Geöffnete Tür eines zerstörten Gebäudes
Sindschar im Sommer 2019: Ein Großteil der Gebäude und Infrastruktur sind zerstört. | Foto: Levi Clancy, wikimedia commons | CC0 1.0

Zehn Jahre nach dem Genozid: Die fortdauernde Krise der Jesiden

Am 3. August jährt sich der zehnte Jahrestag des Völkermords, den die radikal-religiöse Terrororganisation Islamischer Staat (IS) vor einem Jahrzehnt an den Jesiden im Irak verübte. Keine andere Gruppe erlebte die Gräueltaten des IS so direkt wie die Jesiden. Trotz der militärischen Niederlage des IS und der Rückeroberung der jesidischen Gebiete dauert ihr Leiden an. Angesichts anderer globaler Konflikte wie dem Ukraine-Krieg und dem Israel-Gaza-Konflikt geraten die anhaltenden Leiden der Jesiden zunehmend aus dem Blick. Dieser Blogartikel erläutert den Kontext und die Gründe, warum die Bedrohung der Jesiden nach wie vor anhält.

Bei den Jesiden  handelt es sich um eine uralte monotheistische Religionsgemeinschaft, deren Wurzeln bis mehr als 2.000 v. Chr. zurückreichen. Während sich die meisten Jesiden als ethnische Kurden identifizieren, betrachtet sich ein Teil als eigenständige Ethnie. Die überwältigende Mehrheit spricht den kurdischen Dialekt Kurmancî. Das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden liegt im nördlichen Irak, doch ihre historischen Siedlungsgebiete erstrecken sich auch auf die Türkei, Syrien und den Iran.

Historischer Kontext und der Genozid von 2014

Weltweit gibt es etwa eine Million Jesiden. Durch Vertreibung und Flucht sind sie global zerstreut, wobei die größte Diasporagemeinde mit etwa 250.000 Menschen in Deutschland lebt. Seit Jahrhunderten sind sie wegen ihres Glaubens Verfolgungen ausgesetzt. Fundamentalistische Muslime betrachten sie als Abtrünnige, Kuffar („Ungläubige“) und Teufelsanbeter. Im Irak setzten sich diese Verfolgungen auch unter dem Ba‘ath Regime (1968-2003) fort. Nach dem Sturz des Saddam-Regimes im Jahr 2003 wurden Jesiden zunehmend zur Zielscheibe von Dschihadisten. Besonders schlimm war der Angriff am 14. August 2007, als Al-Qaida-Selbstmordattentäter im Distrikt Sindschar über 500 Menschen töteten und 1.500 verletzten.

Am 3. August 2014 überrannten die Dschihadisten der Terrormiliz IS die traditionell von Jesiden bewohnte Sindschar-Region und verübten Verbrechen, die unter anderem vom Deutschen Bundestag, den Vereinten Nationen und dem Europäischen Parlament als Genozid anerkannt wurden. Die Jesiden bezeichnen ihn als ihren 73. Völkermord, was auf die lange Geschichte ihres Leidens verweist. Die IS-Terroristen töteten und versklavten Tausende, um die jesidische Glaubensgemeinschaft auszulöschen. Insgesamt wurden mehr als 5.000 Jesiden, hauptsächlich Männer und ältere Frauen, getötet und in Massengräbern verscharrt. Jungen unter 12 Jahren wurden als Kindersoldaten rekrutiert. Über 7.000 Frauen und Mädchen wurden entführt, als Sexsklavinnen verkauft und missbraucht. IS-Angehörige zerstörten Jesidendörfer, brannten Häuser nieder und verwüsteten religiöse Stätten. Hunderttausende waren zur Flucht gezwungen.

