Paulskirche in Frankfurt
Die Paulskirche ist einer der zentralen Erinnerungsorte der deutschen Demokratiegeschichte. | Foto: nchenga via flickr | CC BY-NC 2.0

Die eine Authentizität gibt es nicht: die Frankfurter Paulskirche als Erinnerungsort der Demokratie

Wer heute vor der Frankfurter Paulskirche steht, wird vielleicht eher enttäuscht auf die vor dem Hintergrund der Skyline unscheinbare Stadtkirche blicken, in der während der Revolution von 1848/49 die deutsche Nationalversammlung tagte. Für einen der zentralen Erinnerungsorte der deutschen Demokratiegeschichte, die „Wiege der deutschen Demokratie“, wirkt sie ziemlich unspektakulär. Aber was ist es, was ihr fehlt? Seit dem Wiederaufbau der zerstörten Paulskirche 1948 diskutiert man in Frankfurt und Deutschland über die authentische Form ihrer Gestaltung. Ist es das, was ihr fehlt, die Authentizität, die besondere Zauberkraft, durch die Geschichte erlebbar wird? Und was bedeutet Authentizität für die Paulskirche eigentlich?

Mit Blick auf das 175. Jubiläum der Nationalversammlung schrieb Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 2019:

„Warum hat Deutschland nicht den Ehrgeiz, die Paulskirche bis dahin zu einer modernen Erinnerungsstätte für die Demokratie zu machen? Ein authentischer Ort, der an Revolution, Parlamentarismus und Grundrechte nicht nur museal erinnert, sondern zu einem Erlebnisort wird, der Wissen, Bildung und Debatte verbindet?“

Damit brachte er eine in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitete Sehnsucht nach einem möglichst echten und unverfälschten Erlebnis zum Ausdruck, das über das bloß museal Vermittelte hinausgehen solle. Nicht nur in der Frankfurter Innenstadt, in der der Zweite Weltkrieg keinen Stein auf dem anderen ließ, kann Authentizität keine bauliche Echtheit bedeuten; vielmehr geht es um eine „besondere Form der Anmutungsqualität“ (Gottfried Korff). Authentizität ist vor allem eine Zuschreibung, eine soziale Konstruktion, und daher abhängig von konkreten Verhältnissen wie gruppenspezifischen Deutungsmustern. Somit ist Authentizität immer in gesellschaftliche Auseinandersetzungen eingebunden: Was den einen authentisch erscheint, wirkt auf andere wie eine billige Kopie.

Zwei verschiedene Bezugspunkte prägten in diesen Auseinandersetzungen die Vorstellungen davon, was Authentizität für die Paulskirche bedeutet: die Kirche mit ihrem Stuckdekor und den Emporen, wie sie 1833 errichtet wurde und wie sie aussah, als 1848/49 die Nationalversammlung in ihr tagte, und der nüchterne, auf das Wesentliche konzentrierte Bau der Nachkriegszeit.

Wiederaufbau als Mahnmal der Demokratie

Schon zwei Jahre nach der Zerstörung der Paulskirche durch einen Luftangriff im März 1944 begann man mit der Planung des Wiederaufbaus. „Ganz Deutschland muss die Paulskirche wiederaufbauen, von außen und von innen, im Stein wie im Geiste!“, verkündete Oberbürgermeister Kolb Anfang 1947. Der Wiederaufbau sollte somit eine nationale Aufgabe und ein Zeichen einer politischen Neuaufstellung sein. Im Grundstein wurde die Urkunde mit den Worten eingemauert: „Heute beginnen wir mit dem Wiederaufbau der Paulskirche. Sie wurde zerstört, weil wir die sittlichen Gesetze missachteten.“

Dabei stand die Paulskirche in direktem Verhältnis zum Wiederaufbau des Goethehauses. Bereits unmittelbar nach dessen Zerstörung hatte sich das Freie Deutsche Hochstift, der Besitzer des Goethehauses, für eine „getreue Wiederherstellung“ eingesetzt. Kritische Stimmen sprachen dagegen von „Kopie“, „Lügenfassade“ und „Pseudo-Goethehaus“. Hinter der Frage der baulichen Authentizität stand die politische Frage nach Aufarbeitung und Bewältigung des Dritten Reiches. Das Goethehaus, so die Kritiker, sei nicht durch einen Bügeleisenbrand zerstört worden, sondern durch die Verbrechen des deutschen Volkes. Vor diesem Hintergrund spielte sich die Debatte über den Wiederaufbau der Paulskirche ab.

