Wand eines grauen Gebäudes mit Gemälde eines blauen Himmels, vor dem ein Kind schaukelt
Furcht und Hoffnung: Gemälde an der Mauer einer Schule in der östlichen Ukraine | Foto: European Union (Lisa Hastert) via EU Civil Protection and Humanitarian Aid, flickr | CC BY-NC-ND 2.0

Was in der Zukunft der Ukraine liegt: Plädoyer für eine Verteidigungs- und Resilienzstrategie

Mit Beginn der russischen Vollinvasion der Ukraine vor zwei Jahren setzte auch bei uns am PRIF eine intensive Auseinandersetzung mit dem Konflikt ein. Nach nunmehr zwei Jahren Krieg, Hunderttausenden von Gefallenen und Verwundeten, Millionen Geflüchteten und wohl über einer Billion Euro in Wirtschaftsschäden stellt sich die Frage, wie es um die Zukunft der Ukraine bestellt ist.

Die derzeitige Situation ist für Kyiv schwierig. Die umfangreichen ukrainischen Offensiven des letzten Jahres haben ihre Ziele weitgehend verfehlt. Russland bombardiert weiterhin ukrainische Stellungen sowie zivile Infrastruktur und hat in jüngerer Zeit auch neues Territorium erobern können.

Anfang des Jahres wechselte Präsident Selenskyj dann gegen den Willen vieler westlicher Verbündeter die ukrainische Militärspitze aus. Die ukrainische Wirtschaft ist schwer belastet, Munitions- und Waffennachschub sind prekär und die dauerhafte Mobilisierung führt zu Unmut in der Gesellschaft.

Russland dagegen scheint unvermindert weiterzukämpfen. In den USA sind vor Kurzem Militärhilfen für die Ukraine im Repräsentantenhaus geblockt worden und Europa liefert die angekündigte Munition und Waffen bei weitem nicht so schnell und umfangreich, wie das versprochen war.

Wird also die Ukraine auf sich alleine gestellt sein? Wird Russland die Ukraine überwältigen? Welche politischen Optionen hat die Ukraine überhaupt? Und wie kann man ihr Streben nach Frieden, Souveränität und Freiheit am besten unterstützen?

Wie es jüngst an den Prognosen zur Kriegswahrscheinlichkeit kurz vor Beginn der russischen Vollinvasion gezeigt wurde, ist es schwierig, verlässliche Vorhersagen zu solchen komplexen Fragen zu treffen und, darauf aufbauend, angemessene Strategien zu entwickeln.

Dennoch kann die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit verschiedener Zukunftsszenarien seriös analysiert und eingegrenzt werden, insofern hier hinreichend sokratische Demut geübt wird. Gute Vorhersagen dieser Art vermeiden uneingeschränkte Behauptungen und basieren auf Kenntnissen des Konflikts, der Konfliktparteien sowie zu erforschten Regelmäßigkeiten von Regimen, Konflikten und außenpolitischen Tendenzen, die jenen im russisch-ukrainischen Krieg ähneln.

Was wird Russland tun?

Die bestehende Datenlage deutet darauf hin, dass Russland unvermindert versuchen wird, weiteres Territorium in der Ukraine zu erobern, besetztes Gebiet zu behalten und den Widerstandswillen der Ukraine durch andauernde Bombardierung zu brechen.

Hierfür gibt es viele miteinander verbundene Gründe. Zum einen hat das russische Regime schon seit Mitte der 2000er immer mehr Bereitschaft gezeigt, zur Verfolgung seiner Ziele hohe Risiken und Kosten zu akzeptieren. Obgleich westliche Sanktionen schon seit 2014 die russische Wirtschaft nachhaltig und negativ beeinflusst haben, gibt es keine robusten Hinweise darauf, dass sie den russischen Kriegskurs beeinflusst haben. Durch die formelle Annexion der Krim (2014) und vier weiterer ukrainischer Oblaste (2022) und nach über einem Jahrzehnt anti-ukrainischer Propaganda ist das Überleben des russischen Regimes eng mit der Zukunft dieser Gebiete verknüpft. Auch die jüngeren Verlautbarungen Putins – sei es bei der Pressekonferenz zum Jahresende 2023 oder in dem berüchtigten Interview mit dem US-amerikanischen Journalisten Tucker Carlson – deuten keinerlei Gesinnungswandel in der russischen Machtelite an.

