Die Bilder der geflüchteten Menschen an den Grenzen der Europäischen Union prägen erneut die täglichen Nachrichten. Mehr als vier Millionen Menschen sind in und aus der Ukraine vor den russischen Angriffen geflüchtet. Doch selbst die Fluchtrouten sind gefährlich. Nicht nur greifen russische Truppen die Flüchtlingskonvois gezielt aus der Luft und vom Boden aus an. Es mehren sich auch Medienberichte und Berichte von Nicht-Regierungsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch, dass Fluchtrouten von russischer Seite mit Anti-Panzerminen ausgestattet und so nur unter höchster Lebensgefahr für Menschen in Fahrzeugen zu passieren sind.
In Butscha, einem Vorort von Kiew, aber auch an anderen Orten haben russische Truppen offensichtlich gezielt Zivilist:innen getötet. Der Krieg in der Ukraine hat viele Gesichter. Die ukrainische Zivilbevölkerung in den Städten und auf dem Land ist die Hauptleidtragende. Nahrungsmittel und Trinkwasser werden zusehends knapper, die medizinische Versorgung bricht immer mehr zusammen. Die russische Armee setzt obendrein besonders grausame Waffen ein, die völkerrechtlich geächtet oder sogar vertraglich verboten sind. Unter anderem sind dies Streumunition oder auch sogenannte Schmetterlingsminen, aber auch thermobarische Bomben oder Waffen mit gewaltiger Detonationskraft. Bombardiert werden zivile Wohngebiete, Krankenhäuser oder sonstige Infrastruktur, wie beispielsweise Atomkraftwerke oder Strom- und Gasversorgung. All dies ist nach den Genfer Konventionen verboten. Eine ähnliche Kriegsführung erlebte die internationale Staatengemeinschaft in Syrien, als Russland damit begann, Machthaber Bashir Assad militärisch zu unterstützen. Der vorliegende Blog stützt sich primär auf Medienberichte und Berichte von Nicht-Regierungsorganisationen, die Augenzeugen befragt haben, aber auch auf Bilder aus Überwachungskameras und sozialen Medien. Dokumentiert sind unter anderem Munitionsrückstände, beispielsweise Streumunition oder Anti-Personenminen, die nicht explodiert sind.
Die Kriegsführung in den Städten: Angriffe auf Zivilist:innen und zivile Infrastruktur
Kaum eine Stadt haben die russischen Angriffe härter getroffen als Mariupol, die Stadt am Asowschen Meer. Apokalyptische Bilder der Zerstörung dokumentieren das menschliche Leid. Mehr als 5.000 Zivilist:innen sollen allein in Mariupol ums Leben gekommen sein, 80 Prozent der Gebäude liegen in Schutt und Asche und sind unbewohnbar geworden. Neben der Wasser- und Stromversorgung haben die russischen Angreifer auch die Infrastruktur für Telekommunikation und Internet zerstört, um größtmögliches Chaos und Panik bei der Zivilbevölkerung zu verursachen. Am 16. März 2022 zielte eine russische Rakete auf ein Theater, in dem sich 1.300 Frauen und Kinder im Keller versteckt hatten – der Angriff tötete 300 von ihnen. Zehntausende sollen weiterhin in Mariupol eingeschlossen sein, sichere Fluchtkorridore gibt es nicht. Wasser und Lebensmittel werden zusehends knapper und der Tod durch Verhungern und Verdursten droht. Die Gesundheitsversorgung – gerade auch der vielen Verletzten – bricht zusammen.
Die russische Kriegsführung zielt auf dicht besiedelte Gebiete und nimmt zivile Infrastruktur ins Visier. So traf eine russische Rakete am 9. März eine Geburtenstation, sie verletzte und tötete Frauen und Neugeborene. Allein zehn Krankenhäuser sollen inzwischen in verschiedenen Städten der Ukraine dermaßen zerstört worden sein, dass Ärzte dort ihre Patient:innen nicht mehr versorgen können. Am 11. März starben 56 Bewohner:innen eines Seniorenheims in Kremminna, Luhansk, nachdem ein Panzer das Haus unter Beschuss genommen hatte. Am 17. März traf eine Rakete eine Schule in Merefa/Kharkiv und tötete 21 Personen und verletzte 25 weitere, die dort Schutz gesucht hatten. Die Nicht-Regierungsorganisation „Action on Armed Violence“ (AOAV), die Einsätze explosiver Waffen in Kriegen dokumentiert, berichtet, dass rund 96 Prozent aller zivilen Opfer in dicht besiedelten Gebieten gelebt hätten. Das unterstreicht die gezielte und völkerrechtswidrige russische Angriffsstrategie auf ukrainische Städte.
