Ein zentrales Element des kolumbianischen Friedensprozesses mit der FARC-Guerilla bildet die kollektive Wiedereingliederung der ehemaligen Kombattant:innen in eigens dafür eingerichteten „territorialen Reinkorporationsräumen“. Eine Umfrage in sieben ländlichen Gemeinden deutet darauf hin, dass dieser Reinkorporationsprozess zu einem erkennbaren Abbau von sozialer Distanz und Misstrauen in der lokalen Bevölkerung geführt hat und so zur Wiederherstellung des sozialen Zusammenhalts beiträgt. Diese Erfolge sind allerdings begrenzt und – angesichts der andauernden Gewalt in den marginalisierten Regionen Kolumbiens – teils akut gefährdet.
Die Wiederherstellung des sozialen Zusammenhalts ist eine der größten Herausforderungen des Friedensaufbaus nach Bürgerkriegen. Ein zentrales Element ist die Normalisierung der Beziehungen und der Abbau von Misstrauen zwischen den ehemaligen Kämpfer:innen und der Bevölkerung, die sie wiederaufnehmen soll. Angesichts tiefsitzender Gewalterfahrungen und durch den Krieg vertiefter gesellschaftlicher Konfliktlinien ist dies alles andere als einfach. Die allgemeine Forschung verweist jedoch darauf, dass Kontakte zwischen Gruppenmitgliedern einen wichtigen Beitrag dazu leisten können, bestehende Vorurteile zu überwinden sowie soziale Distanz und Misstrauen abzubauen.1
Ende 2016 besiegelte ein Friedensabkommen zwischen dem kolumbianischen Staat und den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo (FARC-EP) die Auflösung der 1964 gegründeten Guerilla und beendete damit offiziell den längsten Bürgerkrieg Lateinamerikas. Mit Blick auf die Reintegration der bisherigen FARC-Kämpferinnen und -Kämpfer schlug das Abkommen einen ungewöhnlichen Weg ein. Ihren Kern sollte ein kollektiver, Reinkorporation genannter Prozess bilden, in dem sich Gruppen von demobilisierten FARC-Mitgliedern in „Übergangszonen“ (Zonas Veredales Transitorias de Normalización – ZVTN) einfanden, um dort als Kollektive den Übergang in ein ziviles Leben zu gestalten. Nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens wurden mehr als 20 solcher ZVTN für fast 10.000 ehemalige FARC-Kombattant:innen eingerichtet. 2017 wurden die ZVTN in 24 „Territoriale Räume für Ausbildung und Wiedereingliederung“ (Espacios Territoriales de Capacitación y Reincorporación – ETCR) umgewandelt, die seit August 2019 unter der Bezeichnung „ehemalige ETCR“ (Antiguos ETCR – AETCR) fortbestehen.
Kostenloser Download: https://www.instituto-capaz.org/nuevo-policy-brief-capaz-la-reconstruccion-del-tejido-social-mediante-la-interaccion-entre-comunidades-y-excombatientes-de-las-farc-ep/
Die ZVTN und damit auch die heutigen AETCR befinden sich in ländlichen Regionen des Landes, die von den Konfliktparteien im Rahmen der Friedensverhandlungen und ohne vorherige Konsultation der lokalen Bevölkerung ausgewählt wurden. Die Ankunft der ehemaligen FARC-Mitglieder und ihrer Familien hatte unmittelbare Auswirkungen auf die umliegenden Gemeinschaften und weckte sowohl Erwartungen als auch Bedenken.2 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit es im Rahmen dieses territorialen Reinkorporationsprozesses gelungen ist, das Misstrauen zwischen den lokalen Gemeinschaften und den Ex-Kombattant:innen zu verringern und so zum Wiederaufbau des sozialen Zusammenhalts in denjenigen Gebieten beizutragen, die in besonderer Weise vom bewaffneten Konflikt mit den FARC-EP betroffen waren.
