Die gemeinsame Erklärung der Bundesregierung und der namibischen Regierung zur kolonialen Aufarbeitung scheint vor dem Aus zu stehen. Nachdem die Verhandlungen 2021 mit der Formulierung der gemeinsamen Erklärung zunächst Fortschritte erzielten, scheint sich nun wegen der vorgezogenen Wahlen das Zeitfenster für ihre Verabschiedung in Deutschland zu schließen. Damit ist zu erwarten, dass auch der 2015 von der großen Koalition begonnene staatliche Versöhnungsprozess stagniert bzw. sein Ende gefunden haben könnte. Zu einem Wahlkampfgegenstand scheint jedenfalls derzeit keine Partei das Thema machen zu wollen. Dass eine neue Regierung unter christdemokratischer Führung nochmals eine Initiative wagt, darf bezweifelt werden. Wie kam es dazu?
Lange Zeit galt Deutschlands koloniale Vergangenheit und mit ihr das Kapitel Deutsch-Südwestafrika in Deutschland als abgeschlossen und vernachlässigbar; war Deutschland doch erst spät und nur für eine kurze Zeit Kolonialmacht gewesen. Das Deutsche Reich – ab 1884 Schutzmacht über Deutsch Südwestafrika – musste nach dem Ersten Weltkrieg alle Kolonien abtreten. Die koloniale Episode war damit zwar im Vergleich zu anderen Kolonialmächten in der Tat kurz, keinesfalls jedoch vernachlässigbar. So kostete die Niederschlagung der Aufstände der Ovaherero und Nama (1904-1908) und die folgende Internierung in Konzentrationslagern Schätzungen zufolge 100.000 Menschen das Leben; etwa 80 Prozent der Ovaherero und 50 Prozent der Nama starben. Weite Teile des zuvor von Nama und Ovaherero bewohnten Landes fielen an deutsche Siedler oder das Deutsche Reich. Nicht zuletzt, da eine Vernichtungsabsicht durch den sog. Vernichtungsbefehl seitens des deutschen Generals von Trotha als gut belegt gilt, wurde das deutsche Vorgehen 1984 von den Vereinten Nationen als Genozid anerkannt. Trotzdem blieb die Erinnerung an die Kolonialzeit in Deutschland zunächst überdeckt von den beiden verlorenen Weltkriegen und dem Holocaust. Zudem gab es nach dem Ende der deutschen Kolonialzeit weiterhin Fremdherrschaft in Namibia durch die Briten und später Südafrika, so dass es aus deutscher Sicht keine Notwendigkeit gab, die Beziehungen zu definieren und die Vergangenheit aufzuarbeiten. Dies änderte sich jedoch mit der Unabhängigkeit Namibias. So stellte der Bundestag im April 1989 eine besondere deutsche Verantwortung gegenüber dem auf dem Weg zur Unabhängigkeit und im Übergang zur Demokratie befindlichen Namibia fest. Ohne eine explizite Schuld zu benennen, wurde eine solche so indirekt eingestanden. So bekannte der damalige Kanzler Helmut Kohl 1995 in einer Rede anlässlich eines offiziellen Besuchs in Namibia, dass Deutschland und Namibia aus „allseits bekannten Gründen“ „eng verbunden“ seien. Schuld und Verantwortung fanden in seiner Rede keinen Platz; Treffen mit Vertreter*innen der Nama und Ovaherero fanden nicht statt.