Der Völkermord war möglich, weil auch die internationale Gemeinschaft, die kurdischen Peschmerga und die irakischen Sicherheitskräfte versagten. Als es darauf ankam, zogen die sie sich zurück und überließen die Jesiden schutzlos den IS-Angreifern. Die extreme Brutalität zeigte sich im jesidischen Dorf Kocho mit etwa 1.700 Einwohnern, das nahezu ausgelöscht wurde. Etwa 600 Männer wurden entweder erschossen, bei lebendigem Leib verbrannt oder in Massengräber geworfen. Sie wurden aufgefordert, zum Islam zu konvertieren, was viele Jesiden ablehnten. Schätzungsweise 1.000 weibliche Familienmitglieder und Kinder wurden verschleppt und versklavt.

Die anhaltende Krise der Jesiden

Die Sindschar-Region wurde im November 2015 durch kurdische Einheiten befreit, die von der internationalen Anti-IS-Koalition unterstützt wurden. Trotz der Befreiung sind die Auswirkungen des IS-Angriffs weiterhin schwerwiegend. Hunderte Männer bleiben vermisst oder gefangen, noch etwa 2.700 Frauen und Kinder sind noch immer verschwunden, obwohl Tausende vom IS befreit oder freigekauft wurden. Mehr als 150.000 Jesiden leben als Binnenflüchtlinge  in der Autonomen Region Kurdistan. Seit 2014 flohen schätzungsweise Hunderttausende Jesiden aus dem Irak, viele nach Europa, wo allein in Deutschland etwa 75.000 Jesiden Zuflucht fanden. Doch vielen Überlebenden droht nun die Abschiebung.

Die desaströse Lage der Jesiden in Sindschar wird durch politische Instabilität und geopolitische Machtkämpfe verschärft. Die politische Instabilität resultiert aus den Machtkämpfen zwischen der irakischen Zentralregierung und der Autonomen Region Kurdistan. Sindschar gehört zu den sogenannten „umstrittenen Gebieten“, auf die beide Regierungen Anspruch erheben. Diese Unsicherheit hat die Jesiden sowohl politisch als auch wirtschaftlich benachteiligt und sie in die Konflikte der beiden Regierungen verstrickt. Seit 2003 werden die Jesiden von beiden Seiten von politischer Mitbestimmung und wichtigen Ressourcen gezielt ausgeschlossen, was ihr Vertrauen in beide Regierungen erheblich beeinträchtigt.

Das Sindschar-Abkommen

In diesem Kontext stellt das im Oktober 2020 abgeschlossene „Sindschar-Abkommen“ grundsätzlich einen Fortschritt dar, das u.a. den Wiederaufbau und die Machtübergabe an örtliche Behörden und Entschädigungszahlungen umfasst. Es gibt jedoch auch erhebliche Kritikpunkte. Das Abkommen wurde zwischen den Regierungen in Bagdad und Erbil abgeschlossen, ohne die Jesiden angemessen zu beteiligen. Zudem ist das Abkommen bislang noch nicht umgesetzt worden, was die Erreichung der angestrebten Ziele und die Verbesserung der Lage in Sindschar verzögert.

Ein weiterer wesentlicher Grund, der die Unsicherheit der Jesiden in Sindschar verschärft, ist die Präsenz zahlreicher staatlicher und nicht-staatlicher bewaffneter Gruppen aus dem In- und Ausland. Dazu gehören irakische Sicherheitskräfte, schiitische Milizen, kurdische Peshmerga sowie die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die oft gegeneinander agieren, was die Region zusätzlich destabilisiert und die Rückkehr der Jesiden erschwert. Aufgrund der strategisch wichtigen Lage kämpfen sie um die Kontrolle über Sindschar, einen bedeutenden Knotenpunkt zwischen dem Irak und Syrien, der seit 2003 zunehmend auch für Waffentransporte und andere militärische Aktivitäten genutzt wird.