In diesem PRIF Spotlight fassen wir die wichtigsten Ergebnisse eines Forschungsprojekts zusammen, das wir im Rahmen des Instituto Colombo-Alemán para la Paz (CAPAZ) durchgeführt haben. Unsere Umfrage, die in sieben ländlichen Gemeinden mit AETCR durchgeführt wurde, legt nahe, dass Kontakte – also das physische Zusammentreffen – zwischen den Mitgliedern der umliegenden lokalen Gemeinschaften und den ehemaligen Kombatt:innen soziale Distanz und Misstrauen verringern und darüber hinaus zu einer größeren Unterstützung der Bevölkerung für den Friedensprozess führen. Im folgenden Abschnitt stellen wir unsere Studie vor und präsentieren zentrale, quantitative Ergebnisse der Untersuchung. Danach illustrieren wir an einigen Beispielen aus den untersuchten Gemeinden knapp die Interaktions- und Kooperationsformen, die gemäß unserer Analyse zur Reduktion von Misstrauen und sozialer Distanz beigetragen haben. Wir schließen mit einer Reihe von Empfehlungen.3
Mehr Kontakte, mehr Vertrauen: Das allgemeine Muster
Um herauszufinden, ob Kontakte zwischen Mitgliedern benachbarter Gemeinschaften und ehemaligen FARC-EP-Mitgliedern dazu beigetragen haben, soziale Distanz und Misstrauen in der lokalen Bevölkerung zu verringern, haben wir zwischen Januar und Dezember 2022 Feldbesuche in sieben Munizipien mit AETCR durchgeführt und dabei von 1.228 Personen Fragebögen erhoben (siehe Karte).4 Diese 1.228 Fragebögen haben wir statistisch ausgewertet, um per Regressionsanalyse zu untersuchen, ob zwischen den Variablen „Kontakt“ und „soziale Distanz“ unter Beachtung weiterer Kontrollvariablen ein systematischer Zusammenhang besteht. Da wir uns dafür interessieren, ob Kontakte zum Abbau sozialer Distanz führen, wurden die beiden Variablen im Anschluss an vorliegende Studien5 so bestimmt, dass die Wahrscheinlichkeit einer umgekehrten Kausalität – geringe soziale Distanz führt zu Kontakten – möglichst gering ist. Konkret messen wir soziale Distanz daran, was die Befragten davon halten würden, ehemalige FARC-Kombattant:innen als Chef oder als Ehepartner naher Verwandter zu haben.6
Knapp zusammengefasst ergibt unsere Analyse einen durchgängigen, statistisch signifikanten und negativen Zusammenhang zwischen Kontakt und sozialer Distanz. D.h.: Diejenigen Mitglieder lokaler Gemeinschaften, die Kontakt zu Ex-Kombattant:innen hatten, stehen diesen im Durchschnitt weniger distanziert gegenüber als diejenigen Befragten, die keinerlei Kontakt hatten. Je häufiger die Kontakte, desto deutlicher wird der Rückgang sozialer Distanz. Zudem zeigen sich keine systematischen Unterschiede zwischen den sieben untersuchten Gemeinden. In der Summe sind dies deutliche Hinweise auf eine allgemeine und positive Wirkung der Interaktion zwischen lokaler Bevölkerung und ehemaligen Kombattant:innen im Rahmen des kolumbianischen Friedensprozesses.
Die vertrauensbildenden Auswirkungen des Kontakts zwischen der lokalen Bevölkerung und den Ex-Kombattant:innen zeigen sich auch bei den Antworten auf weitere Fragen. Wie die Abbildung zeigt, ist die Unterstützung für den Friedens- und den Reinkorporationsprozess bei Personen mit Kontakt durchschnittlich um 14% bzw. 13% höher als bei Personen ohne Kontakt zu ehemaligen Kämpfer:innen. Um durchschnittlich 18% höher ist in der Gruppe mit Kontakt die Unterstützung für die politische Beteiligung von Ex-Kombattant:innen, um 21% höher die Wahrscheinlichkeit, bei zukünftigen Wahlen für ein ehemaliges FARC-Mitglied zu stimmen.
