Mehr als dreizehn Jahre litten die Menschen in Syrien unter den Folgen des Bürgerkrieges. In den letzten Wochen ging es dann schnell. Rebellen rückten weiträumig vor und veranlassten Assad zur Flucht nach Moskau. Die Aufständischen haben das langjährige Regime militärisch besiegt. Auf den Sturz von Assad folgten teils euphorische Reaktionen. Doch vor welcher Zukunft steht Syrien nach dem Triumph der Rebellen?
Dieser Beitrag blickt zurück auf Entwicklungen nach Bürgerkriegen, die mit einem Sieg der Rebellen endeten oder in denen es diesen gelang, die Regierung zu stürzen, der bewaffnete Konflikt aber weiterging. Diese vergleichende Einordnung leitet über zu einer Diskussion, was für die künftige Entwicklung von Konflikt und Gewalt in Syrien zu hoffen oder fürchten ist.
Die Bilanz von Rebellensiegen mahnt zur Vorsicht
Zwischen 1946 und 2020 endeten weltweit mehr als 430 innerstaatliche Konflikte, aber nur gut jeder zwölfte von ihnen mit einem Sieg der Rebellen. Konzentrieren wir uns mit Blick auf Syrien auf die relevanteren, längeren innerstaatlichen Kriege und blenden erfolgreiche Militärputsche aus, gab es elf militärische Siege der Aufständischen.
Nur nach zwei Rebellensiegen sehen wir eine deutliche Deeskalation. 1971 trennte sich Ost-Pakistan von West-Pakistan, auch weil Indien in den Sezessionskrieg eingriff. Das spätere Bangladesch erlebte zwar innerstaatliche Konflikte, die aber vom Ausmaß des Sezessionskrieges in den Schatten gestellt wurden. 1994 stoppte der Sieg der Rebellen unter Paul Kagame den Völkermord in Ruanda. Die Jahre danach brachten weitere Gewalt, allerdings in viel geringerem Ausmaß.
Die Liste der Rebellensiege mit negativer Bilanz umfasst mehr Fälle. Mit Blick auf die Todesopfer fallen China und Kambodscha stark ins Gewicht. Nach dem Sieg der Kommunistischen Partei in China 1949 starben Millionen Menschen im Großen Sprung nach vorn und in der Kulturrevolution. In Kambodscha kämpften sich 1975 die Roten Khmer an die Macht und verübten dann einen Völkermord. Nach ihrem Sturz durch eine Intervention Vietnams kämpften die Roten Khmer noch bis 1998.
Nach militärischen Siegen der Rebellen in Kuba 1958, Nicaragua 1979 und in der Zentralafrikanischen Republik 2002 und 2013 gab es weitere Konfliktgewalt. In Äthiopien besiegte 1991 eine Rebellenallianz das Militärregime, was jedoch weder Äthiopien selbst noch dem abgespaltenen Eritrea dauerhaften Frieden brachte. Äthiopien erlebte mehrere innerstaatliche Konflikte, zuletzt den besonders blutigen Krieg in Tigray. Von 1998 bis 2002 fochten Äthiopien und Eritrea einen verlustreichen Grenzkrieg aus. Noch länger als das gestürzte Militärregime in Äthiopien war Gaddafi in Libyen an der Macht. Unterstützt von einer von der NATO geführten Intervention, stürzten Rebellen Gaddafi im Herbst 2011. Doch das brachte Libyen keinen dauerhaften Frieden. Der Bürgerkrieg von 2013 bis 2020 kostete mehr Menschen das Leben als der Krieg im Jahr 2011.
Relevant sind auch Fälle, bei denen der Sturz der Regierung durch Rebellen kein Kriegsende brachte. In Somalia verlor nach mehreren Jahren Bürgerkrieg Siad Barré 1991 die Macht, worauf der Kollaps der Staatlichkeit und weitere Gewalt folgten. In Afghanistan stürzten 1992 Mudschaheddin-Gruppen die kommunistische Regierung, bekriegten sich dann aber untereinander, bis 1996 die Taliban die anderen Gruppen besiegten und sich so an die Macht kämpften. 1997 beendete eine Rebellenallianz die mehr als drei Jahrzehnte dauernde Herrschaft von Mobutu Sese Seko in der heutigen Demokratischen Republik Kongo. Kurze Zeit später wurde das Land zum Schauplatz des „Ersten Afrikanischen Weltkrieges“, bei dem sich unter anderem Konfliktparteien bekämpften, die zuvor Verbündete gewesen waren. Bis heute prägen bewaffnete Konflikte vor allem den Osten des Landes.
