Kein Krieg prägt derzeit die europäische Politik so sehr wie die russische Aggression gegen die Ukraine. Viele Parteien halten es für wichtig, in ihren Programmen zur Bundestagswahl festzuhalten, wie sie zu diesem Konflikt und dessen Protagonisten stehen. Dieser Beitrag verschafft einen einordnenden Überblick über die Positionen derjenigen Parteien, denen Umfragen realistische Chancen geben, mindestens mit Gruppenstärke in den Bundestag einzuziehen.
Wir befassen uns mit den Wahlprogrammen von CDU/CSU, AfD, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, BSW, FDP und Die Linke. Von AfD, den Grünen und der Linken lagen bis Redaktionsschluss nur Entwürfe vor, nicht die endgültigen Programme. Angesichts der Vielzahl der berücksichtigten Parteien bündeln und bewerten wir die einzelnen Aussagen mit Hilfe von Themenblöcken und zeigen dabei auch, wie sich die programmatischen Aussagen zu Befunden aus der Forschung verhalten.
Konfliktverständnis und Russland-Bild
CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP und Linke sehen das russische Regime als Aggressor. Sie betonen korrekterweise, dass die andauernden russischen Kriegsbemühungen klar gegen Völkerrecht verstoßen.
Die AfD hingegen führt die europäische Sicherheitskrise nicht auf russische Aggression, sondern auf einen „Krieg in der Ukraine“ zurück. Diese spätestens seit 2015 empirisch hier und hier widerlegte Position unterschlägt jedwede Verantwortlichkeit des russischen Regimes. Das AfD-Wahlprogramm vermerkt an wenigen Stellen, dass das Völkerrecht Grundlage von AfD-Politik sei, verbindet diese Bekenntnisse jedoch an keiner Stelle mit dem Krieg.
Ebenso wie die AfD vermeidet das BSW den Begriff „Angriffskrieg“. Zwar verurteilt es den russischen Angriff, relativiert dies aber durch die analytisch falsche Behauptung, es handle sich um einen „Stellvertreterkrieg“ zwischen Russland und den USA. Das BSW behauptet, dass durch eine „andere US-Politik“ der Krieg hätte vermieden werden können.
Die Parteien unterscheiden sich darüber hinaus in ihrer allgemeineren Sicht auf Russland. CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP sehen die Politik Putins nicht nur als eine Gefahr für die Ukraine, sondern auch für Sicherheit, Demokratie und Menschenrechte in Europa und andernorts. Die Wahlprogramme von AfD, Linke und BSW schweigen sich dazu trotz Evidenz zu russischen Einfluss- und Sabotageoperationen in Europa aus.
Waffen für die Ukraine
CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP sprechen sich für weitere Militärhilfe für die Ukraine aus. Als Gründe nennen sie eine von Russland ausgehende Gefahr für Deutschland und den Frieden in Europa, Verteidigung des unbesetzten ukrainischen Gebiets sowie die Herstellung einer starken Verhandlungsposition für die Ukraine. Viele Fachleute teilen diese Position.
Die AfD lehnt Waffenlieferungen und deutsche Beteiligung an der Ausbildung ukrainischer Soldat*innen ab, allerdings nur implizit mit der Begründung, dass hierdurch die Bundeswehr in einem „desolatem Zustand“ sei. Auch die Linke positioniert sich indirekt gegen Waffenlieferungen, indem sie einen vermeintlichen Gegensatz zwischen dieser Unterstützung und Verhandlungsbemühungen beschwört. Beim BSW heißt es, „Waffenlieferungen werden das Sterben nicht beenden.“
Die unausgesprochene, aber wohl suggerierte Annahme von AfD, BSW und Linke beim Nein zu Waffenlieferungen scheint zu sein, dass es den Menschen in der Ukraine heute ohne diese Unterstützung besser gehen würde. Allerdings erläutern die Programme nicht, wie sich ein Ausbleiben von Waffenhilfe auf russische Sieghoffnungen und Verhandlungsbereitschaft sowie auf russische Eroberungserfolge und die Behandlung der Menschen in den besetzten Gebieten ausgewirkt hätte.