Formen der Interaktion und Kooperation
Was aber verbirgt sich hinter der abstrakten Kategorie sozialer Kontakte? Unsere Forschung in den sieben Gemeinden verweist auf drei Kooperationsformen, die die lokale Bevölkerung und die ehemaligen FARC-Kombattant:innen in Kontakt zueinander bringen: Initiativen und Institutionen zur lokalen Versorgung mit grundlegenden Gütern und Dienstleistungen, Projekte, die lokale Produktions- und Weiterverarbeitungskapazitäten stärken, sowie Initiativen in den Bereichen Bildung, Kultur und Sport.
Erstens war die Einrichtung der heutigen AETCR mit Initiativen zur Verbesserung der lokalen Infrastruktur und der Versorgung mit öffentlichen Dienstleistungen verbunden. Im Fall von Tierra Grata (Manaure) beispielsweise werden diese Dienstleistungen von der lokalen Bevölkerung und dem Kollektiv ehemaliger Kämpfer:innen gemeinsam verwaltet. In den AETCR wurden zudem Einrichtungen wie Supermärkte oder Restaurants errichtet, die den umliegenden Gemeinschaften offenstehen. Im Fall von Colinas (San José del Guaviare) wurden etwa eine Ambulanz und ein Mikro-Gesundheitsposten eingerichtet, die auch den Bewohner:innen der umliegenden Dörfer zur Verfügung stehen.
Zweitens wurden im Rahmen des Reinkorporationsprozesses auf Produktion und Weiterverarbeitung von Gütern abzielende Projekte ins Leben gerufen und finanziell unterstützt, von denen häufig auch die umliegenden ländlichen Gemeinschaften profitieren. Im AETCR Agua Bonita (La Montañita) wurde dank der internationalen Entwicklungszusammenarbeit (EZ) eine Anlage gebaut, die Rohstoffe zu Zellstoff verarbeitet. In Colinas ist u.a. ein Projekt entstanden, das Rohstoffe aus der Ernte der umliegenden Dörfer weiterverarbeitet.
Drittens arbeiten Ex-Kombattant:innen und Gemeinschaftsmitglieder regelmäßig in gemeinsamen Bildungsvorhaben zusammen. Quer durch die untersuchten AETCR ermöglichte zum Beispiel ein Projekt der Nationalen Fernuniversität (Universidad Nacional Abierta y a Distancia), das vom Norwegischen Flüchtlingsrat finanziert wird, Hunderten von ehemaligen Kämpfer:innen und Mitgliedern der benachbarten Gemeinschaften den gemeinsamen Weg zu einem ersten akademischen Abschluss. Mit Blick auf kulturelle Initiativen ist das Kunst- und Kulturfestival Sembrando paz („Frieden säen“) zu nennen, das jährlich in La Fila (Icononzo), stattfindet – und zwar einen Tag innerhalb des AETCR und einen weiteren im Gemeindezentrum Icononzo, um so den künstlerischen Austausch und die Versöhnung zwischen den Gruppen zu fördern. Zudem kommen Mitglieder der umliegenden Dörfer in das Gebiet des AETCR, um die dortigen Sportplätze zu nutzen.
Quer durch die untersuchten AETCR gilt allerdings auch: Die Kontakte zwischen lokaler Bevölkerung und Ex-Kombattant:innen nehmen mit zunehmender geographischer Entfernung von den AETCR ab. Insbesondere in den kleinstädtischen Gemeindezentren haben die Einwohner:innen häufig wenig bis keinen Kontakt zu den ehemaligen FARC-EP-Mitgliedern – nicht zuletzt aufgrund der Abgelegenheit der AETCR und des schlechten Zustands der Straßen. Eine Folge ist, dass insbesondere in den Städten das Misstrauen gegenüber den Ex-Kombattant:innen andauert.