Auch gibt es keine Anzeichen für eine anstehende Revolution in Russland. Russische Kriegsgegner*innen sind massiven Repressionen ausgesetzt; vor kurzem wurde gemeldet, dass der prominenteste russische Oppositionelle Alexey Navalni in Haft gestorben ist; die Wagner-Episode im letzten Jahr scheint die Stabilität des Regimes nicht erschüttert zu haben. In Umfragen relativ verlässlicher Institute wie dem Levada-Zentrum spiegelt sich eine hohe Beliebtheit Putins und eine optimistische Stimmung zur Lage des Landes in großen Teilen der russischen Bevölkerung wider. Putin wird wohl im März wenig Widerstand gegen seine Wiederwahl zu erwarten haben.

Werden die USA der Ukraine weiter zur Seite stehen?

Am 13. Februar wurde im US-Senat ein militärisches Hilfspaket für die Ukraine in der Höhe von 60 Milliarden US-Dollar verabschiedet. Im Repräsentantenhaus jedoch, wo die Republikanische Partei die Mehrheit hat, wurde die Entscheidung über das Paket für zwei Wochen vertragt und an Forderungen zur Finanzierung von Grenzsicherungsmaßnahmen gegenüber Mexiko geknüpft.

Dies trägt die Handschrift des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald J. Trump, der schon lange und heftig gegen die NATO gewettert, seine Sympathien für Putin kundgegeben und seine Skepsis gegenüber der Ukraine zum Ausdruck gebracht hat.

In der Tat steht im November dieses Jahres nicht nur das Amt des Präsidenten zur Wahl, sondern auch alle Sitze im Repräsentantenhaus sowie ein Drittel der Sitze im Senat.

Obgleich die Sorgen hinsichtlich einer republikanischen Regierung unter Trump begründet sind, spricht eine Reihe von Gründen dafür, dass sich auch in einem solchen Szenario die großen Linien der US-amerikanischen Politik gegenüber der NATO, Russland und der Ukraine nicht ändern werden.

Zum einen ist der Druck auf die Republikaner groß, die Ukraine nicht alleine zu lassen. Es gibt viele Republikaner*innen, die die Ukrainehilfen allgemein unterstützen. Daher kann die derzeitige Aufschiebung wohl eher als ein temporäres Zugeständnis an die radikalsten Trump-Anhänger in der Partei gelesen werden und zeigt wohl keinen allgemeinen Kurswechsel an.

Wie sich das schon während der ersten Trump-Regierung gezeigt hat, ist der US-Präsident einer ganzen Reihe von formellen und informellen „checks and balances“ unterworfen, mitunter durch den Senat, die Ministerien, die Trägheit bestehender Prozesse und Verpflichtungen sowie die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung.

Als Trump 2016 zum ersten Mal an die Macht kam, änderte sich dann auch nichts an der allgemeinen Ausrichtung der US-Politik gegenüber Russland und der Ukraine. Tatsächlich lieferten die USA in dieser Zeit erstmals Javelin-Raketenwerfer an Kyiv.

Obgleich natürlich eine zweite Trump-Amtszeit nicht einfach eine Wiederholung der ersten sein würde, weisen all diese Faktoren darauf hin, dass auch unter einer republikanischen Regierung die USA nicht aufhören würden, die Ukraine wirtschaftlich und militärisch zu unterstützen. Aber würde dies der Ukraine zum Sieg verhelfen?

Wie wird der Krieg weitergehen?

Sowohl Kyiv als auch der Kreml scheinen weiterhin an ihren Kriegszielen festzuhalten und einen militärischen Sieg über die jeweils andere Seite anzustreben. Das geht aus den andauernden Kriegsbemühungen und den Aussagen der Eliten auf beiden Seiten hervor.

Auch scheint der Kampfeswille beider Seiten ungebrochen. Verfügbare Informationen über die russische Mehrheitsmeinung suggerieren, dass Putin und damit implizit auch seine Kriegspolitik weiterhin von weiten Teilen der Bevölkerung akzeptiert werden. Auf ukrainischer Seite wird eine Kompromisslösung vehement und mit deutlicher Mehrheit abgelehnt.

Jedoch gibt es eine ganze Reihe von Faktoren, die darauf hinweisen, dass keine der Parteien kurz- oder mittelfristig einen strategischen Sieg erringen und seine maximalen Kriegsziele durchsetzen kann.