Welche besonders grausamen Waffen sind bislang in der Ukraine zum Einsatz gekommen?
Im russischen Arsenal befinden sich auch besonders grausame Waffen, die unterschiedslos wirken, also nicht zwischen Kombattanten und Zivilisten unterscheiden. Zum Einsatz kamen etwa Streumunition oder auch Landminen. Streumunition, im russischen Fall über Raketen abgefeuert, visiert ihre Ziele großflächig an. Die freigesetzte Submunition hat die Größe von Coladosen und eine hohe Fehlerquote, die sie zu einem gefährlichen Überbleibsel mit beträchtlicher Sprengkraft auch nach Ende der unmittelbaren Kampfhandlungen macht. Die Blindgänger ähneln Anti-Personenminen und reagieren ähnlich erschütterungsempfindlich. Sie machen städtische Wohngebiete unpassierbar oder zumindest zu einer lebensgefährlichen Zone.
Russland soll zudem neben Anti-Fahrzeugminen auch sogenannte Schmetterlingsminen eingesetzt haben, um Fluchtrouten unpassierbar zu machen. Schmetterlingsminen sehen Spielzeug ähnlich und wurden von der Sowjetunion im Afghanistan-Konflikt ab 1979 eingesetzt – gerade für Kinder werden sie zur lebensbedrohlichen Gefahr. Oftmals sind sie nicht tödlich, fügen den Opfern aber schwere Verletzungen zu, die Amputationen nötig machen. Auch darum gelten sie als besonders grausame Waffen. Auch POM-3 oder Medalyon Anti-Personenminen sollen von russischer Seite eingesetzt worden sein. Die Splitterwirkung dieser Minen verletzt Menschen ebenfalls auf besonders grausame Weise.
Als besonders grausame Waffen gelten auch thermobarische Bomben, die aufgrund ihrer spezifischen Funktionsweise eine hohe Sprengkraft entwickeln. Sie funktionieren in zwei Phasen: In der ersten Phase wird ein Aerosol freigesetzt, das in der zweiten Phase in einem großen Feuerball explodiert und ein Vakuum schafft, das allen Sauerstoff entzieht, so dass ihre Opfer einen qualvollen Tod erleiden. Sie haben eine wesentlich größere Explosionskraft als andere konventionelle Waffen. Die Bomben zielen darauf ab, in die Tiefe zu dringen, also etwa Bunker zu zerstören, in denen Zivilist:innen Schutz suchen.
Welche Waffen sind international geächtet oder sogar verboten?
Anti-Personenminen sind seit 1997 verboten. Inzwischen sind der Ottawa-Konvention 164 Länder beigetreten, also 80 Prozent der Staaten weltweit – Russland zählt nicht dazu. 2008 trat dann die Streumunitionskonvention in Kraft, der inzwischen 123 Staaten beigetreten sind – auch hier hat Russland seine Unterschrift bislang verweigert. Mit den Einsätzen von Streumunition und auch von Anti-Personenminen verstößt Russland zwar nicht gegen die beiden erwähnten Abkommen der humanitären Rüstungskontrolle, wohl aber gegen das humanitäre Völkerrecht und hier vor allem gegen die vier Genfer Konventionen von 1949 und ihre Erweiterungen von 1977.
Das humanitäre Völkerrecht hat drei Prinzipien etabliert: Unterscheidung, Verbot unverhältnismäßiger Kollateralschäden und Schutzmaßnahmen. So dürfen Zivilist:innen grundsätzlich nicht das Ziel von Angriffen sein, solange sie nicht unmittelbar an Kampfhandlungen teilnehmen. Unterschiedslose Angriffe sind verboten, dazu zählen auch Kampfmittel und -methoden, die nicht gegen ein bestimmtes Ziel gerichtet werden oder bei denen nicht zwischen Kämpfenden und Zivilist:innen unterschieden werden kann.
Seit 1980 gibt es die Konvention zum Verbot oder der Einsatzbeschränkung bestimmter konventioneller Waffen (CCW), auch Inhumane Waffenkonvention genannt, die auch Russland ratifiziert hat. Inzwischen gibt es fünf Protokolle, die verschiedene Waffenkategorien verbieten oder ihren Einsatz regulieren, unter ihnen auch Anti-Personenminen. Das erweiterte Protokoll II zu Anti-Personenminen verbietet beispielsweise den Einsatz von Minen ohne Selbstzerstörungsmechanismus außerhalb gekennzeichneter Gebiete. Die Einsatzregeln für Anti-Personenminen sind jedoch sehr allgemein gehalten, zudem fehlt es der CCW an Regeldurchsetzung.
