Im Jahr 2023 wurden laut Global Witness weltweit mindestens 196 Land- und Umweltaktivist*innen umgebracht, Front Line Defenders zufolge insgesamt 300 Personen, die sich für Menschenrechte einsetzen. Die Forschung zu dieser tödlichen Gewalt gegen friedlichen Aktivismus steckt noch in den Kinderschuhen. Was wissen wir über Charakteristika, Muster und Ursachen? Und was folgt daraus für die europäische und deutsche Politik?
Seit 2012 sammelt Global Witness Daten zur Ermordung von Land- und Umweltaktivist*innen weltweit. Im September 2024 veröffentlichte die internationale NGO ihren jüngsten Jahresbericht.1 Dank einer DPA-Meldung schaffte es dieser auch hierzulande in die Medien: „NGO-Bilanz für 2023: Fast 200 Umweltschützer getötet“, hieß es auf Tagesschau.de,2 „Weltweit 196 Naturschützer getötet“ u. a. bei FAZ, Süddeutscher und ZEIT).3 Die land and environmental defenders, um deren Tötung es hier geht, sind Angehörige indigener Völker, die sich gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen durch Bergbau und Plantagenwirtschaft wenden, Kleinbauern, die für den Zugang zu Land kämpfen, und Umweltaktivistinnen oder Vertreterinnen lokaler Gemeinschaften, die sich gegen Infrastrukturprojekte engagieren.
Die Opferzahlen, die Global Witness für das Jahr 2023 berichtet, sind leider alles andere als überraschend. Seit 2015 registriert die Organisation jährlich um die 200 Tote (siehe Grafik 1). Hinzu kommt die Ermordung von Menschenrechtsverteidiger*innen, die sich für andere Themen einsetzen. Dem neuesten Jahresbericht der NGO Front Line Defenders zufolge, der im Mai 2024 erschien, wurden 2023 weltweit mindestens 300 human rights defenders umgebracht.4 Dabei bildet die Ermordung von Aktivist*innen nur eine – wenngleich besonders drastische und deshalb auch besonders sichtbare – Form der Gewalt, mit denen zivilgesellschaftliche Akteure konfrontiert sind. Wie Nathalie Butt et al. betonen, kommen auf jeden Toten „Tausende von Menschen, die direkter Gewalt, Drohungen und psychologischer Einschüchterung sowie weniger sichtbaren Formen kultureller, struktureller oder ‚langsamer‘ Gewalt ausgesetzt sind.5
In Reaktion auf die Berichte von NGOs wie Global Witness und Front Line Defenders hat sich auch die Forschung des Phänomens angenommen. Was lässt sich auf dieser Basis über die Charakteristika und Hintergründe der Morde an sozialen Aktivist*innen sagen? Dieser Frage sind Juan Albarracín und ich in einem TraCe Working Paper nachgegangen (siehe Box), dessen Ergebnisse ich in diesem PRIF Spotlight knapp zusammenfassen will. Ich schließe mit Implikationen für die Debatte hierzulande.
Das Forschungszentrum „Transformations of Political Violence“ (TraCe) ist ein interdisziplinärer Forschungsverbund von fünf hessischen Forschungsinstitutionen: dem Peace Research Institute Frankfurt (PRIF), der Goethe-Universität Frankfurt, der Justus-Liebig-Universität Gießen, der Philipps-Universität Marburg und der Technischen Universität Darmstadt. TraCe wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.
