Sahra Wagenknecht mit Mikrofon auf einer Kundgebung. Im Hintergrund zu sehen eine Friedenstaube und der Slogen "Nein zu Kriegen".
Sahra Wagenknecht spricht bei der Friedensdemonstration „Nein zu Kriegen - Rüstungswahnsinn stoppen - Zukunft friedlich und gerecht gestalten“. Auftaktkundgebung 13 Uhr, Brandenburger Tor, 25.11.2023, Berlin. | Foto: Ferran Cornellà via Wikimedia Commons | CC-BY-SA-4.0

Mit einem Referendum zum Frieden in der Ukraine?

Der anhaltende Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wirft die Frage auf, ob und wie eine politische Regelung die Kämpfe und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung beenden kann. Jüngst empfahl Sahra Wagenknecht ein Referendum im Donbass und auf der Krim, um über die staatliche Zugehörigkeit dieser Gebiete zu entscheiden. Wie dieser Beitrag zeigt, können Referenden dazu beitragen, einen Konflikt zu regeln, allerdings unter Bedingungen, die im Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht gegeben sind.

Das ZDF, die Frankfurter Rundschau und andere Medien griffen ein Interview des Tagesspiegels mit Wagenknecht auf, in dem sie forderte, Putin einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine anzubieten, sofern er einem sofortigen Waffenstillstand am jetzigen Frontverlauf zustimmt. Dann sei darüber zu verhandeln, „was in den Gebieten geschieht, wo aktuell die Russen stehen.“ Wagenknecht schlug vor, „die Menschen im Donbass und auf der Krim im Rahmen eines Referendums unter UN-Aufsicht zu fragen, zu welchem Land sie gehören wollen.“ Ein Referendum hatte sie bereits im Februar 2024 angeregt, damals mit Verweis auf die Abstimmung im Jahr 1955 zum Saarstatut.

Wagenknecht polarisiert, auch und gerade mit ihren Positionen zum Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Einige sehen in ihr eine Stimme für Frieden und Vernunft, auf die zu hören ist, um den Krieg rasch zu beenden und eine Eskalation über die Ukraine hinaus zu vermeiden. Andere erinnern an ihre Aussage wenige Tage vor der großangelegten Invasion, Russland habe kein Interesse, in die Ukraine einzumarschieren, und werfen ihr Naivität oder inhaltliche Nähe zu Putin vor. Um ein Argument sachlich zu bewerten, sollte man versuchen, es unabhängig davon zu betrachten, wer es vorträgt. Ein Referendum ist nicht schon deshalb richtig, weil Wagenknecht es fordert. Umgekehrt ist ein Referendum keine schlechte Idee, nur weil Wagenknecht es fordert.

Das Friedensversprechen von Referenden

In einem Referendum entscheiden die Stimmberechtigten direkt über eine politische Frage, die ihnen vorgelegt wird, etwa eine Verfassung, ein Friedensabkommen oder eben die staatliche Zugehörigkeit. In territorialen Konflikten, egal ob innerstaatlich oder international, bieten Referenden die Option, staatliche Grenzen zu verändern und zugleich die Norm der territorialen Integrität von Staaten zu schonen. Einigen sich die Konfliktparteien auf ein Referendum und erkennen sie dessen Ergebnis an, erfolgt gegebenenfalls eine Grenzveränderung einvernehmlich und ohne Verstoß gegen die internationale Ordnung. In einem solchen Fall berufen sich die Konfliktparteien gemeinsam auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

So wie Streitparteien eher einem Vermittler inhaltliche Zugeständnisse machen als dem Gegner, kann in territorialen Konflikten den Beteiligten ein Einlenken leichter fallen, wenn sie die letzte Entscheidung nicht selbst treffen, sondern den Menschen der betroffenen Region überlassen. Gerade Konfliktparteien, die sich zu Demokratie und Selbstbestimmung bekennen, können es durch diese Weitergabe von Verantwortung rechtfertigen, nicht auf den eigenen Maximalforderungen zu beharren. Referenden lassen sich als Entscheidung durch die höchstmögliche Instanz darstellen und sollen dem Beschluss Legitimität verschaffen und Widerstand gegen diesen erschweren. Daher wurde das Karfreitagsabkommen für Nordirland im Mai 1998 den Stimmberechtigten in Nordirland und Irland vorgelegt.

Ein Referendum erlaubt es auch, eine derzeit noch unlösbar anmutende Frage aufzuschieben, um damit Einigungen zu anderen Punkten zu fördern. So sah das Karfreitagsabkommen ein späteres Referendum über die staatliche Zugehörigkeit Nordirlands vor, sollte sich eine Mehrheit für eine Vereinigung mit Irland abzeichnen.