Dies änderte sich erst ab dem Jahrtausendwechsel angesichts des bevorstehenden 100. Jahrestages der Schlacht am Waterberg (1904) langsam. So reichten Vertreter:innnen der Ovaherero um Kuaima Riruako 2002 vor einem US-Gericht Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland ein und forderten zwei Milliarden US-Dollar als Wiedergutmachung. Die Klage blieb erfolglos, führt aber dazu, dass das Thema in die öffentliche Aufmerksamkeit rückte. Anlässlich der Gedenkfeierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Herero-Aufstände 2004 bat schließlich die damalige Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Wieczorek-Zeul in ihrer Rede um Vergebung für etwas, „was heute als Völkermord bezeichnet würde.“ Diese persönliche Entschuldigung – denn eine offizielle Regierungsposition stellte sie zu diesem Zeitpunkt nicht dar – bereitete sprachlich den Weg für weitere Schritte. Dennoch dauerte es weitere zehn Jahre, ehe konkrete Schritte zu einer Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit unternommen wurden. Das Jahr 2015 wurde diesbezüglich zentral. Zum einen reichte eine Delegation um den Ovaherero-Chief, Vekuii Rukoro, eine Petition beim Bundespräsidenten ein, die Wiedergutmachung forderte. Zum anderen setzte die Frage um die Anerkennung des Genozids an den Armeniern (1915/1916) die Bundesregierung unter Druck und veranlasste den Präsidenten des Bundestages Norbert Lammert, in einem Beitrag in der „Zeit“ mit den Worten „Wer in der Bundesrepublik vom Armenier-Genozid spricht, darf vom deutschen Völkermord an den Herero und Nama nicht schweigen“ auch die Anerkennung der Verbrechen des Deutschen Reiches in Namibia als Völkermord zu fordern. Wenig später übernahm das Auswärtige Amt diese Position und beide Regierungen traten in einen Dialog über mögliche Versöhnungsmaßnahmen. Als Sondergesandter für die deutsch-namibischen Beziehungen wurde Ruprecht Polenz (CDU) ernannt, der die Verhandlungen von deutscher Seite aus führte.
Das Versöhnungsabkommen
Im Jahr 2021 schienen die Zeichen gut dafür zu stehen, ein gemeinsames Versöhnungsabkommen zu verabschieden. So wurde im Mai 2021 eine erste Version einer gemeinsamen Erklärung mit dem Titel „Vereint im Gedenken an unsere koloniale Vergangenheit, vereint im Willen zur Versöhnung, vereint in unserer Vision für die Zukunft“ veröffentlicht. Diese beinhaltete eine Entschuldigung der Bundesregierung, für „events that, from today’s perspective, would be called genocide“ und orientiert sich dabei an der bereits von Wieczorek-Zeul genutzten Formulierung. Die zu entschuldigenden kolonialen Verbrechen umfassen laut Erklärung neben den Vernichtungskriegen gegen die Ovaherero und Nama und der Internierung der Überlebenden in Konzentrationslager auch die Enteignung der betroffenen Gruppen und die unrechtmäßige und entwürdigende Verbringung menschlicher Überreste nach Deutschland zur Nutzung für pseudowissenschaftliche Forschung. Für diese Taten räumte die Bundesregierung in der gemeinsamen Erklärung eine politisch-moralische, nicht aber juristische Schuld ein. Entsprechend sah die Erklärung keine Reparationen, sondern die Zahlung von Entwicklungshilfen vor. Über 30 Jahre sollten insgesamt 1,1 Milliarden Euro gezahlt werden, von denen der Großteil in einen besonderen Entwicklungsfond fließen sollte, der insbesondere Gemeinden unterstützen soll, in denen bedürftige Nachfahren leben. Ein kleiner Anteil von 50 Millionen war für Versöhnungs-, Erinnerungs- und Forschungs- bzw. Bildungsprojekte vorgesehen. Im Gegenzug sah die Erklärung vor, dass die Namibische Regierung im Namen aller Namibier*innen die deutsche Entschuldigung annahm, um das „painful chapter of the past“ zu schließen und „a new dawn in the relationship between our two countries and peoples” einzuleiten. Auch die neue Ampelregierung nannte in ihrem Koalitionsvertrag die Aussöhnung mit Namibia, „als unverzichtbare Aufgabe, die aus unserer historischen und moralischen Verantwortung erwächst“ und welche der Auftakt zu einem „gemeinsamen Prozess der Aufarbeitung“ sein könne. So gingen auch unter der neuen Bundesregierung die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen weiter. Allerdings ohne den bisherigen namibischen Verhandlungsführer Dr. Ngavirue, der im Juni 2021 verstarb.
