Im Januar 2025 führten gewaltsame Zusammenstöße zwischen konkurrierenden bewaffneten Gruppen in der Region Catatumbo zu einer der schlimmsten humanitären Krisen in der jüngeren Geschichte Kolumbiens. Mindestens 55 Zivilisten starben und mehr als 50.000 Menschen wurden vertrieben. Obwohl die Regierung von Gustavo Petro den nationalen Notstand ausgerufen und das Militär eingesetzt hat, bleibt die Lage angespannt. In diesem Artikel, der auf einem englischsprachigen TraCe Policy Brief basiert, identifizieren wir die Hauptursachen für die jüngste Eskalation der Gewalt und erörtern die Auswirkungen auf laufende und künftige Versuche, Frieden in Kolumbien zu schaffen.
Am 16. Januar 2025 eskalierte die Gewalt in Catatumbo, einer Region im Nordosten Kolumbiens an der Grenze zu Venezuela. Im Zentrum des Disputs standen die einzige verbliebene Guerillaorganisation Kolumbiens, das Ejército de Liberación Nacional (ELN), und der Frente 33, eine bewaffnete Splittergruppe, die aus der Demobilisierung der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo (FARC-EP) hervorgegangen ist. Als Reaktion auf die Ermordung einer Familie in Tibú, die dem Frente 33 zugeschrieben wurde, griff das ELN Mitglieder und vermeintliche Unterstützer*innen der FARC-EP-Dissidentengruppe an und löste damit gewaltsame Zusammenstöße zwischen den beiden Gruppen aus.1 Innerhalb weniger Tage wurden nach Angaben des kolumbianischen Verteidigungsministeriums mehr als 50.000 Menschen gewaltsam vertrieben und mindestens 55 Menschen ermordet. Damit wurden diese Ereignisse zu „einer der schlimmsten humanitären Krisen, die Kolumbien seit Jahrzehnten erlebt hat“. Am 20. Januar reagierte die kolumbianische Regierung, indem Präsident Gustavo Petro den Ausnahmezustand (estado de conmoción interna) ausrief und fast 10.000 Soldaten entsandte.
In diesem Artikel beleuchten wir in Kürze den Kontext der jüngsten Ereignisse in Catatumbo und erörtern die wichtigsten Ursachen, die die Gewalteskalation erklären helfen. Abschließend diskutieren wir die Auswirkungen auf die Umsetzung des Friedensabkommens, das der kolumbianische Staat 2016 mit der FARC-EP-Guerilla geschlossen hatte, sowie auf die ehrgeizige Friedens-Agenda (Paz Total) der Regierung Petro.
Kontext: Die Region Catatumbo
Catatumbo liegt im Department Norte de Santander im Nordosten Kolumbiens, an der Grenze zu Venezuela. Es umfasst 11 Gemeinden und zwei indigene Reservate (Motilón-Barí und Catalaura). In der Region leben rund 370.000 Einwohner*innen, fast die Hälfte davon in ländlichen Gebieten. Catatumbo besitzt eine große biologische Vielfalt und natürliche Ressourcen, darunter fruchtbares Land für die Landwirtschaft, eine vielfältige Flora und Fauna sowie bedeutende Mineral- und Energiereserven.
Jahrzehntelange bewaffnete Konflikte haben das soziale Gefüge von Catatumbo stark beeinträchtigt. Seit den 1970er Jahren waren Guerillagruppen wie das ELN, die Volksbefreiungsarmee (Ejército Popular de Liberación – EPL) und die FARC-EP in der Region stark vertreten. Nach 1999 verschärfte das Auftauchen paramilitärischer Gruppen die territorialen Auseinandersetzungen, was zu einem starken Anstieg von Massakern, Zwangsvertreibungen, erzwungenem Verschwinden und sexueller Gewalt führte. Nach der Demobilisierung der Paramilitärs in den frühen 2000er Jahren verstärkten die Guerillagruppen ihre Präsenz wieder, und seit der Demobilisierung der FARC-EP im Jahr 2017 ist das ELN zur dominierenden bewaffneten Gruppe in der Region geworden. Angesichts der Bedeutung des Koka-Anbaus in Catatumbo und seiner entscheidenden Rolle für den grenzüberschreitenden Drogenhandel ist die Region von strategischer Bedeutung für das ELN, die Venezuela auch als Zufluchtsort und Operationsbasis nutzt. Während der Staat eine begrenzte Präsenz in Catatumbo beibehalten hat, war es bis zuletzt vor allem die FARC-EP-Dissidentengruppe Frente 33, die die territoriale Kontrolle des ELN über Catatumbo weiterhin in Frage stellte (siehe hier und hier).