Vom Referendum (zurück) zum bewaffneten Konflikt

In Nordirland ebnete das Referendum 1998 einen Weg aus dem Gewaltkonflikt, das heutige Nord-Mazedonien konnte nach einem Unabhängigkeitsreferendum 1991 Jugoslawien ohne Blutvergießen verlassen, und Montenegro trat nach einer Abstimmung 2006 friedlich aus dem Staatsverband mit Serbien aus. Solchen Beispielen stehen aber viele Fälle gegenüber, in denen auf ein Referendum bewaffneter Konflikt und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung folgte. In Kroatien 1991 kam es kurz nach dem Referendum zur Unabhängigkeit von Jugoslawien zum Sezessionskrieg. Ähnliches geschah 1992 im benachbarten Bosnien-Herzegowina. Der Konflikt um Berg-Karabach eskalierte nach einem Referendum Ende 1991. In Ost-Timor entschied nach langer gewaltsamer indonesischer Besatzung ein Referendum über die künftige staatliche Zugehörigkeit des Inselteils. Die Stimmberechtigten votierten 1999 mit großer Mehrheit für die Unabhängigkeit, woraufhin pro-indonesische Milizen und deren Unterstützer im indonesischen Militär die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung verstärkten.

In vielen Fällen, in denen ein Referendum nicht zur konstruktiven Konfliktregelung beitrug, gab es entweder von Beginn an kein Einvernehmen der Streitparteien oder es endete spätestens mit der Bekanntgabe der Ergebnisse, die eine Seite nicht hinnehmen wollte. In Bosnien-Herzegowina stimmten die muslimischen und kroatischen Bürgerinnen und Bürger jeweils fast geschlossen für die Unabhängigkeit, während die meisten serbischen Stimmberechtigten der Abstimmung fernblieben. Beruft sich ein Referendum auf das Recht auf Selbstbestimmung, dann stellt sich die Frage nach dem Träger dieses Rechts. Ist es nur die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger in einem Gebiet oder besitzt eine Gruppe, die sich selbst als Volk versteht, ein separates Recht auf Selbstbestimmung? Wenn auf Wunsch der Mehrheit der muslimischen und kroatischen Bevölkerung Bosnien-Herzegowina Jugoslawien verlassen darf, steht dann den serbischen Bürgerinnen und Bürgern der Austritt aus Bosnien-Herzegowina zu? Demokratische Verfahren können solche Fragen nicht klären, da sie selbst eine Antwort darauf voraussetzen, wer zum Volk oder zu den zur Selbstbestimmung Berechtigten gehört.

Der friedensfördernde Effekt eines Referendums bleibt oft noch aus einem anderen Grund aus. Eine der Konfliktparteien lässt sich nur deshalb auf das Referendum ein, weil sie glaubt, ein Abstimmungsergebnis zu ihren Ungunsten verhindern zu können. Die Mittel reichen hier von der Manipulation des Verfahrens, über Druck auf die Abstimmenden bis hin zum Verhindern des Referendums. Manipulation umfasst nicht allein das plumpe Fälschen der eigentlichen Abstimmung. Bei einem Referendum in Konfliktgebieten stellt sich eine Vielzahl schwieriger Fragen, deren jeweilige Behandlung das Ergebnis entscheidend beeinflussen kann. Die Konfliktparteien können darüber streiten, wer rechtmäßig das Konfliktgebiet bewohnt hat oder noch bewohnt, und sich versucht sehen, mit Vertreibung, Verschleppung oder sogar Ermordung Fakten zu schaffen. Andere Streitpunkte drehen sich darum, ob und wo Binnenvertriebene und Geflüchtete wählen, wie sie ihre Stimmberechtigung nachweisen, wer den Abstimmungsvorgang außerhalb des Konfliktgebiets überwacht, und wer über solche und andere Fragen entscheidet. Da viele Punkte zu klären sind, bieten sich der am Status quo interessierten Seite viele Möglichkeiten, das Referendum hinauszuzögern oder ganz zu verhindern. Die vielen potenziell maßgeblichen Details der Organisation laden auch dazu ein, das Ergebnis des Referendums nicht anzuerkennen. Wie auf der Hand liegt, kann ein Referendum keine Bindungswirkung entfalten, wenn die Stimmberechtigten unter Sanktionsdrohung oder sogar vorgehaltener Waffe votieren oder an der Stimmabgabe gehindert werden.