Einflüsse verschiedener Gruppen und Perspektivlosigkeit

Die YPG und die PKK, die eine Schlüsselrolle bei der Befreiung der Jesiden aus den Fängen des IS spielten, haben sich in der Region etabliert, was inzwischen von vielen Jesiden kritisch gesehen wird. Die Türkei, die YPG und PKK als Terrorgruppen einstuft, führt immer wieder Luftangriffe auf ihre Stellungen im Sindschar-Gebirge durch, was zu Todesfällen und weiteren Fluchtbewegungen unter den Jesiden führt. Seit der Übernahme von Sindschar im Oktober 2017 haben sich außerdem die irakische Armee und ihrer Verbündeten, die irakisch-schiitischen Milizen von Haschd Al-Sha’bi (Volksmobilisierungseinheiten, PMU),  erheblichen Einfluss gesichert. Die PMU sind auf vielen Ebenen stärker als die irakischen Sicherheitskräfte und haben diese teilweise infiltriert. Zudem verfolgen die PMU eine eigene Agenda und agieren oft im Interesse des Iran. Die Folge sind häufige Konflikte mit den kurdischen Peshmerga-Einheiten, aber auch mit ihren verbündeten jesidischen Bürgerwehrgruppen in Sindschar.

Darüber hinaus sind viele Jesiden in den genannten nicht-staatlichen Gruppen, staatlichen Kräften und regionalen Milizen selbst aktiv. Das Motiv der Jesiden ist zum einen Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit sowie zum andern das Ziel, Einfluss zu gewinnen und die eigenen Gebiete besser zu schützen. Diese Entwicklungen tragen zu Spannungen innerhalb der jesidischen Gemeinschaft bei und verschärfen die ohnehin schwierige Situation. Insgesamt verstärken diese geopolitischen Spannungen die anhaltenden Konflikte und das Gefühl der Unsicherheit, was die Rückkehr und Wiederansiedlung der Jesiden erheblich erschwert.

Zerstörte Infrastruktur und Mangel an grundlegenden Dienstleistungen in Sindschar

Seit ihrer Befreiung vom IS wirkt Sindschar wie eine Geisterstadt. Rund 70 % der Häuser und 80 % der Infrastruktur sind zerstört, was zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch, hoher Arbeitslosigkeit und verschärfter Armut geführt hat. Grundlegende Versorgungsdienste wie sauberes Wasser und Strom fehlen, viele Gegenden sind vermint und unbewohnbar. Während in Mossul der Wiederaufbau durch die irakische Regierung und internationale Organisationen voranschreitet, fehlt in Sindschar jegliche Spur von systematischem oder organisiertem Wiederaufbau. Die unzureichende Unterstützung und der Mangel an grundlegenden Dienstleistungen deuten auf ein politisches Kalkül hin. Trotz verfügbarer Mittel bleibt der Wiederaufbau hinter den Erwartungen zurück, da v.a. Machtkämpfe zwischen der schiitisch-dominierten Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung den Fortschritt blockieren. Die tief verwurzelte Diskriminierung der Jesiden verstärkt diese Probleme zusätzlich. Der ehemalige Bürgermeister von Sindschar, Fahad Hamid Omar, bringt es hinsichtlich der Frage, warum die Jesiden keine angemessene Hilfe erhalten, auf den Punkt:

„Weil wir Jesiden im Irak nur Bürger vierter oder fünfter Klasse sind.“

Daher fühlen sich die Überlebenden, die in provisorischen Lagern leben, weiterhin unsicher und bedroht.

Fehlende Gerechtigkeit und Strafverfolgung von Tätern

Ein weiterer Grund für die anhaltende Krise der Jesiden ist die Straflosigkeit vieler IS-Täter im Irak, die trotz ihrer brutalen Taten noch immer auf freiem Fuß sind. Dies trifft besonders auf Mitglieder sunnitisch-arabischer Stämme aus Sindschar zu, die sich während der Massaker entweder dem IS angeschlossen oder mit ihm kooperiert haben. Viele dieser Täter sind nach wie vor unbehelligt, da sie Unterstützung aus Politik und Justiz erhalten. Sie stellen somit eine anhaltende Gefahr dar. Ein jesidischer Widerstandskämpfer sagte mir während eines Forschungsaufenthalts in Sindschar Folgendes:

