Obwohl in der Debatte nach dem „Wie“ und „Warum“ von Radikalisierungsprozessen Individuen und Gruppen im Vordergrund stehen, wird auch die gesellschaftliche Ebene adressiert. Wenig Wunder, stellt Radikalisierung – gleich ob politisch oder religiös begründet –nicht nur den Staat, sondern auch das jeweilige Gesellschaftmodell in Frage. Es gibt inzwischen Stimmen, die von Deutschland als einer „radikalisierten Gesellschaft“ sprechen. Andere wiederum weisen die Rede von einer Radikalisierung der Gesellschaft als alarmistisch zurück. Ob sich Gesellschaften radikalisieren können und wie es um Deutschland bestellt ist, diskutieren der Soziologe Christian Joppke und der Soziologe und Sozialforscher Oliver Decker. Die Fragen stellten Magdalena von Drachenfels und Eva Herschinger.
Herr Joppke und Herr Decker, kann sich eine ganze Gesellschaft radikalisieren? Wie sehen Sie das?
Christian Joppke: Im Prinzip kann sich natürlich eine ganze Gesellschaft radikalisieren. Es ist grundsätzlich möglich, dass bei einer nationalen Wahl 100 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung für eine rechtspopulistische Partei stimmen. Dann hätte sich, in der Tat, „die Gesellschaft“ radikalisiert – wobei impliziert ist, dass mit „Gesellschaft“ nationalstaatliche Gesellschaft gemeint ist.
Soweit wir es, wie momentan in Westeuropa, mit maximal 20 Prozent Stimmabgabe für eine solche Partei zu tun haben, wäre die Formel „Radikalisierung der Gesellschaft“ nur unter zwei Bedingungen zutreffend: erstens, dass ein signifikanter Zuwachs im Vergleich zur letzten Wahl vorliegt – was durchaus möglich ist, wie etwa im Stimmenzuwachs der Alternative für Deutschland von 2013 ca. fünf Prozentbis 2017 ca. 13 Prozent. Zweitens aber müsste sich diese Stimmenabgabe völlig gleichmäßig geographisch und über die typischen sozialstrukturellen Kategorien wie Alter, Geschlecht, Schicht- und Klasse und so fort verteilen, so dass keinerlei „Klumpung“ festzustellen ist. Sobald diese zweite Bedingung nicht erfüllt ist – was natürlich empirisch der Fall ist – macht es nur Sinn, von regionaler, alters-, geschlechts-, oder klassenspezifischer Radikalisierung, nicht aber von einer „Radikalisierung der Gesellschaft“ zu reden. Logisch betrachtet besteht keine andere Möglichkeit, es sei denn, der Sprecher möchte polemisieren – was durchaus nicht immer unangebracht ist!
Oliver Decker: Die Frage, ob sich eine ganze Gesellschaft radikalisieren kann, muss mit einem klaren „Ja“ beantwortet werden. Eine solche Antwort ruft aber zum Teil ähnlichen Widerstand hervor, wie die Formulierung vom „Extremismus der Mitte“. In beiden Fällen wird etwas hoch Ambivalentes angesprochen, nämlich die Fragilität demokratischer Gesellschaften. Und Radikalisierung bedeutet, dass sich in Gesellschaften Wertvorstellungen durchsetzen, die beim besten Willen nicht mit den liberalen und pluralen Idealen einer offenen Demokratie in Einklang zu bringen sind. Es ist schließlich kein Zufall, dass die Förderung der demokratischen Kohäsion derzeit politische Konjunktur hat. Die Radikalisierung ist immer eine mögliche Entwicklung.
Von wie vielen Menschen diese Ziele geteilt werden, spielt für die Radikalisierung nicht einmal eine zentrale Rolle. Die NSDAP brauchte keine Mehrheit an der Wahlurne. Aber der Blick muss nicht unbedingt in die deutsche Vergangenheit gerichtet werden. Wie sich eine gesellschaftliche Radikalisierung entwickeln kann, sieht man auch in europäischen Ländern der Gegenwart. In Ungarn oder Polen sind grundlegende Normen wie Pressefreiheit und Unabhängigkeit der Justiz heute genauso bedroht oder schon abgeschafft, in diesen Ländern wird antisemitische oder islamfeindliche Propaganda von den Wählerinnen und Wählern bei den Wahlen honoriert. Ob die Beispiele in der Vergangenheit liegen oder in der Gegenwart, eines wird mit ihnen sichtbar: Die Rede von einer radikalisierten Gesellschaft bedeutet nicht, dass alle Gesellschaftsmitglieder eine vorurteilsverhaftete Einstellung teilen müssen oder die Grundlagen der Demokratie abschaffen wollen. Eine Radikalisierung vollzieht sich anders.
Wie schätzten Sie angesichts dessen den Zustand der deutschen Gesellschaft ein?