Anders als beim Goethehaus sah die Stadt bei der Paulskirche keinen originalgetreuen Wiederaufbau, sondern eine Modifizierung im Sinne moderner demokratischer Architektur vor. Das ging einher mit dem Wunsch, die Paulskirche künftig nicht mehr als Gotteshaus, sondern als Fest- und Versammlungssaal zu nutzen. Federführend beim Wiederaufbau war neben anderen der Architekt Rudolf Schwarz, einer der führenden Kirchenbauer der Nachkriegszeit. Er notierte: „Die Denkmalpflege wollte den alten Bau historisch wiederhergestellt haben, aber wir widersetzten uns, denn die große Ruine war weitaus herrlicher als das frühere Bauwerk“. Nicht die Paulskirche von 1833 oder 1848 diente Schwarz als Referenzpunkt, vielmehr sahen die Modernisierer die Ruine als die authentische Form an, die es zu bewahren galt.  Auf die Traditionalisten um Fried Lübbecke, den Vater der Altstadtsanierung der 1920er Jahre, wirkte die neue Paulskirche dagegen wie ein „riesiger Gasometer“, den man durch eine Art U-Bahn-Station betritt. Vom Gotteshaus, auf das diese Fraktion sich als authentisch berief, keine Spur mehr.

Äußerlich zeigte sich der neue Ansatz vor allem in der Dachgestaltung. Statt des steilen Daches wählte man ein fast flaches Kupferdach. Diese Entscheidung mochte zwar auch dem Mangel an Baumaterial geschuldet sein, vor allem aber betonte sie so stärker den steinernen Baukörper. Die größten Änderungen jedoch nahmen die Architekten im Innenraum vor, der völlig umgestaltet wurde. Statt des Kirchenraumes mit Empore betritt man nun ein Erdgeschoss mit 14 massiven Rundpfeilern. Erst nachdem man diese gedungen wirkende Halle durchschritten hat, führen am Ende zwei Treppen an der Wand empor zum 28 Meter hohen Festsaal. Der helle Plenarsaal soll in seiner betonten Nüchternheit die Konzentration auf das vom Rednerpult gesprochene Wort lenken. Die Neugestaltung sollte äußerlich die authentische Form der Ruine aufgreifen und im Inneren den Kirchenraum zu dem machen, für das die Paulskirche stand, einen Ort des öffentlichen Diskurses, der deliberativen Demokratie.

„Ist die Paulskirche geglückt?“ fragte eine Frankfurter Tageszeitung zur Eröffnungsfeier 1948. Die Meinungen gingen auseinander und das blieb auch so. Die Wiedererrichtung der Ostzeile des Römers 1983 gab den Anstoß für eine erneute Diskussion um die Paulskirchengestaltung. Neben einer technischen Modernisierung wurde das heute oft kritisierte monumentale Wandbild „Zug der Volksvertreter“ von Johannes Grützke in der Mitte des Erdgeschosses ergänzt. Es karikiert die bürgerlichen Revolutionäre, die vor der Revolution zurückschreckten. Tatsächlich entsprach das Gemälde einem Geschichtsbild, in dem das Scheitern der Revolution und die Schwäche des Bürgertums Wegmarken eines fatalen deutschen Sonderweges waren. Erst die Geschichtsforschung der folgenden Jahre betrachtete die Revolution weniger von ihrem Scheitern her, sondern sah sie als Meilenstein der langen deutschen Demokratiegeschichte.

Sehnsucht nach Authentizität und Aura

Die dritte Runde der Debatte mit Blick auf das 175. Jubiläum der Revolution läutete 2017 der Journalist Benedikt Erenz ein, der in einem Artikel in der Zeit eine Rekonstruktion der historischen Innengestaltung forderte:

„Im Inneren aber sollte endlich wieder der parlamentarische Raum erfahrbar werden. Bei allem Respekt vor dem Sakro-Existenzialismus des Rudolf Schwarz muss hier die politische Paulskirche zu erleben sein, das historische Plenum. Dazu sollten vor allem die Emporen, in moderner Form, in den Saal zurückkehren. Denn hier saß das Volk. Hier saßen wir, die Bürgerinnen und Bürger, erstmals in unserer Geschichte als Souverän im deutschen Haus.“