Ursachen: Was erklärt die jüngste Gewalteskalation?
Die jüngste Eskalation der Gewalt in Catatumbo und die schwerwiegende humanitäre Krise sind das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von Faktoren zurück, die die Konfliktdynamik in der Region geprägt haben.

Strukturelle Ursachen, die die Bedingungen für den erneuten Zyklus bewaffneter Konflikte geschaffen haben, sind unter anderem die strategische Bedeutung Catatumbos für bewaffnete Gruppen und eine Geschichte der Vernachlässigung durch den Staat, in der Grundbedürfnisse wie Gesundheitsfürsorge, Bildung, sauberes Wasser und Wohnraum weitgehend unerfüllt geblieben sind. Die sozioökonomische Marginalisierung der Region wird dadurch weiter vertieft. In diesem Kontext haben nichtstaatliche bewaffnete Gruppen wie das ELN parallele Regierungsstrukturen geschaffen, die das tägliche Leben regeln. Sie sorgen für Sicherheit, schlichten Streitigkeiten und beaufsichtigen sowohl legale als auch illegale wirtschaftliche Aktivitäten. Neben der Zwangsrekrutierung und Erpressung zwingen die bewaffneten Gruppen die Zivilbevölkerung zugleich zur Loyalität und bestrafen diejenigen, die der Kollaboration mit dem „Feind“ verdächtigt werden. Lokale Gemeinschaften befinden sich daher in einem sehr schwierigen Umfeld, in dem rivalisierende Gruppen konkurrierende Forderungen nach Zusammenarbeit stellen, die mit Gewalt durchgesetzt und bestraft werden. Vor diesem Hintergrund haben die Versuche des kolumbianischen Staates, der Situation in Catatumbo mit militärischen Mitteln zu begegnen, die Verwundbarkeit der lokalen Bevölkerung eher noch verstärkt (siehe z.B. hier).
Ausgehend von diesen strukturellen Bedingungen lassen sich es zwei situative Ursachen identifizieren, die die jüngste Gewalteskalation erklären helfen:
(1) Die Stärkung des ELN
Nach der Demobilisierung der FARC-EP im Rahmen des Friedensabkommens von 2016 konnte u.a. das ELN das Machtvakuum in ehemaligen FARC-EP-Hochburgen ausnutzen und nach und nach Gebiete und illegale Wirtschaftszweige übernehmen, die zuvor von dieser bis dato konkurrierenden Guerrilla kontrolliert wurden. Offiziellen Schätzungen zufolge war das ELN im Jahr 2018 bereits von etwa 3.000 auf 4.000 Mitglieder angewachsen. Bis 2024 soll diese Zahl auf mehr als 6.000 Kämpfer angewachsen sein, was das ELN zur größten aktiven bewaffneten Gruppe in Kolumbien macht. Das ELN hat auch seine territoriale Präsenz ausgeweitet, von 96 Gemeinden im Jahr 2016 auf 231 Gemeinden im Jahr 2024. In jüngster Zeit sah sich das ELN jedoch zunehmend militärischen Herausforderungen durch konkurrierende bewaffnete Gruppen ausgesetzt, insbesondere durch den Clan del Golfo, eine postparamilitärische Gruppe, die auch als Autodefensas Gaitanistas de Colombia (AGC) oder Ejército Gaitanista de Colombia (EGC) bekannt ist. In diesem Zusammenhang hat die Grenzregion zu Venezuela, insbesondere Catatumbo, für das ELN weiter an strategischer Bedeutung gewonnen. Einerseits ist Catatumbo, wie die unabhängige Denkfabrik InSight Crime feststellte, „zu einem der profitabelsten Koka-Märkte Kolumbiens geworden“, der über gut etablierte Drogenhandelsrouten nach Venezuela verfügt. In den letzten Jahren hat das ELN auch seine Präsenz und seine Operationen in diesem Nachbarland erheblich ausgeweitet und ist faktisch zu einer „binationalen Guerilla“ geworden, während es gleichzeitig sein Engagement im illegalen Bergbau in Venezuela ausweitete (siehe z.B. hier).
