Eine Blitzoffensive der islamistischen Rebellenallianz markiert das Ende des Assad-Regimes. Ende November 2024 erobern die Rebellen mit rasantem Tempo große Städte, und Anfang Dezember fällt auch Damaskus. Der Zusammenbruch der Ba’ath-Regime-Truppen erfolgt wie ein Dominoeffekt, und Baschar Al-Assad ist im russischen Exil – ein Wendepunkt im syrischen Bürgerkrieg. Der Beitrag beleuchtet die Hintergründe der dramatischen Ereignisse in Syrien und wirft einen Blick auf die Zukunft des Landes.
Seit über 13 Jahren herrscht in Syrien ein brutaler Bürgerkrieg, der durch die gewaltsame Niederschlagung friedlicher Proteste gegen den autoritären Machthaber Baschar Al-Assad im März 2011 im Zuge des sogenannten Arabischen Frühlings ausgelöst wurde.
Der Bürgerkrieg in Syrien
Baschar Al-Assad hatte 2000 von seinem Vater Hafez die Präsidentschaft übernommen, der 1970 mit einem Militärputsch an die Macht gekommen war. Beide regierten das Land mit eiserner Faust. Ein Beispiel ihrer Schreckensherrschaft ist das Sednaya-Gefängnis nördlich von Damaskus, in dem Regimegegner gefoltert wurden. Al-Assad gehört den Alawiten an, einer religiösen Gemeinschaft des schiitischen Islams. Obwohl die Alawiten in Syrien eine religiöse Minderheit bilden, sind sie politisch überrepräsentiert, insbesondere im Militär und in Regierungspositionen. Im Gegensatz dazu stellen die Sunniten die Mehrheitsbevölkerung, waren jedoch in den staatlichen Institutionen, vor allem in den Führungsriegen des Militärs, unterrepräsentiert. Inspiriert von den Ereignissen in Tunesien, Ägypten und Libyen erhoben sich viele Menschen im März 2011 gegen die jahrzehntelange Diktatur des Assad-Clans. Im Verlauf des darauffolgenden Krieges haben mehr als eine halbe Million Menschen ihr Leben verloren und Millionen mussten innerhalb und außerhalb des Landes fliehen.
Aufgrund der gewaltsamen Unterdrückung der friedlichen Proteste durch das syrische Regime, der Bewaffnung von Teilen der Demonstranten und der externen Unterstützung radikaler islamistischer Gruppen wandelte sich der Konflikt schnell zu einem bewaffneten Aufstand und schließlich Bürgerkrieg. Dieser wurde durch die Unterstützung aus dem Ausland befeuert, von Russland und Iran sowie schiitischen Milizen wie der Hisbollah auf der Seite des Regimes und von den USA, der Türkei und anfänglich den Golfstaaten auf Seite der Opposition.
Zunächst verlor das Assad-Regime viele Gebiete an bewaffnete Gruppen wie dem Islamischen Staat (IS) in Nordsyrien, die sogenannte Freie Syrische Armee (FSA) und islamistische Gruppen wie Dschabhat al-Nusra (heute Hayat Tahrir Al-Sham) und Ahrar al-Sham im Nordwesten und Süden des Landes. Doch ab 2016, mit Unterstützung des Iran, der Hisbollah sowie Russlands, gelang es dem Regime, viele dieser Gebiete, darunter die Großstadt Aleppo, zurückzuerobern.
Blitzoffensive der islamistischen Rebellen
Am 27. November 2024 starteten die Rebellentruppen, angeführt von der islamistischen Hayat Tahrir Al-Sham (HTS) unter der Führung von Ahmed Al-Shara‘ genannt Abu Mohammed Al-Julani, die Offensive „Abschreckung der Aggression“ – erklärtermaßen in Reaktion auf das anhaltende russische und syrische Bombardement ziviler Infrastruktur in der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens. Die Offensive konzentrierte sich zunächst auf den Nordwesten des Landes, insbesondere Idlib und Aleppo, während die von der Türkei unterstützte Syrische Nationale Armee (SNA) gegen Regimetruppen und die mehrheitlich kurdischen Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) im Norden und Nordosten des Landes eine parallele Offensive startete. Zudem begannen ehemalige FSA-Gruppen Offensiven im Süden des Landes.
Mit erstaunlicher Geschwindigkeit eroberten die Rebellen wichtige Gebiete im Nordwesten Syriens. Das Ziel war eindeutig: der Sturz des Assad-Regimes. Bereits wenige Tage nach Beginn der Offensive fiel die Millionenstadt Aleppo, das Wirtschaftszentrum des Nordens und Syriens zweitgrößte Stadt. Am 5. Dezember fielen die strategisch wichtige Stadt Hama und einen Tag später die symbolträchtige Stadt Daraa, der Ausgangspunkt der Revolution von 2011.