Wie Äthiopien und Afghanistan illustrieren, kehrt nach Rebellensiegen nicht unbedingt Frieden ein, nur weil der Krieg besonders lang und heftig wütete. Der Sturz der Regierung erwies sich jeweils als Wendepunkt, nicht aber als Endpunkt der Konfliktgewalt. Somalia und Libyen stehen für die Gefahr anhaltender Gewalt nach Zerfall staatlicher Institutionen. Äthiopien und Kongo zeigen, wie zuvor als Rebellen Verbündete zu Feinden werden können, sobald der gemeinsame Gegner besiegt ist.
Vielen Rebellenallianzen fehlt, abgesehen vom Kampf gegen das alte Regime, eine gemeinsame Agenda. Die durch ihren Sieg aufgeworfene Frage, wie Macht und Ressourcen künftig verteilt werden, kann zu neuen Konflikten führen, etwa wenn eine Rebellengruppe meint, die neue Ordnung entlohne sie nicht ausreichend für ihre vorherigen Mühen.
Syrien muss nicht dem Weg folgen, den die meisten Länder nach einem Sieg der Rebellen eingeschlagen haben. Im Folgenden diskutieren wir zunächst Punkte, die auf Deeskalation hoffen lassen, und anschließend Gefahren für dauerhaften Frieden.
Zeichen der Zuversicht
Die Sicherheitssituation im Land, vor allem in und um Damaskus wird bisher als gut beschrieben. Die von Hayat Tahrir al-Sham (HTS) angeführte Rebellenallianz „Abschreckung der Aggression“ hat angeordnet, dass sich bewaffnete Gruppen aus den Ortschaften zurückziehen und nicht eigenständig Waffengewalt einsetzen. Sie scheint bisher in der Lage, dies umzusetzen.
Die Rebellenallianz hat kurz nach dem Sturz Assads mit ehemaligen Ministern gesprochen und mit der Bildung einer „Abwicklungsregierung“ begonnen. Diese wird von Mohamed Baschir, dem früheren Ministerpräsidenten der sogenannten Syrischen Rettungsregierung, geleitet und soll bis Anfang März 2025 im Amt bleiben. Die Rettungsregierung hat seit Ende 2017 die Gebiete unter der Kontrolle der Rebellen im Nordwesten des Landes verwaltet. Nominell handelte es sich um eine Technokraten-Regierung unabhängig von HTS, hinter den Kulissen hat aber diese Gruppe die Fäden gezogen. Die Ernennung von Baschir ist zunächst ein gutes Zeichen, da er über Regierungserfahrung verfügt und an der Macht technokratisch statt ideologisch agierte. Zugleich sind die Erfahrungen aus der Verwaltung eines kleinen Gebietes wie Idlib nicht unbedingt auf ein ganzes Land übertragbar. Zudem lässt die Ernennung von Baschir eine Kontinuität der zumindest indirekten Kontrolle durch HTS erwarten.
Ihre bisherigen Handlungen lassen darauf schließen, dass die Regierung und HTS an den gegebenen staatlichen Strukturen festhalten. Einige öffentliche Institutionen haben ihre Arbeit bereits wieder aufgenommen. Generell scheint die schnelle Wiederherstellung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung oberstes Ziel der Übergangsregierung und des Rebellenanführers Ahmed Al-Shara‘, genannt Mohamed al-Jolani. Dementsprechend steht die Wiederaufnahme von staatlichen und privaten Dienstleistungen, wie Transport und Bankwesen, im Vordergrund. Auch die Schulen und Universitäten sollen in wenigen Tagen wieder öffnen.
Die Rebellenallianz hat eine Amnestie für alle Wehrpflichtigen ausgesprochen, jedoch angekündigt, Offiziere zu bestrafen, die an Folter beteiligt waren. Laut jüngsten Verlautbarungen arbeite man daran, die Armee zu reformieren, wobei die Bewahrung der Struktur im Vordergrund steht. Das lässt hoffen, dass die Verantwortlichen ein Szenario wie im Irak 2003 vermeiden, wo nach dem Sturz von Saddam Hussein die Armee aufgelöst wurde und sich daraufhin ehemalige Soldaten bewaffneten Gruppen anschlossen und das Land in einen Bürgerkrieg stürzten.
Fraglich ist, was mit den ca. 60.000 Rebellenkämpfern passiert. Viele haben nur zeitweise gekämpft und nebenbei ihren zivilen Beruf ausgeführt. Während einige vermutlich in ihr ziviles Leben zurückkehren, ist unklar, was mit den anderen Kämpfern passiert. Al-Shara‘ kündigte zuletzt an, dass die Rebellengruppen in die Armee integriert werden sollen. Wie dies genau geschieht, ist unklar. Hier ist zu nennen, dass die Rettungsregierung in Idlib über gut ausgebildete Polizeikräfte verfügt, die nun auch in anderen Landesteilen für Ordnung sorgen. Unklar ist bislang auch, was mit den Polizeikräften des alten Regimes passiert. Dessen Geheimdienste sollen aufgelöst werden.
