Die Früherkennung und die Prävention von Massenverbrechen sind eine große Herausforderung. Es mangelt meist nicht an Warnungen, die insbesondere von Akteuren aus der Zivilgesellschaft formuliert werden. Daher wird oft angenommen, es liege an mangelndem politischen Willen, dass auf die Warnungen keine präventiven Maßnahmen folgen. Wie dieser Blog zeigt, können aber auch die zivilgesellschaftlichen Akteure selbst einiges dafür tun, um die Qualität ihrer Arbeit zu steigern und von Entscheidungsträger*innen gehört zu werden.
Die Völkermorde in Ruanda und Srebrenica gaben der UN-Vollversammlung im Jahre 2005 den Anstoß zur Verabschiedung der internationalen Schutzverantwortung („Responsibility to Protect“). Die mit ihr verbundene konzeptionelle Neuverknüpfung von staatlicher Souveränität und Verantwortung sollte es der Weltgemeinschaft ermöglichen, Massenverbrechen wie Völkermord, ethnische Säuberungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen künftig zu verhindern oder zumindest zeitnah zu beenden. Für das Erreichen dieser Ziele sind nicht zuletzt das frühzeitige Erkennen von Krisendynamiken sowie präventive Maßnahmen von besonderer Bedeutung. Die deutsche Bundesregierung hat ihre Kapazitäten im Bereich der Krisenfrüherkennung daher kontinuierlich ausgebaut, was besonders bei der Verabschiedung der Leitlinien zur Krisenprävention 2017 deutlich wurde.
Dennoch zeigen jüngste Entwicklungen, dass der Brückenschlag zwischen Frühwarnung und Prävention eine enorme Herausforderung bleibt. Der Grund für diese Kluft zwischen Anspruch und Umsetzung liegt aus Sicht vieler Aktivist*innen auf der Hand: Warnungen über den Ausbruch von Massenverbrechen gab und gibt es im Überfluss. Jedoch weigere sich die Politik aus mangelndem Interesse oder sogar Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der betroffenen Bevölkerung, diesen Warnungen auch Taten folgen zu lassen.
So nachvollziehbar diese Interpretation auf den ersten Blick ist, verstellt sie den Blick auf strukturelle Faktoren aufseiten der Entscheider*innen, die erfolgreiche Krisenprävention in der Praxis äußerst schwierig machen. Das beginnt mit dem Präventionsdilemma, das auch während der Corona-Krise prominent diskutiert wurde. Erfolgreiche Prävention ist unsichtbar und produziert keine öffentlichen Schlagzeilen, gescheiterte Prävention ist dafür umso sichtbarer. Dieses Dilemma wird dadurch verschärft, dass Krisen aufgrund ihrer Vielschichtigkeit schwer vorauszusehen sind. Da es sich zudem um vergleichsweise sehr seltene (wenn auch schwerwiegende) Ereignisse handelt, bewegen sich Prognosen eines Ausbruchs selbst bei den dringendsten Warnungen meist im sehr niedrigen zweistelligen Bereich. Selbst, wenn sich Krisenprävention lediglich auf jene Hochrisikofälle erstreckt, muss sie somit zwangsläufig immer eine immens hohe Anzahl von „false positive“-Situationen abdecken – Krisen also, die auch ohne präventive Maßnahmen nicht ausgebrochen wären.
Angesichts knapper Ressourcen ist präventives Engagement, das mit hohen Kosten verbunden ist, in Regionen, in denen gegenwärtig (noch) kein Massenverbrechen stattfindet, oft schwer politisch zu rechtfertigen. Hinzu kommt, dass Entscheidungsträger*innen täglich mit einer Fülle von mehr oder weniger expliziten Warnungen konfrontiert werden. Diese sind nicht nur schwer zu sichten, sondern enthalten nicht selten auch versteckte Agenden, die entschlüsselt und in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden müssen. Alle diese politischen Faktoren machen die Entscheidung zugunsten aktiver Krisenprävention weit schwieriger als es häufig den Anschein hat.