Warum Regeln für den Einsatz von explosiven Waffen in dicht besiedelten Gebieten?
Für dicht besiedelte Gebiete, wie Städte oder auch Flüchtlingslager, gibt es im humanitären Völkerrecht bislang keine spezifischen Regeln. Dabei zeigt der Jahresbericht von AOAV, dass der Einsatz von explosiven Waffen in dicht besiedelten Gebieten immer häufiger wird und 2021 89 Prozent der Opfer Zivilist:innen waren. Diese Lücken im humanitären Völkerrecht will eine Gruppe von mehr als 70 gleichgesinnten Staaten und Nicht-Regierungsorganisationen schließen, die an einem Regelkatalog für den Einsatz von explosiven Waffen in dicht besiedelten Gebieten (Explosive Weapons In Populated Areas/EWIPA) arbeiten. Als problematische Waffen werden Raketen, Artillerie und Granatwerfer angesehen, die auf mehrfachen Beschuss ausgerichtet sind, aber auch luftgestützte Bombardierung mit starker Sprengwirkung oder auch improvisierte Sprengsätze (IEDs). Auch Streumunition oder Landminen zählen zu den explosiven Waffen, die in dicht besiedelten Gebieten großen Schaden anrichten können.
Angeführt von Irland zielt die Verhandlungsinitiative auf eine internationale politische Deklaration ab, in der es darum geht, die Lücken im humanitären Völkerrecht zu schließen, Zivilist:innen in dicht besiedelten Gebieten im Krieg zu schützen, aber auch spezifische konventionelle Explosivwaffen und Munition zu ächten, wie etwa die flächenwirksame Streumunition. In der vergangenen Woche haben sich die Verhandlungsparteien erneut in den Vereinten Nationen in Genf getroffen, um das Dokument weiter zu verhandeln. Im operativen Teil sollen zeichnende Staaten sich dazu verpflichten, den Einsatz unterschiedslos wirkender explosiver Waffen in dicht besiedelten Gebieten zu vermeiden und ihre Soldat:innen entlang der neuen Regeln zu schulen. Auch geht es darum, nach Beendigung der Kampfhandlungen die Städte von Explosivwaffen und Munition zu befreien und die Opfer zu versorgen und zu entschädigen. Doch auch bei der EWIPA-Initiative zählt Russland bislang nicht zu den Verhandlungsparteien.
Fazit
Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine zielt auf die Städte und trifft Zivilist:innen unverhältnismäßig stark. Eine ähnliche Kriegsführung zeigte sich auch in der russischen Unterstützung des syrischen Machthabers Assad im Krieg gegen seine eigene Bevölkerung, aber auch schon 1999 im Tschetschenienkrieg. Städte und dicht besiedelte Gebiete werden bombardiert, unterschiedslos wirkende Waffen kommen zum Einsatz. Russische Truppen greifen Zivilist:innen gezielt an und töten sie, auch die lebensnotwendige Infrastruktur wird zum Angriffsziel, um größtmögliches Leid bei der Zivilbevölkerung zu verursachen. Das humanitäre Völkerrecht beinhaltet Regeln der Kriegsführung, die Regeldurchsetzung ist jedoch kaum möglich. Allerdings gibt es gravierende Lücken, gerade im Hinblick auf den Einsatz von Explosivwaffen und Munition, die mit Hilfe der EWIPA-Initiative geschlossen werden sollen.
Diese Initiative kommt im Fall des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine zu spät. Hier ist jetzt zunächst die Dokumentation von Kriegsverbrechen gefragt, auch wenn die Ermittlungen nur ex-post stattfinden. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat begonnen, mögliche Kriegsverbrechen in der Ukraine zu dokumentieren. Dazu zählen beispielsweise auch Vergewaltigungen oder die gezielte Erschießung von Zivilist:innen, wie die Nicht-Regierungsorganisation Human Rights Watch dokumentiert hat. Von entscheidender Bedeutung ist es, Zeugen für die Dokumentation von Kriegsverbrechen zu ermitteln, Beweise zu sichern und die Täter sowie Verantwortlichen zu benennen. Mit der Beweissicherung und der Dokumentation möglicher Kriegsverbrechen sind auch die Generalstaatsanwaltschaft in der Ukraine selbst sowie der deutsche Generalbundesanwalt befasst.
Der russische Angriffskrieg zeigt einmal mehr, wie sehr die Regeln des humanitären Völkerrechts im Krieg missachtet werden. Der Krieg in der Ukraine vor der eigenen Haustür ist medial stark präsent, viele Kriege am Rande Europas sind das nicht. Das humanitäre Leid von Menschen im Krieg bleibt allzu oft unbeachtet und ungeahndet.