„Die Täter, die uns brutal angriffen, Tausende von uns töteten, unsere Frauen versklavten und wie Vieh auf Basaren verkauften – darunter viele meiner Familienangehörigen – kamen nicht vom Planeten Mars. Die überwiegende Mehrheit stammte aus den arabischen Nachbargemeinden, aber auch ein Teil aus muslimisch-kurdischen Gemeinden, die einst mit uns Brot teilten. Jetzt sind viele von ihnen zurück in ihren Städten und Dörfern, als ob sie nichts getan hätten. Der Grund ist einfach: Sie haben starken Rückhalt.“

Die Straflosigkeit wird durch das Fehlen eines funktionierenden Rechtssystems und effektiver Strafverfolgungsmaßnahmen im Irak verschärft. Die marginalisierte Stellung der Jesiden im Irak wird dadurch verschärft, dass trotz der Anerkennung des Genozids durch zahlreiche Länder und internationale Organisationen die irakische Regierung den Völkermord bislang nicht offiziell anerkannt hat. Dies verstärkt das Gefühl der Unsicherheit und des Misstrauens gegenüber dem Staat.

Wie man die Krise beenden kann

Um diese Krise in Sindschar zu bewältigen und den Jesiden eine gesicherte Zukunft zu bieten, sind folgende Maßnahmen notwendig: Die internationale Gemeinschaft sollte die irakische Zentralregierung und die kurdische Regionalregierung ermutigen und darin unterstützen, den Wiederaufbau voranzutreiben und die Jesiden in Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Eine offizielle Anerkennung des Völkermords durch die irakische Regierung wäre ein wichtiges Zeichen für den Wunsch nach Aufarbeitung und Gerechtigkeit. Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden, um das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen. Die Betreuung der traumatisierten Opfer, insbesondere der Frauen, ist eine wesentliche Voraussetzung für einen Neuanfang. Auch die Frage von Reparationen muss diskutiert werden. Sicherheitsmaßnahmen sowie die Wiederherstellung der Infrastruktur sind dringend erforderlich, um geflüchteten Jesiden eine sichere Rückkehr zu ermöglichen. Arbeitsmarktbezogene Programme müssen entwickelt werden, um wirtschaftliche Perspektiven zu schaffen.

Masood Al Hakari

Masood Al Hakari

Masood Al Hakari ist Doktorand an der Goethe-Universität Frankfurt im Fach Politikwissenschaften. Er ist außerdem assoziierter Forscher am PRIF im Programmbereich „Transnationale Politik“ und Mitglied der Forschungsgruppen „Terrorismus“ und „Radikalisierung“. Zu seinen Forschungsinteressen gehören der islamistischer Terrorismus mit besonderem Fokus auf Terrororganisationen Islamischer Staat (IS) und Al-Qaida), Islamismus und Salafismus und Jesiden. // Masood Al Hakari is a doctoral researcher in political science at Goethe University Frankfurt. He is also an associated researcher at PRIF's Research Department “Transnational Politics” and member of the research groups “Terrorism” and “Radicalization”. His research interests include Islamist terrorism with a particular focus on terrorist organizations (Islamic State (IS) and Al-Qaeda), Islamism and Salafism, and Yazidis.
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Masood Al Hakari ist Doktorand an der Goethe-Universität Frankfurt im Fach Politikwissenschaften. Er ist außerdem assoziierter Forscher am PRIF im Programmbereich „Transnationale Politik“ und Mitglied der Forschungsgruppen „Terrorismus“ und „Radikalisierung“. Zu seinen Forschungsinteressen gehören der islamistischer Terrorismus mit besonderem Fokus auf Terrororganisationen Islamischer Staat (IS) und Al-Qaida), Islamismus und Salafismus und Jesiden. // Masood Al Hakari is a doctoral researcher in political science at Goethe University Frankfurt. He is also an associated researcher at PRIF's Research Department “Transnational Politics” and member of the research groups “Terrorism” and “Radicalization”. His research interests include Islamist terrorism with a particular focus on terrorist organizations (Islamic State (IS) and Al-Qaeda), Islamism and Salafism, and Yazidis.

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