Die Taurus-Marschflugkörper schaffen es in die Wahlprogramme von SPD, BSW und FDP. Das BSW warnt, diese Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern wäre „praktisch eine Kriegserklärung Deutschlands an die Atommacht Russlands“. Die SPD begründet ihr Veto gegen Taurus-Lieferungen damit, dass Deutschland und die NATO nicht selbst zur Kriegspartei werden sollen. Die FDP befürwortet Taurus-Lieferungen, um die ukrainische Verteidigungsfähigkeit durch Angriffe auf russische Abschussbasen und Nachschublinien zu erhöhen.
Zivile Hilfen für die Ukraine
CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP sprechen sich für zivile Hilfen für die Ukraine aus und führen neben den strategischen Überlegungen auch humanitäre Motive an.
Zwar befürwortet die Linke „massive humanitäre Hilfe“, setzt diese aber implizit in einen Gegensatz zu Waffenlieferungen.
Die AfD behauptet, dass die Europäische Zentralbank „demnächst [mittels] Ukraine-Bonds“ faktisch Geldgeschenke an „notleidende“ Staaten (Anführungszeichen im Original) über gemeinschaftlich behaftete EU-Schulden leisten würde. Dies trifft auf keine den Autoren bekannten Pläne zu.
Das BSW adressiert die Frage nach humanitärer Hilfe nicht direkt, schreibt aber: „Wir wollen, dass kein weiteres deutsches Steuergeld bereitgestellt wird, um diesen sinnlosen Krieg zu verlängern.“ Es schreibt, „kaum ein anderes Land“ belaste seine Bürger*innen mit Blick auf die Ukraine-Hilfen so stark wie Deutschland. Diese Behauptung ist falsch, da beispielsweise die Ukraine-Hilfen vieler anderer Länder, gemessen an ihrer Wirtschaftskraft, höher lagen. Dies galt etwa im Jahr 2022 für Slowenien, die USA, Griechenland, Schweden, Österreich, Portugal, Tschechien, Niederlande, Dänemark, Slowakei, Bulgarien, Litauen, Polen, Lettland und Estland.
Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union und NATO
CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP befürworten die Aussicht der Ukraine auf einen Beitritt zur Europäischen Union. Die AfD sieht die Zukunft der Ukraine außerhalb der EU. Am schärfsten spricht sich das BSW gegen einen EU-Beitritt aus: „Wir wollen einen EU-Erweiterungsstopp, der auch für die Ukraine gilt, die sonst zum Fass ohne Boden für die deutschen Steuerzahler wird.“ Im Programmentwurf der Linken findet sich zu diesem Punkt keine Aussage.
Grüne und FDP unterstützen perspektivisch den Beitritt der Ukraine zur NATO. Die Union äußert sich verklausuliert: Sie sieht eine Rolle der NATO im Zusammenhang mit Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Das SPD-Programm bezieht keine Position zum NATO-Beitritt der Ukraine. Die AfD will eine neutrale Ukraine außerhalb der NATO. BSW und Linke machen zum NATO-Beitritt keine direkten Aussagen, wobei die Linke die NATO mittelfristig durch eine „gemeinsame Sicherheitsarchitektur für Europa“ ersetzen möchte.