Potenziale für weitere Konfliktgewalt
Der Sturz des Assad-Regimes beendete bislang nicht überall die bewaffnete Gewalt. Im Norden des Landes kämpfen weiterhin die mehrheitlich kurdischen, von den USA unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), allerdings nicht gegen die Rebellenallianz unter Führung der HTS, sondern gegen die von der Türkei finanzierte Syrische Nationale Armee (SNA). Die Integration der letzteren in die neuen Streitkräfte stellt eine besondere Herausforderung dar.
Eine weitere Herausforderung ist die desolate Wirtschaft. Das Land ist großteilig zerstört und die Währung zusammengebrochen. Damit könnte ein Wettbewerb um die knappen Ressourcen, v.a. zwischen ehemaligen Rebellen ausbrechen. Es ist zu erwarten, dass die neue syrische Regierung die Ölressourcen des Landes, die bisher größtenteils von den SDF kontrolliert wurden, unter ihre Kontrolle bringen wird. In der Provinz Deir ez-Zor ist dies schon geschehen. Allerdings gab es bei Protesten der mehrheitlich arabischen Bevölkerung in Deir ez-Zor und Raqqa gegen die SDF auch Verletzte und Tote. Eine Eskalation ist hier auch deshalb zu befürchten, weil die Türkei die Situation in Syrien ausnutzt, um die kurdische Selbstverwaltung und ihren militärischen Arm, die SDF, ein für alle Mal zu schwächen. Daher droht auch ein Wiedererstarken des Islamischen Staates, der ebenfalls das eventuelle Macht- und Sicherheitsvakuum zu füllen suchen könnte.
Auch andere externe Akteure, die vor dem Rebellensieg in Syrien eingegriffen haben, könnten den Übergangsprozess durch Einmischungen destabilisieren, wie z.B. Israel durch die Besetzung der Pufferzone zwischen den von ihm seit 1967 besetzten Golanhöhen und dem syrischen Staatsgebiet oder Russland, das versuchen könnte, über von ihm unterstützte Akteure Einfluss zu behalten.
Den politischen Übergangsprozess bestimmen bisher vorwiegend HTS und seine Verbündeten. Die bereits benannten Minister der Übergangsregierung stammen alle aus der Rettungsregierung. Obwohl die Regierung wahrscheinlich wie in Idlib technokratisch organisiert sein wird, was konfessionellen und ideologischen Faktoren wenig Raum gibt, ist eine echte Inklusivität der Regierung, auch hinsichtlich der Integration von Frauen, nicht zu erwarten. Zwar hat die von HTS geführte Rebellenallianz allen Minderheiten Schutz und Sicherheit versprochen, doch voraussichtlich werden diese nicht an der Regierung beteiligt. Unklar ist, ob andere an der Rebellenoffensive beteiligte Gruppen, wie zum Beispiel Ahrar al-Sham, Teil der Regierung werden. Ihr Ausschluss könnte Konflikte zwischen den ehemaligen Verbündeten um Macht und Ressourcen schüren. Zudem könnten Hardliner sich gegen einen zu moderaten Kurs auflehnen.
Syrien ist durch eine große ethnische und religiöse Vielfalt geprägt. Obwohl bisher lediglich einzelne Racheakte gegen ehemalige Mitglieder des Assad-Regimes bekannt sind, die von der Rebellenallianz verurteilt wurden, und die versprochen hat, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, droht vor allem den Alawiten, aus denen die Familie Assad stammt, und die lang als Träger der Macht in Syrien gesehen wurden, die Gefahr von Marginalisierung und vermehrten Racheakten. Zudem wird es eine große Herausforderung für die Gesellschaft sein, die jahrzehntelange Gewalt der Assad-Diktatur und des Krieges aufzuarbeiten.
Fazit
Nach dem Sturz von Assad setzen viele Menschen in Syrien darauf, dass es nach den langen Jahren Krieg und der noch längeren Diktatur nur besser werden kann. Niemand kann in die Zukunft blicken, viele Dinge sind noch nicht absehbar, doch klar ist, dass Syrien nicht zu weiterer Gewalt verdammt ist. Es liegt an den Entscheidungen der Protagonisten, ob der blutige Konflikt, wie nach vielen anderen Rebellensiegen, weitergeht. Die internationale Gemeinschaft steht in der Verantwortung, den Übergangsprozess konstruktiv zu unterstützen. Das schließt ein, eine Aufhebung der Sanktionen an eine inklusive Politik der neuen Machthaber zu knüpfen. Die Angriffe der Türkei auf die SDF und die israelische Besetzung der Pufferzone und weitere Expansionsversuche destabilisieren das ohnehin labile Land und sind daher zu verurteilen.