter Rasen gelegt und für Jahrzehnte weitgehend vergessen.
Denken in Schablonen steht Empathie entgegen
Es lassen sich viele Erkenntnisse aus dem Beispiel Ziegenhains gewinnen, die über den konkreten Ort hinausweisen. Zu den wichtigeren gehört der Wert, den Kriegsgräberstätten als historisch-politische Lernorte haben können. Die Aufarbeitung – soweit möglich – der genauen Umstände, unter denen Millionen Menschen im Rahmen von Kriegshandlungen und deren Folgen zu Tode gekommen sind, legt den Blick auf Ursachen der Entstehung von Inhumanität und Massengewalt frei; darauf dass der Krieg nicht ein Naturgesetz ist, sondern dass politisches Handeln die militärischen und zivilen Opfer verursacht. Und dass diese sich nicht gemäß politischer Opportunität in die Schablonen pauschaler Freund-Feindbilder einfügen. Das friedenspädagogische Anliegen, Menschen für die Entstehungsbedingungen von Gewalt zu sensibilisieren, ist auf Gegenwart und Zukunft ausgerichtet. Es heißt daher immer auch heutige Bezüge herzustellen und aktuelle Feindbilder aufzulösen – einschließlich solcher, die Russland gelten. Auf dem oben genannten, vor Ort als „Russischer Soldatenfriedhof“ bezeichneten Gelände im hessischen Klein-Zimmern sind über 400 sowjetische Kriegsgefangene begraben, die im benachbarten Lazarett an den Folgen von Krankheit, Zwangsarbeit und Unterversorgung zugrunde gingen. Wie viele Menschen genau und wer sie waren, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit bestimmen. Mit ihrem Leben verloren sie also auch ihre Identität. Durch Dokumente, die nach 1945 in die Sowjetunion gelangten, sind 380 Namen von sowjetischen Gefangenen bekannt, die im Lazarett von Klein-Zimmern verstarben. Ein Bildungsprojekt mit Schulen aus der Region entwickelt auf der Basis einen Lernort, an dem die Anonymität der Toten aufgehoben wird. – Übertriebener Aufwand nach all den Jahren? Vielmehr ist genau diese Konzentration aufs Detail praktische Friedensarbeit, die Empathie fördert und nicht bloß im Blick zurück auf historische Gewalt notwendig ist.
Auch wenn die genauen Zahlen nicht bekannt sind, haben bereits Tausende russischer Soldaten im Angriffskrieg auf die Ukraine ihr Leben verloren, darunter viele junge Wehrpflichtige. Stellungnahmen von russischen Soldatenmüttern deuten darauf hin, dass die Rekruten nicht begeistert für Putins Version der Geschichte ins Gefecht gezogen sind, sondern über den Militäreinsatz sogar getäuscht wurden. Auch diese Toten sollten transnational betrauert und nicht als „die Russen“ geschmäht werden.
Antirussische Einstellungen – ein Geschenk an Putin
Rassistische Stereotypen, nationalistische Zuschreibungen, dämonisierende Feindbilder entlang ethnischer, sozialer oder religiöser Grenzziehungen – gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit trägt in keiner ihrer vielen Erscheinungsformen zur friedlichen Koexistenz bei. Es ist daher wichtig, national zugeschnittenen Entdifferenzierungen entgegenzutreten. Im Blick auf Russland muss mindestens unterschieden werden zwischen der autokratischen politischen Führung, den Teilen der Wirtschaft, des Militärs und solchen Bevölkerungsgruppen, die das Regime stützen, und oppositionellen Gruppen, die sich dagegenstellen. Wenn nun in Reaktion auf den Angriffskrieg auf die Ukraine in Deutschland ansässige russischsprachige Menschen angefeindet werden, ist das ein besonderes Geschenk an Wladimir Putin. Es zählt zu seinen Regierungstechniken, mit der Behauptung antirussischer Ressentiments im Westen eine kollektive Identifikation im Innern zu mobilisieren. Davon abgesehen gibt es keine Hinweise, dass die unterschiedlichen russischsprachigen communities in Deutschland den Krieg in der Ukraine in besonderer Weise anheizen würden, im Gegenteil.
Auch in Russland protestieren gegenwärtig viele Russinnen und Russen trotz hoher persönlicher Risiken gegen den Krieg, den ihre Regierung in der Ukraine führt. Sie verdienen unsere Solidarität statt pauschaler Verurteilung aufgrund ihrer Nationalität.