Das Phänomen in Zahlen
Grafik 1 fasst die vorliegenden Zahlen von Global Witness und Front Line Defenders zusammen. Diese weichen systematisch voneinander ab, da beide Organisationen jeweils unterschiedliche Phänomene in den Blick nehmen. Wie erwähnt, dokumentiert Front Line Defenders die Ermordung von Menschenrechtsverteidiger*innen, d. h. von Menschen, die sich für die Förderung international anerkannter Menschenrechte bzw. gegen entsprechende Menschenrechtsverletzungen engagieren. Anders als beim Begriff der sozialen – d. h. zivilgesellschaftlichen – Aktivist*innen, umfasst diese Kategorie auch Politiker*innen, Richter*innen und sonstige Staatsbedienstete, die sich für Menschenrechte einsetzen. Faktisch gehören allerdings die meisten ermordeten Menschenrechtsverteidiger*innen zur Gruppe der sozialen Aktivist*innen.6 Bei Global Witness liegt der Fokus auf Menschenrechtsverteidiger*innen, denen es um kollektive Land- sowie Umweltrechte geht. Die Morde nach Global Witness sind deshalb stets niedriger als die von Front Line Defenders. Wie der Vergleich zeigt, sind allerdings rund zwei Drittel der umgebrachten Menschenrechtsverteidiger*innen Land- und Umweltaktivist*innen.
Ein klarer Trend über Zeit lässt sich aus den Zahlen nicht ablesen. Die Anzahl der jährlichen Todesfälle, die Global Witness für die Jahre 2012 bis 2014 dokumentiert, ist zwar deutlich niedriger als die seit 2015. Ältere Zahlen für die Jahre 2002 bis 2009 liegen durchgängig unter 100 pro Jahr. Entsprechend schlussfolgern Philippe Le Billon und Päivi Lujala, es habe zwischen 2009 und 2015 einen „markanten Anstieg“ der Morde an Land- und Umweltaktivist*innen gegeben. Dieser falle zeitlich mit dem weltweiten Anstieg der Rohstoffpreise – und entsprechend intensivierten Aktivitäten in den Bereichen Bergbau, Öl- und Gasförderung sowie exportorientierter Landwirtschaft – zusammen. Allerdings, so betonen Le Billon und Lujala ebenso, sei das Wachstum vielleicht auch eher Ausdruck einer besseren Berichterstattung.7 Die vorliegenden Zahlen für die Jahre vor 2015 sind deshalb schwerlich mit jüngeren Daten vergleichbar.
Muster und Charakteristika
Tödliche Gewalt gegen Aktivistinnen und Aktivisten ist ein verbreitetes Phänomen. So enthalten die Datenbanken von Global Witness und Front Line Defenders Fälle aus rund 60 Ländern, darunter auch Kanada, die USA und europäische Länder.8 Der überwiegende Anteil entfällt aber auf wenige Regionen und Länder. Zwischen zwei Drittel und drei Viertel der Morde betreffen Lateinamerika und hier vor allem Kolumbien, Brasilien, Honduras und Mexiko. Darüber hinaus stechen in Südostasien die Philippinen mit einer hohen Zahl ermordeter Aktivist*innen heraus. 2023 repräsentierten allein diese fünf Länder 75% (Front Line Defenders) bzw. 80% (Global Witness) der Morde. Der Vergleich der Zahlen zwischen Ländern und Regionen ist allerdings mit äußerster Vorsicht zu genießen. Gerade in autoritär regierten Ländern dürfte die Dunkelziffer hoch sein. Die im Vergleich bemerkenswert hohen Zahlen für Kolumbien hingegen spiegeln vermutlich zumindest zum Teil eine außergewöhnlich gute Datenbasis wider.
Von der Gewalt betroffen ist ein breites Spektrum sozialer Gruppen. Zumeist aber handelt es sich um Angehörige marginalisierter Bevölkerungen und/oder diskriminierter gesellschaftlicher Gruppen sowie um Individuen, die deren Rechte verteidigen. Die Gewalt spielt sich überwiegend auf lokaler Ebene ab und trifft vor allem Menschen, die sich in ihrer Gemeinschaft engagieren. Unter den Opfern befinden sich weit überproportional Angehörige indigener Bevölkerungen. Laut Global Witness stellten sie 2023 43% der umgebrachten Land- und Umweltverteidiger*innen. Unter den Menschenrechtsverteidiger*innen im breiteren Sinn, die von Front Line Defenders dokumentiert werden, betrafen 2023 immerhin 31% der Morde Angehörige indigener Völker bzw. Personen, die sich für indigene Rechte einsetzten.