Oliver Decker: Christian Joppke hat recht: Gegenwärtig ist in Deutschland nicht zu erwarten, dass eine rechtsextreme oder völkisch-nationalistische Partei die Bundesregierung stellt oder an ihr beteiligt wird. Ob ihr auch die Landesregierungen verschlossen bleiben, muss sich zeigen. Aber selbst aus der Opposition heraus können Parteien Wirkung entfalten. Viele der Ziele der Grünen aus den 1970er-Jahren zählen heute zum demokratischen Konsens der bundesdeutschen Gesellschaft. Und das, obwohl die Partei nur einmal an einer Bundes- und unregelmäßig an Landesregierungen beteiligt war. Eine solche Wirksamkeit kann auch eine anti-demokratische Partei entfalten. Wird sie von einer autoritären Bewegung getragenen und finden ihre Ziele ein Echo bei Vertreterinnen und Vertretern demokratischer Parteien, kann sie das politische Klima nachhaltig verändern.
Führt man die gegenwärtig stabilen politischen Verhältnisse zur Einschätzung des Radikalisierungspotentials an, muss man noch etwas Anderes in Rechnung stellen. Deutschland befindet sich in einer ökonomisch entspannten Situation. Ob die in der Leipziger „Mitte“-Studien 2016 sichtbare Stabilisierung der demokratischen Milieus auf Dauer gestellt ist, muss sich zeigen. Auch wenn der Reichtum nicht bei allen Menschen ankommt, viele Deutsche identifizieren sich mit der starken deutschen Wirtschaft und das legitimiert auch die demokratische Grundordnung. Die gegenwärtige ökonomische Prosperität stabilisiert die Demokratie, während die Gefahr besteht, dass die demokratischen Milieus in Zeiten ökonomischer Krisen wieder schrumpfen. Selbst vor dem Hintergrund der gegenwärtigen ökonomischen Schönwetterperiodebestehen Ressentiments, nimmt doch etwa die Muslimfeindlichkeit und die Abwertung von Sinti und Roma kontinuierlich zu. Religion bzw. religiöse Zugehörigkeit hat sich über die Jahre zum Identitäts- und Konfliktfaktor entwickelt. Es ist kein Alarmismus, wenn man auf das Potential hinweist, das für die Einschränkung von Freiheitsrechten bestimmter Bevölkerungsteile besteht. Auch wenn diese Einschränkungen nicht alle treffen, wäre eine solche Entwicklung als Radikalisierung zu fassen.
Christian Joppke: Aus drei Gründen ist eine Radikalisierung der deutschen Gesellschaft unwahrscheinlich. Der erste Grund ist die Geschichte: Der Nationalsozialismus hat sowohl linke als auch rechte Extremparteien dauerhaft delegitimiert. Die gesamte politisch-konstitutionelle Struktur der Bundesrepublik, aber auch ihre politische Kultur und kollektive Psychologie, ist darauf angelegt, Radikalisierung zu vermeiden und die „Mitte“ zu suchen–bezeichnenderweise gibt es weder in der englischen noch der französischen politischen Sprache ein vergleichbares Wort für „politische Mitte“. Center bzw. centre wird dort eher deskriptiv als normativ gebraucht. Konsensus, runde Tische, Sozialpartnerschaft, Neokorporatismus – dies sind nur einige Schlagworte, die den strukturellen Zentrismus und die Abwehr der Extreme in Deutschland unterstreichen. Und zur Absicherung dieses Zentrismus gibt es „wehrhafte Demokratie“. Ein zweiter Grund für ein schwaches Radikalisierungspotential in Deutschland ist der Umstand, dass Deutschland die Finanzkrise 2008 gut überstanden hat, und heute sogar als ökonomisches Powerhouse in Europa dasteht–das wird ja auch von Oliver Decker anerkannt. Drittens zeigen Wahl- und Umfrageanalysen, dass das Populismus-Potential in Deutschland vergleichsweise schwach ausgeprägt ist. Zwar zeigte eine Studie der Bertelsmann-Stiftung von 2017, dass fast 30 Prozent der Wahlberechtigten als „populistisch“ definierte Einstellungen hegen. Aber 85 Prozent dieser „Populisten“ stimmen immer noch dem „System“ der Demokratie zu, so dass sie laut den Autoren der Bertelsmann-Studie eher als „enttäuschte Demokraten“ denn als „Feinde der Demokratie“ zu bezeichnen sind. Außerdem lehnen die als „populistisch“ Klassifizierten generell nicht die EU ab – ganz im Gegenteil zu Populisten im europäischen Ausland, die stärker anti-europäisch eingestellt sind. Und sie hegen selbst moderate Einstellungen zur Flüchtlingsaufnahme, ansonsten das zentrale Thema der deutschen Populisten und Erklärung für das exponentielle Wachstum der AfD nach 2015. Die Hauptforderung der in der Bertelsmann-Umfrage als „Populisten“ Bezeichneten ist nur der kontrollierte Zuzug von Flüchtlingen, nicht ein totaler Stopp der Flüchtlingsaufnahme. Die „völkische“ Radikalisierung der AfD in den letzten zwei Jahren ist endogen bedingt, sie bildet weitgehend nicht die Einstellungen ihrer Wähler ab.