Nach anfänglichem Widerstand zogen sich viele Regierungstruppen kampflos zurück. Die Rebellen nahmen Homs ein, die drittgrößte Stadt Syriens, und setzten ihren Vormarsch in Richtung Damaskus fort. Am 8. Dezember 2024 fiel schließlich auch die Hauptstadt. Die Rebellen verkündeten die Befreiung von Damaskus und erklärten: „Der Tyrann Baschar Al-Assad ist geflohen.“ Laut Berichten floh Assad mit seiner Familie ins Exil nach Moskau.
Die Gefechte sollen bisher mehr als 500 Todesopfer gekostet haben, darunter viele Zivilisten, die hauptsächlich durch russische und syrische Luftangriffe getötet wurden. Die Kämpfe haben zudem Hunderttausende zur Flucht aus ihren Heimatregionen gezwungen. Insgesamt ist die Eroberung Syriens durch die Rebellen aber relativ unblutig abgelaufen.
Bevor wir die Ursachen für den Zeitpunkt der Offensive, die raschen Erfolge der Rebellen sowie den Zusammenbruch der syrischen Armee und den Sturz des Ba‘ath-Regimes näher betrachten, werfen wir zunächst einen Blick auf die maßgeblichen Akteure dieser Blitzoffensive.
Die Protagonisten der Offensive
Die Dynamik der Offensive wird von einer Vielzahl von Akteuren geprägt, die unterschiedliche Weltanschauungen und Interessen verfolgen. Diese Konstellation führt zu einem komplexen Gefüge aus Konkurrenz und Kooperation. Die Hauptakteure des Konflikts lassen sich grob in zwei Lager unterteilen: die Unterstützer des Assad-Regimes und dessen Gegner.
Die Regierungsseite besteht hauptsächlich aus Assad-treuen Truppen und Verbündeten, darunter die libanesische Hisbollah und iranische Einheiten, die seit 2011 das Regime maßgeblich stützten. In dieser Offensive waren sie jedoch durch die Konflikte im Zuge des Gaza-Krieges geschwächt und konnten bzw. wollten nur begrenzt eingreifen.
Auf Seiten der Aufständischen dominieren zwei sunnitisch-geprägte Gruppen. Erstens HTS, angeführt von Abu Mohammed Al-Julani, die sich 2017 aus Dschabhat Al-Nusra, einem früheren Ableger des Islamischen Staates im Irak und späteren Al-Qaida-Ableger in Syrien, und anderen dschihadistischen Gruppen formierte. Sie wird international als Terrororganisation eingestuft, hat sich aber in ihrem Verhalten gegenüber der syrischen Zivilbevölkerung in den letzten Jahren gemäßigt und seit Ende 2017 große Teile des Nordwestens beherrscht. Zweitens die Syrische Nationale Armee (SNA), ein Zusammenschluss islamistischer Milizen und säkularer Gruppen, die von der Türkei logistisch und finanziell unterstützt wird.
Auch ausländische Mächte spielen eine Rolle, insbesondere die Türkei, der Iran und Russland. Obwohl Russland und der Iran das Assad-Regime aus geopolitischen und ideologischen Gründen massiv unterstützt haben und dessen politisches Überleben sicherten, hatten sie in dieser Offensive wenig Einfluss auf den Verlauf. Die Türkei hingegen unterstützt aktiv die regierungsfeindlichen Gruppen, vor allem die SNA, aber auch indirekt HTS, und prägte die Dynamik der Offensive maßgeblich. Ihre Strategie zielt darauf ab, die kurdisch dominierten SDF und die YPG, die die Türkei als Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK betrachtet und als Terroristen einstuft, in Syrien zu schwächen sowie ihre Einflusszone im Norden Syriens zu sichern. Die USA hat zwar in der Vergangenheit einzelne FSA-Gruppierungen durch Waffen und Ausbildung unterstützt, ihr Engagement seit 2014 jedoch vor allem auf die Bekämpfung des IS und die Unterstützung der SDF im Kampf gegen die Terrorgruppe konzentriert. In der jüngsten Offensive spielten die USA keine Rolle.