Zahlreiche Kommentatoren in den Feuilletons regionaler wie nationaler Zeitungen griffen diesen Wunsch auf; auch Bundespräsident Steinmeier und Kulturstaatsministerin Grütters wünschten sich mehr „Authentizität“ und „Aura“. Der Politologe Herfried Münkler und seine Co-Autoren attestierten der Paulskirche gar, „ein erinnerungspolitisches Desaster“ zu sein. „Ziel einer solchen Renovierung muss sein, etwas von der Aura des Gründungsakts der deutschen Demokratie in das Gebäude zurückzuholen.“

Die neuerliche Debatte zeigt eine grundlegende Veränderung im Argumentationsmuster: Authentischer Bezugspunkt ist nun nicht mehr die Ruine von 1946, sondern der Ort der Nationalversammlung von 1848. Sollte in der Nachkriegszeit noch die Ruine als Mahnung den demokratischen Erinnerungsort darstellen, steht die Paulskirche heute in der etablierten Berliner Republik für demokratische Tradition. Zugleich ist die Sehnsucht nach einem authentischeren Erinnerungsort auch typisch für die Retro-Welle, die derzeit deutsche Innenstädte erfasst. Wenig überraschend provozierte der Retro-Trend auch Gegenstimmen, die das Schwarz’sche Konzept der Nüchternheit und Buße verteidigten und hinter „gotisierten Fenstern“ die Fratze von Geschichtsvergessenheit und Nationalismus witterten.

Die von Bund, Land und Stadt eingesetzte Expertenkommission gibt sich in ihrem vor wenigen Wochen veröffentlichten Bericht dagegen pragmatisch und übt sich in Dialektik: „1848 und 1948: Die Paulskirche steht gleichermaßen für diese beiden Daten. Authentisch und wirkungsvoll ist der Bau in der wiederaufgebauten Form trotz der Veränderungen und Überschreibungen, die seit 1948 hinzugekommen sind.“ Während der 1948 geschaffene Bau unverändert bleiben soll, sollen „Immersion und Augmented Reality“ die alte Paulskirche aufleben lassen. Ergänzt werden soll die Paulskirche durch ein Haus der Demokratie. Ein Konzept dazu hat die HSFK bereits Ende 2020 vorgelegt. Ziel ist es, Demokratie nicht nur abstrakt zu vermitteln, sondern durch „praktische und sinnliche Erfahrung“ für jeden erlebbar zu machen. So wie die Abgeordneten der Paulskirche Demokratie erst einüben mussten, sollen alle Bürgerinnen und Bürger sie unmittelbar erfahren können. Offen ist der Ort des Hauses der Demokratie, das die Kommission sich als „repräsentativen Entwurf im Sinne einer ‚Signature Architecture‘“ auf dem Paulsplatz vorstellt. Ob die Frankfurterinnen und Frankfurter die Platanen und Eiscafés, die im Sommer dort ihre Tische und Stühle ausbreiten, bereitwillig räumen, wird sich zeigen.

Fazit: Authentizität als Argument

Die eine Authentizität also gibt es nicht. Authentizität ist ein Argument, dessen sich jede Seite bedienen kann. Dass jede Generation Geschichte neu schreibt, ist ein Gemeinplatz. Doch genauso ist es auch mit den Vorstellungen von Authentizität, um die in jeder Generation neu gerungen wird. Und so wird es wohl auch beim 200. Jubiläum noch sein.

Wer sich die Zeit bis dahin vertreiben möchte, dem sei der Audiowalk „Echt Frankfurt?“ auf den Spuren historischer Authentizität empfohlen. In 14 Stationen können Hörerinnen und Hörer das authentische Frankfurt von Bockenheim über Hauptwache, Paulskirche und Neue Altstadt bis zur Großmarkthalle erkunden.

Andreas Heinemann

Andreas Heinemann

Dr. Andreas Heinemann ist Historiker und Leiter der Bibliothek der HSFK. // Dr Andreas Heinemann is a historian and Head of PRIF's library.

Andreas Heinemann

Dr. Andreas Heinemann ist Historiker und Leiter der Bibliothek der HSFK. // Dr Andreas Heinemann is a historian and Head of PRIF's library.

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