Kritik und Scheitern
Kritik entzündete sich schon sehr früh vor allem am Prozess der Verhandlungen. Diese waren bilateral auf staatlicher Ebene angesetzt. Vertreter*innen der Betroffenen nahmen zwar an den Verhandlungen teil, jedoch nur als Teil der staatlichen Delegation. Einige Akteure, etwa die Ovaherero Traditional Authority und die Nama Traditional Leaders Association, lehnten dies ab. Unter dem Slogan „Alles über uns, ohne uns, ist gegen uns!“ sprachen sie in Folge der Delegation das Recht ab, ohne sie, aber in ihrem Namen Verhandlungen zu führen und bewerteten die Ergebnisse dementsprechend als illegitim. Sie beriefen sich dabei auf die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker, nach der Indigene das Recht auf Beteiligung an der Entscheidungsfindung in Angelegenheiten haben, die ihre Rechte betreffen. Nach Einschätzung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages wäre eine solche direkte Aushandlung mit den Betroffenen möglich gewesen – jedoch nur mit Zustimmung der namibischen Regierung. Hierzu kam es jedoch nicht, so dass Teile des namibischen Parlaments die Zustimmung zur Erklärung verweigerten. Inhaltlich drehte sich die Kritik wesentlich um die Frage nach Reparationen und des juristischen Schuldeingeständnisses. Während die Bundesregierung den formaljuristischen Standpunkt vertrat, dass Deutschland lediglich eine politisch-moralische Schuld trage, da die Völkermord-Konvention erst später in Kraft trat, forderten Opferverbände ein klares und uneingeschränktes Schuldeingeständnis und der Tat angemessene Reparationen. Die Kritik führte zu einer Blockade im namibischen Parlament. Lange war spekuliert worden, ob die namibische Seite angesichts des im März 2025 bevorstehenden Regierungswechsels und den in Deutschland anstehenden Wahlen die Erklärung noch im Januar durchs Parlament bringen würde. Dies ist nicht passiert. Überdies scheint sich in Deutschland nun das Zeitfenster geschlossen zu haben, die Erklärung noch in dieser Legislaturperiode anzunehmen. Ob letztlich Zeitgründe, die aktuellen Mehrheitsverhältnisse oder die Tatsache, dass keine der beteiligten Regierungsparteien das Thema zum Wahlkampfthema machen wollte, ursächlich waren, bleibt unklar.
Ausblick
In den Wahlprogrammen der sieben Parteien, die nach derzeitigem Stand in das neue Parlament einziehen könnten, finden sich lediglich in vier Hinweise auf den Umgang mit dem Kolonialismus und in zwei auf den konkreten Versöhnungsprozess mit Namibia. Während die CDU die bisherige Erinnerungskultur in Deutschland um die Geschichte des Kolonialismus ergänzen möchte, in Bezug auf die Versöhnung mit Namibia aber keine Position formuliert, gehen die Wahlprogramme von SPD und Bündnis 90/Die Grünen darüber hinaus. So bekennt sich die SPD zur Aufarbeitung der Verbrechen des Kolonialismus, zur Überwindung kolonialer Kontinuitäten und zur Aussöhnung mit Namibia, als „unverzichtbare Aufgabe, die aus unserer historischen und moralischen Verantwortung erwächst“. Ähnlich wollen Bündnis 90/Die Grünen den angestoßenen Versöhnungs- und Aufarbeitungsprozess mit ehemaligen deutschen Kolonien wie Namibia „konsequent fortführen“. Die AfD wendet sich in ihrem vorläufigen Wahlprogramm gegen „die zunehmend aggressiven Versuche einer ideologisch geprägten, moralisierenden Umdeutung der Geschichte, die sich an der Schleifung von Denkmälern und Umbenennung von Straßen festmacht“. In Bezug auf Namibia und das Versöhnungsabkommen finden sich, ähnlich wie bei den übrigen Parteien (FDP, BSW und Linken), keine Hinweise im Parteiprogramm.
Ebenso gleichgültig bis polarisiert ist auch das Wahlvolk. Eine repräsentative Umfrage aus dem Dezember 2024 ergab, dass 56 Prozent der Befragten keine Meinung dazu haben oder sich keine Einschätzung zutrauen, ob es sich bei den Kriegen gegen die Ovaherero und Nama aus heutiger Sicht um einen Genozid handelt. Dieser indifferenten Mehrheit stehen 37 Prozent gegenüber, die diese Frage bejahen, und sieben Prozent, die sie verneinen.
Vor diesem Hintergrund ist es eher unwahrscheinlich, dass eine kommende Regierung – aller Wahrscheinlichkeit nach unter Führung von Friedrich Merz – das Versöhnungsabkommen erneut aufgreifen wird. Somit kann der staatszentrierte Top-down-Versöhnungsansatz als vorerst gescheitert angesehen werden. Es wird also in Zukunft noch stärker auf lokale, zivilgesellschaftliche und akademische Kooperationen und Projekte zur Aufarbeitung ankommen.