Zum einen gibt es in Kriegen eine allgemeine Tendenz, die auch und gerade in den letzten beiden Jahren des Ukrainekriegs zum Vorschein getreten ist, dass – wenn alle anderen Faktoren gleich sind – es leichter ist, Territorium zu verteidigen, als es zu erobern und zu halten.

Auch ist es eine lang andauernde Regelmäßigkeit, dass Staaten insbesondere dann mehr Kosten und Risiken in der Kriegsführung akzeptieren, wenn sie den Eindruck haben, dass sie den Konflikt zu verlieren beginnen. Solange daher auf einer Seite weiteres Eskalations- und Mobilisierungspotenzial besteht, ist ein militärischer Sieg der anderen Seite unwahrscheinlich.

Russland verfügt über ein deutlich höheres Mobilisationspotenzial als die Ukraine, sowohl in Bezug auf Menschen, als auch auf Material. Auch könnte das Regime im Zweifelsfall auch weitere Eskalationsschritte unternehmen – etwa eine Generalmobilmachung oder eine Inkaufnahme sinkender Lebensstandards in der russischen Bevölkerung, um mehr in den Krieg zu investieren.

Jedoch weist alles darauf hin, dass die ukrainischen Streitkräfte mit höherer Motivation kämpfen. Auch kann die Ukraine, anders als Russland, Zehntausende ihrer Soldaten in der EU ausbilden lassen. Weiterhin erhält die Ukraine, trotz aller politischen Probleme beim Timing und Umfang, umfangreiche Wirtschaftshilfe und Waffenlieferungen durch die NATO und deren Mitglieder.

In den letzten zehn Jahren hat sich dabei ein deutliches Muster gezeigt, in dem der globale Nordwesten seine Unterstützung für die Ukraine immer dann intensivierte, wenn Russland den Konflikt eskalierte. Das galt für die unmittelbare Zeit nach der Krimannexion und dem Beginn des Donbasskriegs im Jahre 2014 sowie unmittelbar nach Beginn der Vollinvasion 2022. Die westliche Unterstützung hielt trotz diverser Schocks an, darunter die erste Präsidentschaft von Trump sowie der Austritt Großbritanniens aus der EU. Obgleich dies für die Ukraine ein Zeichen der Hoffnung sein sollte, sind diese Tendenzen natürlich keine Naturgesetze, sondern hängen auch immer von konkreten politischen Entscheidungen ab.

Welche Optionen haben die Ukraine und ihre Verbündeten?

Da viele der oben genannten Faktoren es kurz- und mittelfristig unwahrscheinlich machen, dass die Ukraine ihre Ziele militärisch durch einen strategischen Sieg erringen wird, und da das Streben nach einem solchen Sieg auch mit enormen Risiken und Kosten behaftet ist, sollten Friedensstrategien jenseits eines solchen ukrainischen Siegs erwogen, ermöglicht und umgesetzt werden.

Aber auch, wenn eine alternative Friedensstrategie verfolgt wird, bleibt die militärische Dimension des Krieges von höchster Bedeutung. Denn gerade für die Ermöglichung von Frieden müsste zumindest sichergestellt werden, dass die Ukraine weiterhin in der Lage ist, dem andauernden militärischen Druck eines immer noch nach Maximalzielen strebenden Russlands standzuhalten.

Hierdurch würden unmittelbar das Leben, die Freiheit und die Sicherheit der Menschen in der unbesetzten Ukraine weiter verteidigt. Ebenso würde dies den dringend nötigen Wiederaufbau der ukrainischen Wirtschaft und Gesellschaft erlauben – auch schon in Kriegszeiten, denn die könnten noch lange andauern.

Weiterhin würden sich durch ukrainische Resilienz die langfristigen Chancen auf Deeskalation oder gar ernsthafte Verhandlungen erhöhen. Dies wäre der Fall, wenn Russland durch eine Verteidigungs- und Resilienzstrategie der Ukraine zunehmend die Hoffnung auf einen strategischen Sieg verliert und aufgrund der andauernden Kosten des Krieges zunehmend nicht-kriegerische Alternativen erwägen muss. Diese Möglichkeit besteht: Obgleich das Putin-Regime den Krieg bisher sehr brutal und unerbittlich geführt hat, weist sein Verhalten auch weiter Grenzen der Risikobereitschaft auf.

Auch würde eine Verteidigungs- und Resilienzstrategie der Ukraine die Chance geben, ihre Ressourcen zu schonen und im Falle von Änderungen in der russischen Innenpolitik besser handeln (und verhandeln) zu können.