Timing der Offensive und Ursachen des Erfolgs
Warum erfolgte die Rebellenoffensive gerade jetzt, und welche Faktoren führten zu ihrem Erfolg? Mehrere Gründe und strategische Überlegungen erklären diesen Wendepunkt und den Erfolg der Offensive:
Die syrischen Rebellen nutzten gezielt die Schwächung und Ablenkung der wichtigsten Verbündeten des Assad-Regimes, Iran, Hisbollah und Russland. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 sind die schiitische Miliz und der Iran durch den Israel-Gaza-Konflikt gebunden und erheblich geschwächt. Gleichzeitig ist Russland durch seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine stark belastet. Diese Entwicklungen reduzierten die bis dahin gewährte externe Unterstützung für Al-Assad und machten das Timing für eine Großoffensive direkt nach dem Waffenstillstand zwischen dem Libanon und Israel besonders vorteilhaft, um internationale Aufmerksamkeit zu erhalten. Ein weiterer relevanter Faktor für diesen Zeitpunkt des Blitzangriffs könnte der gescheiterte Normalisierungsprozess zwischen dem syrischen Regime und seinen Nachbarstaaten sein. Präsident Al-Assad hat bei den Annäherungsversuchen mit der Türkei keinerlei Flexibilität gezeigt, zuletzt drängte ihn sogar Putin ohne Erfolg dazu, seine Abhängigkeit von Iran zu verringern und sich seinen arabischen Nachbarn und der Türkei anzunähern. Vieles spricht dafür, dass sowohl Russland als auch die Türkei schließlich die Geduld mit Assad verloren hatten, der nach der Rückeroberung Aleppos Ende 2016 nichts dafür getan hatte, die Situation in Syrien zu stabilisieren.
Obwohl die Hintergründe für die rasche Niederlage des syrischen Regimes noch nicht vollständig aufgeklärt sind, war anscheinend die syrische Armee ohne die Unterstützung seiner ausländischen Verbündeten nicht in der Lage, dem Überraschungsangriff organisiert entgegenzutreten. Die Rückeroberung Aleppos 2016 verdankte Assad erheblich der russischen und iranischen Unterstützung. Hisbollah und andere schiitische Milizen hatten damals den Großteil der Bodentruppen gestellt, diese Unterstützung fiel nun weg. Zudem stieg in den letzten Jahren durch die schlechte wirtschaftliche und Sicherheitslage in vom Regime-kontrollierten Gebieten die Unzufriedenheit mit Assad. Die Truppen waren erschöpft und demoralisiert: „Wir hatten keine Kraft, und wollten kein Blutvergießen und keinen Tod mehr. Baschar hat uns zerstört,“ so einer unserer alawitischen Kontakte in der Armee. Außerdem gab es unseren Informationen zufolge in mehreren Fällen Absprachen mit den Rebellen, die Waffen niederzulegen oder sich zurückzuziehen, was ebenfalls den schnellen Zusammenbruch der Verteidigungslinien erklären könnte. Nicht zuletzt hat HTS wohl glaubwürdig versichert, dass es nicht gegen die syrische Armee als solche, sondern gegen das Assad-Regime kämpft und dass einfache Soldaten, die zum Teil auch zwangsweise kämpfen mussten, nichts zu befürchten haben.
Die großangelegte Offensive der von HTS angeführten Rebellengruppen war gut koordiniert und zeigte ein hohes Maß an Professionalität. Mit einer geschätzten Stärke von etwa 60.000 Kämpfern, was im internationalen Vergleich eine große Zahl ist, agierte eine Vielzahl von Gruppen wie eine organisierte Armee. Entscheidend für den Erfolg war damit die tiefgründige Kooperation zwischen Gruppen mit dem gleichen Ziel, starken persönlichen Beziehungen zwischen den Mitgliedern und Anführern und einer ähnlichen Ideologie, die sich seit Jahren in Idlib auf diesen Kampf vorbereiten konnten. Darüber hinaus wurde die Offensive wahrscheinlich von der Türkei unterstützt, militärisch und geheimdienstlich, was ihre Schlagkraft weiter verstärkte.
Syrien nach dem Fall des Assad-Regimes: Ein Ausblick
Das Land steht nun vor fundamentalen Herausforderungen. Es ist geprägt von einer Vielzahl von religiösen und ethnischen Gruppen, deren Sicherheit und freie Entfaltung im neuen Syrien gesichert sein müssen. Vor allem Nordsyrien, wo zahlreiche Kurden leben, und die von Alawiten dominierte Küste sind hier kritische Regionen. In Nordsyrien gibt es derzeit arabisch-dominierte Proteste gegen die SDF, zudem wird diese von der SNA bekämpft, die von der Türkei unterstützt wird. Viele Kurden mussten bereits vor den Milizen fliehen. Eine Schwächung der SDF könnte auch den IS stärken, der versucht, das Sicherheitsvakuum in Syrien auszunutzen. Nicht zuletzt destabilisieren auch anhaltende israelische Angriffe den Übergangsprozess.
Erste Verlautbarungen von HTS, staatliche Institutionen zu bewahren und die Rechte aller Syrer zu schützen, klingen vielversprechend, müssen aber durch entsprechende Taten untermauert werden.