Schlussfolgerungen
Die Umsetzung des Friedensabkommens von 2016 und der Friedensprozess in Kolumbien im Allgemeinen stehen vor zahlreichen Schwierigkeiten, die wir an dieser Stelle nicht ausführen können.7 Unsere Studie lässt aber den Schluss zu, dass ein Kernanliegen der Wiedereingliederung der Ex-Kombatant:innen erfolgreich zu verlaufen scheint: Ihre kollektive, territoriale Reinkorporation trägt zum Abbau von sozialer Distanz und Misstrauen in der lokalen Bevölkerung bei. Dabei sind direkte Kontakte der Schlüssel zu diesem Effekt. Die Rahmenbedingungen, die Interaktion zwischen lokaler Bevölkerung und ehemaligen FARC-Kämpfer:innen befördern oder auch begrenzen, sind daher entscheidend. Dies unterstreicht die Bedeutung von Programmen, die die Menschen, die inner- und außerhalb der AETCR leben, in Kontakt bringen und ihre Zusammenarbeit fördern. Auf dieser Basis lassen sich drei Empfehlungen formulieren:
Erstens sollten die Initiativen, Erfahrungen und sozialen Beziehungen, die sich im Rahmen des territorialen Reinkorporationsprozesses seit 2017 entwickelt haben, geschützt werden. Hier ist in erster Linie der kolumbianische Staat gefragt, der verhindern muss, dass andauernde Gewaltdynamiken und die Präsenz bewaffneter Gruppen in den marginalisierten Regionen des Landes die Fortschritte gesellschaftlicher Reinkorporation wieder zunichtemachen. Die jüngsten Erfahrungen in Mesetas unterstreichen dies: Im März 2023 mussten die Familien ehemaliger FARC-Mitglieder vor den Gewaltdrohungen einer der verbleibenden FARC-EP-Dissidentengruppen ihren AETCR verlassen. Im Mai kaufte die nationale Regierung 1.460 Hektar Land in einer anderen Gemeinde (Acacías), damit die ehemaligen Kämpfer:innen dort ihren Wiedereingliederungsprozess fortsetzen können.8 Allerdings beginnt damit der Prozess des Aufbaus von Beziehungen und Vertrauen zu den neuen Aufnahmegemeinschaften wieder von Null.
Zweitens verweisen die Ergebnisse darauf, wie wichtig die vielfältigen Initiativen und Projekte sind, die die Kontakte und die Zusammenarbeit zwischen den lokalen Gemeinschaften und den ehemaligen Kämpfer:innen erleichtern. Für diese Projekte ist das Engagement der lokalen Akteure selbst von grundlegender Bedeutung. Sie bedürfen jedoch häufig auch der Unterstützung von außen, sei es durch staatliche Einrichtungen und Behörden, Nichtregierungsorganisationen oder die EZ. Für zahlreiche produktive Projekte, Bildungsinitiativen und kulturelle Aktivitäten ist es zentral, diese Unterstützung aufrechtzuerhalten bzw. aufzubauen.
Drittens zeigt unsere Studie, dass die Verringerung der sozialen Distanz und der Aufbau von Vertrauen bisher vor allem in den ländlichen Gemeinschaften in unmittelbarer Nähe der AETCR stattfindet. Projekte und Initiativen – sei es der staatlichen Institutionen, sei es nicht-staatlicher Akteure und der EZ – sollten deshalb auch gezielt die städtischen Gemeindezentren miteinbeziehen. Hier ginge es etwa um öffentliche Kampagnen, die der Stigmatisierung ehemaliger Guerilla-Kämpfer:innen entgegenwirken.
Schließlich bleibt das Engagement für die Umsetzung des Friedensabkommens von 2016 und seine Vertiefung durch Einbeziehung der nach wie vor aktiven Gewaltakteure von zentraler Bedeutung. Ohne greifbare Fortschritte auf dem Weg zu einem Frieden, der auch die marginalisierten ländlichen Regionen Kolumbiens umfasst, bleiben die Fortschritte bei der Wiederherstellung des sozialen Zusammenhalts, die wir in unserer Studie feststellen konnten, eng begrenzt und beständig gefährdet.