Über die Täter ist weit weniger bekannt, und Straflosigkeit ist ein generelles Charakteristikum tödlicher Gewalt gegen Aktivist*innen. Selbst wenn die unmittelbaren Täter – häufig Auftragsmörder und Mitglieder krimineller Gruppen – identifiziert werden, bleiben die Auftraggeber meist im Dunkeln. Vorliegende Daten und Studien zeigen, dass ein Teil der Gewalt direkt auf das Handeln staatlicher Sicherheitskräfte zurückgeführt werden kann, staatliche Institutionen aber in der Regel eher eine indirekte Verantwortung tragen durch faktische oder bewusste Duldung der Gewalt nicht-staatlicher Akteure. So schwierig dies im Einzelfall zu belegen ist: Neben kriminellen Gruppen und nicht-staatlichen Gewaltakteuren sind regelmäßig auch legale Akteure – lokale Eliten, Großgrundbesitzer oder international operierende Unternehmen – zumindest indirekt an der Gewalt beteiligt.
Hintergründe der Gewalt
Auf Basis der vorliegenden Forschung lassen sich vier Kontexte identifizieren, die – mitunter in Kombination – das Gewaltgeschehen prägen:9
Erstens lässt sich ein Teil der Gewalt auf bewaffnete Konflikte zurückführen. Dies betrifft etwa Fälle aus Afghanistan, der Demokratischen Republik Kongo, Kolumbien, Palästina, Sudan und Ukraine. Soziale Aktivist*innen leiden in Kriegsgebieten einerseits als „Kollateralschäden” unter der allgegenwärtigen Gewalt, sie sind aber auch bewusste Ziele von Konfliktparteien, die sich so Unterstützung in der Bevölkerung sichern bzw. potenzielle Gegner und angebliche Kollaborateure der Gegenseite schwächen wollen.
Zweitens hängt ein erheblicher Teil der Morde mit der Präsenz krimineller Gruppen zusammen. Insbesondere in einer Reihe lateinamerikanischer Länder kämpfen kriminelle Banden, die in Drogenproduktion und -handel, illegalen Bergbau oder die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes involviert sind, um die lokale Kontrolle von Territorien und Bevölkerungen. Zu Gewalt gegen zivilgesellschaftliche Akteure kommt es insbesondere dann, wenn mehrere Gruppen um strategisch wichtige Gebiete konkurrieren oder wenn sich lokale, häufig indigene Gemeinschaften direkt gegen illegale Formen der Landnutzung wehren.
Auf den dritten Kontext weist der hohe Anteil von Land- und Umweltverteidiger*innen unter den Opfern hin: Hinter der Gewalt stehen häufig lokale Landnutzungskonflikte im Kontext von Bergbau, Gas- und Ölförderung sowie der Ausweitung extensiver Landwirtschaft. Vergleichende Analysen zeigen einen empirischen Zusammenhang zwischen der Ermordung sozialer Aktivist*innen und Konflikten um Ressourcenausbeutung sowie allgemein der Präsenz von Bergbau und Agroindustrie. Zusammen mit dem Befund einer empirischen Korrelation zwischen der Höhe ausländischer Direktinvestitionen und den Morden verweist dies auch auf die Rolle international operierender Unternehmen, vor allem im Rohstoffsektor.10
Viertens hat die Gewalt gegen soziale Aktivist*innen eine explizit politische Dimension. Zumindest ein Teil der Morde lässt sich auf repressive Reaktionen zurückführen: auf das Handeln staatlicher, parastaatlicher und privater Sicherheitskräfte, die im Namen von Regierungen, Unternehmen oder lokalen Eliten mit Gewalt auf gesellschaftlichen Protest reagieren. Statistische Untersuchungen weisen entsprechend darauf hin, dass Morde an Aktivist*innen besonders in Ländern auftreten, die durch ein hohes Niveau an Repression und eine große Zahl an Protesten gekennzeichnet sind.11 Die Gruppe der Länder mit hohem Gewaltniveau – Brasilien, Honduras, Kolumbien, Mexiko und Philippinen – legt zudem nahe, dass ein spezifischer Typus demokratischer Systeme besonders anfällig ist. Komparative Studien bestätigen die überdurchschnittliche Betroffenheit politischer Regime, in denen demokratische Normen und Institutionen grundsätzlich etabliert, aber zugleich faktisch eingeschränkt sind.12 Diese Regime lassen sozialen Aktivismus in breitem Ausmaß zu, bieten aber keinen effektiven Schutz gegen gewaltsame Repression durch staatliche und nicht-staatliche Akteure. Wie bereits betont, sind die relativ niedrigen Zahlen in autoritären Regimen allerdings zumindest auch auf eine vermutlich besonders hohe Dunkelziffer zurückzuführen.