(2) Die nicht-intendierten Auswirkungen der Friedensagenda der Regierung
Seit dem Amtsantritt von Gustavo Petro im August 2022 hat die Regierung eine ehrgeizige Agenda verfolgt, die sie Paz Total oder Vollkommener Frieden nennt. Ziel war und ist es, Friedensabkommen mit allen wichtigen bewaffneten Gruppen auszuhandeln, einschließlich des ELN und des Bündnisses der FARC-EP-Dissidentengruppen, dem die Frente 33 in Catatumbo angehört (Estado Mayor Central – EMC, jetzt Estado Mayor de los Bloques y Frentes – EMBF).2 Im Rahmen der Friedensgespräche der Regierung mit dem ELN und dem EMC erzielten das ELN und der Frente 33 Berichten zufolge 2022 ein informelles Abkommen in Catatumbo, das im Wesentlichen die territoriale Kontrolle aufteilte. Gleichzeitig führten die Friedensgespräche zu einem vorübergehenden Waffenstillstand, der die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen ELN und EMC auf der einen und den staatlichen Sicherheitskräften auf der anderen Seite reduzierte. In Catatumbo ermöglichte es dieses Arrangement beiden Gruppen, zeitweise leidlich gewaltarm zu koexistieren und gleichzeitig von einem geringeren militärischen Druck zu profitieren. Im August 2024 lief der Waffenstillstand zwischen dem ELN und der Regierung jedoch aus, da die Friedensgespräche zu Spaltungen innerhalb der Guerillaorganisationen geführt hatten, während die Gespräche mit dem EMBF (nach ihrer Abspaltung vom EMC) fortgesetzt wurden.
ELN: Mit rund 6.000 Kämpfern ist die ELN-Guerilla derzeit die größte nichtstaatliche bewaffnete Gruppe in Kolumbien. Mit der ELN waren die Friedensverhandlungen am weitesten fortgeschritten, gerieten aber 2024 in eine Krise, als eine wichtige ELN-Fraktion (Frente Comuneros del Sur) getrennte Gespräche mit der Regierung suchte.
Clan del Golfo: Der Clan del Golfo (oder AGC oder EGC) ging aus der Demobilisierung der Paramilitärs in den frühen 2000er Jahren hervor und entwickelte sich schnell zu einer großen kriminellen Organisation mit nationaler Reichweite. In den letzten Jahren ist sie besonders aggressiv gewachsen und expandiert und soll rund 5.000 Mitglieder haben. Nach einem Jahr der Sondierung kündigte die Regierung von Petro im Februar 2025 den Beginn von Verhandlungen mit der Gruppe an.
Dissidentengruppen der FARC-EP: Das breite und vielfältige Spektrum der Disidencias umfasst Gruppierungen, die sich weigerten, ihre Waffen niederzulegen, demobilisierte Kämpfer*innen, die zu den Waffen zurückgekehrt sind, und neu rekrutierte Mitglieder. Im Laufe der Jahre haben sich zwei konkurrierende Bündnisse herausgebildet, die im Jahr 2023 schätzungsweise fast 4.000 (EMC) und 2.000 Mitglieder (Segunda Marquetalia) hatten. Die Verhandlungen mit der Petro-Regierung waren schwierig und führten 2024 zu Spaltungen innerhalb beider Bündnisse. Die EMC-Splitterfraktion, die sich jetzt EMBF nennt, hat die Gespräche mit der Regierung fortgesetzt.
Beobachter*innen zufolge haben sowohl das ELN als auch die FARC-EP-Dissidentengruppen die Friedensgespräche und den Waffenstillstand genutzt, um ihre Macht zu konsolidieren, die territoriale Kontrolle auszuweiten und ihren Einfluss auf die lokale Bevölkerung und die illegale Wirtschaft zu verstärken, was zu zunehmenden Zusammenstößen zwischen den konkurrierenden bewaffneten Gruppen führte (siehe hier und hier). Im November 2024 gab die kolumbianische Ombudsstelle eine Warnung für Catatumbo heraus und verwies auf zunehmende gewalttätige Aktivitäten des ELN als Reaktion auf die Wiederaufnahme der Militäroperationen durch die staatlichen Sicherheitskräfte nach dem Ende des bilateralen Waffenstillstands, die Ausdehnung der FARC-EP-Dissidentengruppe Frente 33 und zunehmende Spannungen zwischen ELN und Frente 33. Im Januar 2025 beschloss das ELN schließlich offensichtlich, seinen Rivalen aus Catatumbo zu vertreiben.
Auswirkungen auf Kolumbiens schwierigen Weg zum Frieden
Die jüngste Eskalation der Gewalt in Catatumbo hat Auswirkungen, die über die dramatische humanitäre Krise in der Region selbst hinausgehen.