Sanktionen gegen Russland
Union, SPD und Grüne befürworten ausdrücklich Sanktionen gegen Russland, um „den ökonomischen Druck auf das Regime zu erhöhen“ (Grüne) und „Putin zu einem Umdenken“ zu bewegen (CDU/CSU). Die SPD bekennt sich „zur diplomatischen, militärischen, finanziellen und humanitären Unterstützung“ der Ukraine, was sich im Lichte ihres Handelns als Regierungspartei pro Sanktionen lesen lässt. Die Linke fordert „[g]ezieltere Sanktionen, die direkt auf die Kriegskasse des Kreml zielen und nicht gegen die russische Bevölkerung gerichtet sind.“
Für das BSW waren die Sanktionen „ein Konjunkturprogramm für die US-Wirtschaft und ein Killerprogramm für deutsche und europäische Unternehmen.“ Die AfD fordert „die sofortige Aufhebung der Wirtschaftssanktionen“ zur „Wiederherstellung des ungestörten Handels mit Russland“. Obgleich Russland häufig Unterbrechungen von Gaslieferungen als Waffe gegen andere Länder eingesetzt hat, behauptet die AfD, Russland sei über Jahrzehnte ein zuverlässiger Energielieferant gewesen und fordert einen totalen Sanktionsstopp, ohne auch nur die Beendigung der russischen Sanktionen gegen Deutschland als Vorbedingung zu nennen. AfD und BSW fordern eine Wiederaufnahme des Pipeline-Gashandels mit Russland ohne Gegenleistung.
Wege zum Kriegsende
Kein Wahlprogramm fordert ausdrücklich, die Ukraine müsse den Krieg gewinnen. SPD, Grüne und FDP warnen allerdings explizit vor einem russischen Sieg oder Diktatfrieden. Die SPD möchte die territoriale Integrität der Ukraine wahren, die FDP diese wiederherstellen. SPD und Grüne wollen die Souveränität der Ukraine gewährleisten. Die Grünen meinen, nichts solle über die Ukraine ohne die Ukraine entschieden werden. Die Union möchte einen „Friedensprozess, der von der Ukraine aus einer Position der Stärke und auf Augenhöhe geführt werden kann.“ Den Ansatz, die Ukraine durch umfassende Hilfe in eine starke Verhandlungsposition zu bringen, teilen SPD, Grüne und FDP.
Anders als diese Parteien sieht die Linke einen Gegensatz zwischen Waffenlieferungen an die Ukraine und diplomatische Initiativen zur Beendigung des Krieges. Das BSW fordert „ehrliche Bemühungen um einen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen“ und behauptet, eine „bessere Verhandlungsposition hat die Ukraine durch die Fortsetzung des Krieges nicht gewonnen, im Gegenteil.“ Es greift dabei das falsche, auch von der russischen Propaganda verbreitete Narrativ auf, die Ukraine habe im Frühjahr 2022 „auf westlichen Druck hin“ Verhandlungen abgebrochen. Das AfD-Programm macht keine direkte Aussage zu einem Ende des Krieges.
Fazit
Viele Friedenspläne schlagen fehl, wenn ihre politischen Vorgaben zu wenig das Kräfteverhältnis berücksichtigen, das die Konfliktparteien aktuell sehen oder für die nahe Zukunft erwarten. Daher spiegelt sich vor und in Friedensverhandlungen die militärische Situation wider und beeinflusst Friedenschancen. Entsprechend fordert die Seite, die sich im Vorteil sieht, der Verhandlungsprozess müsse die gegebenen Realitäten anerkennen.
Die Positionen in den Wahlprogrammen hätten, würde man sie umsetzen, unterschiedliche Konsequenzen für das Kräfteverhältnis zwischen der Ukraine und Russland. Wer, wie Union, SPD, Grüne und FDP, weitere oder noch mehr militärische und zivile Hilfe für die Ukraine und Sanktionen gegen Russland fordert, möchte das Kräfteverhältnis zugunsten der Ukraine verschieben. Das erfolgt in der erklärten Annahme, so die Aussichten auf einen gerechten und stabilen Frieden in der Ukraine zu verbessern und für Sicherheit in Europa und der Welt zu sorgen.
Das Nein zu Waffen und anderen Hilfen für die Ukraine und die Ablehnung von Sanktionen gegen Russland bei AfD, BSW und mit Abstrichen bei der Linken läuft – gewollt oder ungewollt – darauf hinaus, die Position der Ukraine zu schwächen und Russland zu stärken.