Vier Eigenschaften guter Warnungen
Warnungen sollten diesem Umstand Rechnung tragen, transparent kommuniziert werden und sich an den Bedürfnissen ihrer Adressat*innen orientieren. Dies gilt auch und gerade für zivilgesellschaftliche Warner wie etwa Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die häufig über Kontakte in Krisenregionen verfügen und einen wertvollen Beitrag zur deutschen Krisenprävention leisten könnten. Aber welche Bedürfnisse haben Entscheider*innen in der Praxis? Was können NGOs tun, um diese gezielt anzusprechen und damit ihre Erfolgschancen zu erhöhen? Jüngste politikwissenschaftliche Erkenntnisse liefern darauf einige Antworten:
- Eine viel beachtete Studie von Christoph Meyer et al. zeigt die Notwendigkeit auf, Warnungen so präzise wie möglich zu formulieren. Vor welchem Ereignis wird konkret gewarnt? Welche geografische Ausdehnung und welche Opferzahlen werden erwartet? In welchem Zeitraum wird dieses Ereignis voraussichtlich auftreten – in wenigen Wochen, Monaten oder erst in eineinhalb Jahren? Und: Mit welcher Unsicherheit ist die Warnung behaftet? Da Individuen verbale Wahrscheinlichkeitsangaben höchst unterschiedlich interpretieren – mit teils drastischen außenpolitischen Folgen –, empfehlen Meyer et al., Unsicherheit entweder in Prozentwerten oder zumindest durch eine ungefähre Zuordnung von Prozentwerten zu verbalen Kategorien anzugeben. Derart formulierte Warnungen bergen für Entscheidungsträger*innen einen enormen Mehrwert, da sie es erlauben, knappe Mittel zu priorisieren und die richtigen Präventionsinstrumente auszuwählen.
Der damit verbundene Reflexionsprozess kann zudem entscheidend zu besseren Warnungen beitragen. Die Standards der US-amerikanischen Intelligence Community geben dabei eine wichtige Orientierung: Sie betonen die Notwendigkeit, die eigenen Grundannahmen klar zu benennen und Einschätzungen transparent zu begründen. Auch fordern sie, widersprüchliche Informationen miteinzubeziehen, die gegen den Eintritt des Ereignisses sprechen. Dies ist eine Praxis, die die Treffsicherheit von Vorhersagen nachweislich erhöht. Auch NGOs stehen in der Verantwortung, sich an Best Practices zu orientieren und dadurch die Qualität und Transparenz ihrer Warnungen zu erhöhen. Dies fördert letztlich auch ihre Glaubwürdigkeit in den Augen derer, an die sie appellieren. - Damit Warnungen für Entscheider*innen von Nutzen sind, müssen sie zudem rechtzeitig erfolgen. Je mehr Zeit bis zum Ausbruch eines Massenverbrechens verstreicht, desto stärker engt sich der präventive Handlungsspielraum ein. Eine Warnung, die erst dann eintrifft, wenn die Lage bereits eskaliert ist, verfehlt offenkundig ihren Zweck. Auch diese Anforderung ist allerdings eine Herausforderung: Je früher eine Warnung ausgesprochen wird, desto weniger zuverlässig ist sie. Frühzeitige Warnungen sind noch mit erheblicher Unsicherheit verbunden, die Wahrscheinlichkeit des Krisenausbruchs ist damit vergleichsweise niedrig. Im Zeitverlauf werden Prognosen zwar sicherer, aber eben auch weniger nützlich. Dieser Trade-off lässt sich letztlich nicht auflösen, doch schlussendlich muss auf beiden Seiten ein Verständnis dafür vorhanden sein, dass auch Nicht-Handeln eine Entscheidung darstellt. Ziel von Warner*innen sollte es daher sein, verantwortungsvoll abzuwägen und Unsicherheiten klar zu kommunizieren.