Folgerungen für die Ukraine

Ein Referendum in den derzeit russisch besetzten Gebieten würde kaum im Einvernehmen beider Konfliktparteien erfolgen. Weil Putins Russland der Ukraine das Recht auf Souveränität wiederholt abgesprochen hat, ist ein gemeinsames Berufen auf das Prinzip der Selbstbestimmung kaum vorstellbar. Da fällt es nicht mehr ins Gewicht, dass die Verfassung der Ukraine Referenden nicht nur zulässt, sondern in Artikel 73 ein „all-ukrainisches Referendum“ vorschreibt, um über territoriale Änderungen zu entscheiden. Ende 1991 hielt die Ukraine ein Referendum ab, bei dem 90% der Abstimmenden für die staatliche Unabhängigkeit votierten. Mehrheiten von drei Viertel oder mehr gab es auch in den Oblasten Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk. Selbst auf der Krim sprachen sich mehr Menschen für als gegen die Unabhängigkeit aus.

In der jüngeren Vergangenheit musste die Ukraine erleben, wie Russland versuchte, Besetzung und Eroberung mithilfe von Referenden einen nachträglichen Anstrich von Legitimität zu geben. Im März 2014 setzte Russland ein Referendum auf der von ihm besetzten Krim an, das weder im Einvernehmen erfolgte, noch den Ansprüchen einer freien Abstimmung genügte und von der Generalversammlung der Vereinten Nationen für ungültig erklärt wurde. Die von Russland verordneten Referenden im September 2022 dienten Putins Annexionsplänen und spiegelten laut UN-Generalsekretär António Guterres nicht den wahren Volkswillen. Diese Erfahrungen lassen erwarten, dass Russland versuchen würde, ein Referendum über den Status der von ihm kontrollierten Gebiete zu seinen Gunsten zu manipulieren.

Wagenknecht fordert zwar ausdrücklich ein Referendum unter Aufsicht der Vereinten Nationen, aber diese allein würde keinen konstruktiven Effekt versprechen. Dafür steht die UN Mission for the Referendum in Western Sahara. Dort hat das seit Missionsbeginn 1991 geplante Referendum zum staatlichen Status der West-Sahara bis heute nicht stattgefunden, obwohl der mehr als 1.000 Personen umfassenden Operation nur wenige Hunderttausend Menschen im Konfliktgebiet gegenüberstanden. Wenn die Vereinten Nationen schon in der West-Sahara ihren Auftrag nicht erfüllen, dann ist es unrealistisch, dass sie das in der Ukraine bei Präsenz Hunderttausender russischer Soldaten leisten. Ein Referendum, bei dem die rechtmäßigen früheren und jetzigen Bewohnerinnen und Bewohner des Donbass und der Krim frei abstimmen können, erfordert einen (nahezu) vollständigen Rückzug des russischen Militärs, Polizeiapparats und Geheimdienstes.

Fehlende Voraussetzungen für ein konfliktregelndes Referendum

Wer ein Referendum ohne diese Bedingung vorschlägt, läuft Gefahr, Angriffskrieg und Eroberung hinter dem Potemkin‘schen Dorf eines vermeintlich legitimen Verfahrens zu verstecken. Vielleicht sieht Wagenknecht dieses Problem nicht. Vielleicht ist das angeregte Referendum Teil eines Ansatzes, der ein Kriegsende nur durch einen russischen Siegfrieden für möglich hält, das aber mit rhetorischen Verweisen auf Verhandlungen und Kompromiss verschleiert. Während große Teile der Anhängerschaft von Wagenknecht die zweite Interpretation wahrscheinlich zurückweisen, dürften viele ihrer Kritikerinnen und Kritiker das anders sehen, da Wagenknecht und ihre Partei ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine fordern. Ohne diese Hilfe würde es der Ukraine wahrscheinlich schwerer fallen, sich gegen die russische Aggression zur Wehr zu setzen. Damit dürfte sich die Verhandlungsposition des angegriffenen Landes verschlechtern.

Thorsten Gromes
Dr. habil. Thorsten Gromes ist Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRIF im Programmbereich „Innerstaatliche Konflikte“. Seine Forschung konzentriert sich auf Nachbürgerkriegsgesellschaften und sogenannte humanitäre militärische Interventionen. // Dr habil Thorsten Gromes is a Project Leader and Senior Researcher at PRIF in the Research Department “Intrastate Conflicts”. His research focuses on post-civil war societies and so-called humanitarian military interventions.

Thorsten Gromes

Dr. habil. Thorsten Gromes ist Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRIF im Programmbereich „Innerstaatliche Konflikte“. Seine Forschung konzentriert sich auf Nachbürgerkriegsgesellschaften und sogenannte humanitäre militärische Interventionen. // Dr habil Thorsten Gromes is a Project Leader and Senior Researcher at PRIF in the Research Department “Intrastate Conflicts”. His research focuses on post-civil war societies and so-called humanitarian military interventions.