Wie auch von US-amerikanischen Militärexpert*innen dargelegt, wäre eine solche ukrainische Verteidigungsstrategie nicht passiv, sondern würde effizientes und konservatives Kämpfen, den Schutz des Gehaltenen, Vermeidung von Risiken und die Kosten für den Aggressor priorisieren.

Eine solche Verteidigungs- und Resilienzstrategie bedeutet nicht die Aufgabe des Fernziels von Frieden und vollständiger Freiheit für die Ukraine, sondern den vielversprechendsten Pfad dorthin. Sie würde es Kyiv erlauben, an seinen legitimen und von der großen Mehrheit der Bevölkerung gestützten Zielen festzuhalten, ohne darauf angewiesen zu sein, diese Ziele kurzfristig erzwingen zu müssen und das Risiko eines eventuellen Scheiterns zu tragen. Das betrifft auch die Wiedereingliederung der besetzten Gebiete, russische Reparationen und zukünftige Mitgliedschaft in der EU und in der NATO.

Deutschland und andere Verbündete könnten und sollten eine solche Verteidigungs- und Resilienzstrategie durch eine ganze Reihe von Maßnahmen flankieren und unterstützen. Dies betrifft insbesondere die militärstrategische Notwendigkeit von verlässlichen und hinreichenden Wirtschafts- und Militärhilfen, damit die Ukraine sich weiter verteidigen kann und die Kosten des Krieges für das russische Regime weiter steigen. Die Sicherheits- und Kooperationsabkommen, welche die Ukraine jüngst mit Großbritannien, Frankreich und Deutschland abgeschlossen hat, sind ein gutes Signal in diese Richtung, müssten aber umfassend und effektiv umgesetzt werden.

Zweitens können und sollten die Verbündeten der Ukraine weiterhin auch vermehrt Druck auf Russland ausüben, um die Kosten der andauernden Aggression in die Höhe zu treiben und nicht-kriegerische Strategien attraktiver zu machen. Das beinhaltet die Aufrechterhaltung und auch Intensivierung von Sanktionen und diplomatischen Bemühungen, um Russlands Verhalten international abzustrafen.

Für Deutschland und andere Verbündete der Ukraine kann eine solche Verteidigungs- und Resilienzstrategie nicht als Entschuldigung für ein nachlassendes Engagement herhalten. Ganz im Gegenteil: Prognosen derzeitiger russischer Nach- und Aufrüstungsmaßnahmen zeigen, dass der Druck auf die Ukraine 2025 und 2026 wohl noch weiter steigen wird. Dem müsste schon jetzt Rechnung getragen werden. Umfangreiche Wirtschafts- und Militärhilfen, Sanktionen, konsequente diplomatische Signale und auch explizite Verpflichtungen wären notwendig, um klarzustellen, dass die Ukraine keine Furcht davor haben muss, dass der Westen sie aufgibt – und dass das Putin-Regime nicht darauf hoffen kann.

Jonas J. Driedger

Jonas J. Driedger

Dr. Jonas J. Driedger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Programmbereich „Internationale Sicherheit“ am PRIF sowie am Forschungszentrum Transformations of Political Violence (TraCe). Er forscht zu zwischenstaatlichen Kriegen, Abschreckung in den internationalen Beziehungen, Beziehungen zwischen Großmächten und ihren Nachbarstaaten sowie russischer und transatlantischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik. // Dr Jonas J. Driedger is a Researcher at the Research Department “International Security” at PRIF and at the Research Center Transformations of Political Violence (TraCe). His research focuses on interstate wars, deterrence in international politics, relations between great powers and their neighboring states as well as Russian and transatlantic security and defense policy.

Jonas J. Driedger

Dr. Jonas J. Driedger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Programmbereich „Internationale Sicherheit“ am PRIF sowie am Forschungszentrum Transformations of Political Violence (TraCe). Er forscht zu zwischenstaatlichen Kriegen, Abschreckung in den internationalen Beziehungen, Beziehungen zwischen Großmächten und ihren Nachbarstaaten sowie russischer und transatlantischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik. // Dr Jonas J. Driedger is a Researcher at the Research Department “International Security” at PRIF and at the Research Center Transformations of Political Violence (TraCe). His research focuses on interstate wars, deterrence in international politics, relations between great powers and their neighboring states as well as Russian and transatlantic security and defense policy.

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