Erstens belasten die jüngsten Ereignisse in Catatumbo die Umsetzung des Friedensabkommens von 2016 zusätzlich. Dies betrifft vor allem den Prozess der Wiedereingliederung ehemaliger FARC-EP-Kämpfer*innen. Am 22. Januar 2025 wurde in einem Bericht des Büros der Ombudsstelle über die Krise in Catatumbo festgestellt, dass 102 ehemalige Kämpfer*innen zwangsumgesiedelt wurden, sieben verschwunden sind und sechs demobilisierte Kämpfer getötet wurden. Dieser Mangel an wirksamem staatlichen Schutz und Sicherheitsgarantien untergräbt das Engagement der ehemaligen Kämpfer*innen für das Friedensabkommen. Das ELN hat zugegeben, ehemalige FARC-EP-Mitglieder ins Visier genommen zu haben, und behauptet, diese angeblich demobilisierten Kämpfer hätten sich in Wirklichkeit der Dissidentengruppe Frente 33 angeschlossen. Wie dem auch sei: Dieses Narrativ gefährdet die persönliche Sicherheit und das Wohlergehen aller Ex-Kombattanten, die sich noch im Reintegrationsprozess befinden. Darüber hinaus untergräbt es die Beziehungen zwischen den Ex-Kombattanten und den lokalen Gemeinschaften, die eine entscheidende Grundlage für erfolgreiche Reintegrationsprozesse darstellen.
Darüber hinaus dürfte die Unfähigkeit der Regierung, der Zivilbevölkerung ein Mindestmaß an Schutz zu bieten, das Vertrauen in die staatlichen Institutionen weiter untergraben haben und damit die Rekrutierung bewaffneter Gruppen vor Ort erleichtern. Die militärische Reaktion der Regierung auf die Gewalt hat die Situation zwar zumindest vorübergehend beruhigt, doch die Militarisierung allein bietet keine nachhaltige Lösung. Wie führende Gemeindevertreter*innen aus Catatumbo warnen, haben militärische Offensiven gegen bewaffnete Gruppen in der Vergangenheit zu „Stigmatisierung“, „Kriminalisierung der Zivilbevölkerung“ und „Menschenrechtsverletzungen seitens der Streitkräfte“ geführt.
Zweitens hat die Krise in Catatumbo auch wichtige Auswirkungen auf künftige Friedensverhandlungen. Zahlreiche Studien haben, auch wenn sie das Ziel, mit allen wichtigen bewaffneten Gruppen über Frieden zu verhandeln, unterstützen, auf Mängel in der Konzeption und Umsetzung der Paz Total-Agenda hingewiesen.3 Die jüngsten Ereignisse in Catatumbo unterstreichen mehrere zentrale Herausforderungen für diese Strategie und künftige Verhandlungen. Wie die Entwicklungen in Catatumbo zeigen, können Waffenstillstände, die weder mit einer Verringerung der illegalen Aktivitäten noch mit einer verstärkten staatlichen Präsenz in den jeweiligen Regionen einhergehen, von bewaffneten Gruppen zur Expansion und Stärkung genutzt werden. Catatumbo bestätigt auch die Notwendigkeit, Verhandlungen mit einzelnen Gruppen, einschließlich Waffenstillständen, besser zu koordinieren, damit Gruppen, die sich an Vereinbarungen halten, nicht von anderen ausgenutzt werden. Auf einer grundsätzlicheren Ebene wirft die Krise die schwierige Frage auf, wie bewaffnete Gruppen, die stark vom boomenden Drogenhandel profitieren, davon überzeugt werden können, ernsthaft über Frieden zu verhandeln und damit ihr Geschäftsmodell zur Disposition zu stellen. Diese Herausforderung ist besonders groß, insofern es diesen Gruppen kaum mehr darum geht, den Staat zu bekämpfen, sondern stattdessen primär untereinander um die Kontrolle illegaler Wirtschaftszweige konkurrieren.
Insbesondere stellt die Krise eine schwere Belastung für künftige Verhandlungen mit dem ELN dar. Nach einer ernsten Krise in den Gesprächen der Regierung mit dieser Guerilla hatten sich beide Seiten Ende 2024 gerade darauf geeinigt, die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Als Reaktion auf die gewalttätige Offensive des ELN in Catatumbo setzte die Regierung die Gespräche offiziell wieder aus und reaktivierte auch die Haftbefehle gegen ELN-Unterhändler. Es wird sehr schwierig sein, die Gespräche wieder aufzunehmen und ein Mindestmaß an Vertrauen wiederherzustellen. Die Krise – und insbesondere die Aktionen des ELN – werden auch die Unterstützung der Bevölkerung für künftige Verhandlungen weiter untergraben. Angesichts der allgemeinen Stärke des ELN ist eine Alternative zu einer Verhandlungslösung jedoch ebenso schwer vorstellbar.
Dieser Artikel ist eine Übersetzung des englischsprachigen TraCe Policy Brief No 08 „Escalation of Violence amidst Colombia’s Struggle for Peace: Causes and Implications of Catatumbo’s Humanitarian Crisis“. Die Übersetzung wurde gestützt durch DeepL-Übersetzer erstellt und anschließend manuell editiert.