Nicht teilen kann ich Oliver Deckers Vergleich der Grünen mit „antidemokratischen“ Parteien, und die Annahme, dass – ähnlich der Ökologiesierung der Großparteien durch die Grünen seit den 80er Jahren – heute deren Antidemokratisierung durch die AfD erfolgen könnte. Auch als Ökologie noch ein Monopol der Grünen war, hatte keiner jemals bestritten, dass saubere Luft, Flüsse mit lebenden Fischen, eine strahlensichere Umwelt und nicht zuletzt auch Partizipation an sich positive Dinge sind. Allein das Austarieren dieser Ziele mit anderen Zielen wie Wachstum, Wohlstand, Beschäftigung etc. stand infrage. Zwar halte ich die AfD nicht unbedingt für „demokratiefeindlich“, aber klarerweise sind ihre Ziele – wie z.B. die Bewahrung von traditioneller Familie und ethnischer Homogenität – kontrovers und nicht allgemein als positive Ziele anerkannt.
Wie soll die deutsche Gesellschaft mit radikalisierenden Faktoren/Potentialen und extremistischen Gruppen umgehen?
Christian Joppke: Gesetzesbrecher müssen die volle Härte des Gesetzes spüren. Terrorismusbekämpfung ist nicht mit Integrationspolitik zu verwechseln; beides muss klar auseinandergehalten werden. Linke Volkspädagogik ist verschwendete Mühe. Nicht allerdings sensibler Geschichts- und Gesellschaftskundeunterricht an den öffentlichen Schulen. Das verordnete Anbringen von Kruzifixen in Amtsstuben ist selbst ein Akt der Radikalisierung. Die „Normalisierung“ der Themen und Symbole der extremen Rechten kann ihren Zielen nur Vorschub leisten. Die Parteien der „Mitte“ müssen sich im Sinne eines cordon sanitaire klar von ihnen abgrenzen und deren Projekte und Kampagnen, die kleinen wie die großen, mit aller Schärfe sezieren und denunzieren.
Oliver Decker: In den Jahren 2014 und 2015 waren weltweit so viele Menschen auf der Flucht, wie noch nie zuvor. Europa und auch Deutschland blieben von den Konsequenzen der auch von den europäischen Ländern mitausgelösten Katastrophen nicht verschont. Für die extreme Rechte war dieses menschliche Elend ein paradoxer Glücksfall, denn mit den Geflüchteten erreichte sie, was bis dahin nicht gelungen war: der Brückenschlag von extrem-rechten politischen zu national-konservativen Milieus. Weil die AfD als national-liberale Partei startete und sich damit zunächst diesseits des von Christian Joppke benannten cordon sanitaire bewegte, konnte sie einen Platz im Parteienspektrum einnehmen. Durch die Fluchtbewegung verschob sich ihr Fokus und heute ist die AfD ein Sammelbecken sehr unterschiedlicher politischer Strömungen, nicht zuletzt national-völkischer, anti-liberaler und extrem-rechter. Zusammen mit den national-bürgerlichen Milieus haben sie jene politische Wirkung entfalten können, die jede einzelne Strömung vermissen musste. Diese Mischung macht auch ihre Gefahr aus. Spätestens wenn demokratische Parteien versuchen, die AfD-Wählerinnen- und Wählerschichten zu erreichen, wird häufig nicht alleine die wert-konservative Position angesprochen, sondern es werden die nun mit der AfD-Position verbundenen anti-demokratischen Positionen legitimiert. Das ist das Gegenteil eines cordon sanitaire.
Es wurde schon oft gesagt, aber was auch Christian Joppke fordert ist wichtig: Klare Kante gegen rechts. Die inhaltliche Auseinandersetzung muss geführt werden, was aber voraussetzt, dass auf populistische Übernahme von Lösungen ebenso verzichtet wird wie auf Identitätspolitiken. Stattdessen bedarf es einer Politik der Anerkennung. Die politische Arena muss sich von „Alternativlosigkeit“ hin zu einem Ort der Aushandlung verschiedener politischer Interessen entwickeln. Anerkennung schließt aber genauso die Stärkung der Rechte der Einzelnen in Betrieben, Schulen und Behörden mit ein. Die Auswirkung etwa der Hartz IV Reformen auf die „betriebliche Staatsbürgerschaft“, die Mitbestimmungsrealität in den Betrieben, ist bisher kaum zur Kenntnis genommen worden. Die Quelle des Ressentiments ist nur zu häufig die eigene – oftmals akzeptierte – Unterwerfung.
Herr Decker und Herr Joppke, wir danken Ihnen für das Gespräch.