Dies setzt allerdings voraus, dass die nötigen Informationen und Methoden für die frühzeitige Vorhersage von Krisen zu Verfügung stehen. Die in der Frühwarn-Community weit verbreiteten quantitativen „Watchlists“, etwa das Early Warning Project des Holocaust Memorial Museums, erlauben es zwar, Staaten mit erhöhtem Risiko für Massenverbrechen zu identifizieren. Da sie aber auf ‚starren‘ systemischen Faktoren wie Weltregion, Bevölkerungsgröße und vergangener Krisenerfahrung beruhen, können sie kurzfristige Trends kaum erfassen. Ein Beispiel hierfür ist die Intensivierung der Hetzkampagne zentraler Radiosender wenige Monate vor dem Völkermord in Ruanda. Die Triangulation verschiedener Daten und Methoden kann einen Beitrag dazu leisten, die unterschiedlichen Ansätze stärker zu vernetzen und dadurch auch Krisendynamiken aufzudecken, die bisher nicht erkannt wurden. - Drittens hilft es Entscheider*innen sehr, wenn Warnungen die möglichen Folgen des Ereigniseintritts klar benennen. Das umfasst nicht nur die unmittelbaren Konsequenzen für die betroffenen Krisenregionen, sondern auch und gerade die langfristigen Folgen für Deutschland und Europa. Ein Beispiel ist der Bürgerkrieg in Syrien, der erhebliche und vielschichtige Auswirkungen weit über die Region hinaus mit sich brachte – wenn auch mit zeitlichem Abstand. Aber für die politische Rechtfertigung der Präventionsmaßnahmen gerade in Regionen, die bisher nicht im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit standen, kann die Hervorhebung der langfristigen Auswirkungen auf Deutschland und seine Partner entscheidend sein.
- Schließlich steigert die Benennung von Handlungsoptionen den Mehrwert der Warnung für Entscheider*innen massiv. Dies gilt allerdings nur für praktikable Empfehlungen: Unrealistische oder nicht sachgerechte Ratschläge sind sogar kontraproduktiv und wirken sich negativ auf die Glaubwürdigkeit der gesamten Warnung aus. Warner*innen sollten sich daher enger mit Entscheidungsträger*innen vernetzen und sich darum bemühen, ein Gespür für die tatsächliche Präventionspraxis zu erhalten – einschließlich des Wissens über konkrete Präventionsinstrumente, deren Kosten, zeitliche Dimension und mögliche Folgen. Anstelle des vagen Appells, dass „etwas getan werden muss“, könnten Warnungen durch konkrete, informierte Empfehlungen erheblich an praktischer Relevanz gewinnen.
Ausblick
Auch die vollständige Umsetzung aller Empfehlungen garantiert nicht, dass Warnungen vor Massenverbrechen am Ende auch tatsächlich gehört werden. Warnen ist ein Überzeugungsprozess, dessen Erfolg von einer Fülle an Faktoren abhängt. Das beginnt bereits damit, die eigenen Warnungen auch proaktiv an die Entscheidungsträger*innen zu kommunizieren. Die präziseste Warnung hilft wenig, wenn der oder die Adressat*in sie gar nicht erst erhält. Dies vorausgesetzt, können zivilgesellschaftliche Warner*innen durch die Umsetzung der Empfehlungen jedoch einen großen Beitrag dazu leisten, dass ihre Warnungen als relevant erachtet werden und bei Entscheidungsträger*innen Gehör finden.
Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg wäre ein noch engerer Austausch zwischen Regierung und Zivilgesellschaft im Bereich der Krisenfrüherkennung. Beide sollten ein gegenseitiges Verständnis für die spezifischen Herausforderungen, Ressourcen und Handlungszwänge der anderen Seite entwickeln und in ihrer täglichen Arbeit mitdenken. Das so entstehende Vertrauen ist eine wichtige Grundlage, um – ganz im Sinne der Leitlinien – schwelende Krisenherde frühzeitig zu erkennen und im Ernstfall effektive Maßnahmen zur Prävention von Massenverbrechen zu ergreifen.