Schlussfolgerungen
Die Faktoren und Kontextbedingungen, die die tödliche Gewalt gegen soziale Aktivist*innen erklären helfen, liegen zu großen Teilen in den Ländern, in denen sie auftritt, und dort nicht zuletzt auf subnationaler Ebene. Zugleich ist das Phänomen aber nicht ohne seine grenzüberschreitenden Bezüge zu verstehen. Ob Drogenökonomie, Rohstoffabbau oder extensive Landwirtschaft – all diese Wirtschaftszweige sind durch internationale Investitions- und Handelsbeziehungen gekennzeichnet, werden von transnational operierenden Akteuren organisiert und basieren zentral auf dem Absatz der Endprodukte im globalen Norden, darunter auch Europa und Deutschland. Wie Front Line Defenders im jüngsten Jahresbericht anerkennt, tragen die Länder des globalen Norden dieser Tatsache Rechnung, indem sie einen Großteil der Finanzierung zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen bereitstellen und eine Reihe von Ländern, einschließlich der EU, mittlerweile diplomatische Richtlinien haben, die Schutzmaßnahmen für bedrohte Aktivist*innen vorsehen.13 Wichtig ist aber vor allem auch eine wirksame Kontrolle internationaler Liefer-, Investitions- und Kreditbeziehungen. Unternehmen und Banken aus dem globalen Norden sind zumindest mittelbar, mitunter aber auch sehr direkt in das lokale Gewaltgeschehen involviert.14 Die EU-Lieferkettenrichtlinie verpflichtet die von ihr betroffenen Großunternehmen immerhin explizit dazu, Menschenrechtsverteidiger*innen Beschwerderechte einzuräumen – jedenfalls, soweit sie von der Richtlinie erfasst werden, was etwa für den Finanzsektor nicht gilt.15
Die strukturelle Verantwortung des globalen Nordens lässt sich durch solche Maßnahmen aber bestenfalls abmildern, liegt sie doch in einem Entwicklungsmodell, das systematisch auf dem Import und der überproportionalen Nutzung weltweit begrenzt verfügbarer Rohstoffe beruht – und das u. a. durch Gewalt abgesichert wird. Auch die aktuell viel diskutierte Energiewende verspricht hier per se keine Verbesserung. Zum einen geht sie ihrerseits mit einem hohen Bedarf an mineralischen Rohstoffen einher. Zum anderen werden auch Vorhaben zur Produktion „grüner“ Energie bereits von Konflikten um Landnutzung begleitet.16 Es bedarf mithin eines Dreiklangs: internationale Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Gruppen, eine konsequente Umsetzung menschenrechtlicher Standards in der Außen- und vor allem auch Außenwirtschaftspolitik sowie eine Transformation unseres Entwicklungsmodells, die den Ressourcenverbrauch hierzulande deutlich reduziert.