Am 6. Oktober 2024 findet in Tunesien die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Selbst wenn es einer Stichwahl im November bedarf, wird der aktuelle Präsident Saied wiedergewählt werden. Sein harter Autokratisierungskurs, den er 2021 begann, wird kein anderes Ergebnis zulassen. Auch wenn unklar ist, welche Beliebtheitswerte er wirklich noch in der Bevölkerung genießt, sollte diese Wahl eine Mahnung an die EU und Deutschland sein, weiterhin demokratische Standards bei sogenannten Partnerländern einzufordern, selbst wenn etwa Migrations- und Energieinteressen gegeben sind.
Im Juli 2021 begann der tunesische Präsident Kais Saied in rasendem Tempo die Demokratisierung Tunesiens, die 2011 mit dem sogenannten Arabischen Frühling begonnen hatte, zurückzudrehen. Auf der Welle massiver Unzufriedenheit mit der sozioökonomischen Lage, dem Pandemie-Management und der politischen Kultur setzte er zunächst die demokratische Verfassung von 2014 außer Kraft, fror das Parlament ein und löste die Regierung auf. Er begann wichtige Instanzen der Gewaltenteilung und -kontrolle wie den Obersten Justizrat und die Wahlkommission unter seine Kontrolle zu bringen. Bereits ein Jahr später wurde per Referendum eine Verfassung beschlossen, die die Macht beim Präsidenten konzentrierte. Im Dezember 2022 und 2023 folgten Wahlen zur ersten bzw. zweiten Parlamentskammer. Nun steht der letzte Schritt der Institutionalisierung der neuen politischen Ordnung an: die Präsidentenwahlen.
Dieser Prozess, der einer der signifikantesten Autokratisierungsprozesse der letzten zehn Jahre weltweit darstellt, zeichnete sich durch vier wesentliche Punkte aus. Zum einen war er, wenig überraschend, begleitet von einem starken Anstieg staatlicher Repression gegen Opposition, Journalist*innen, Anwälte und Aktivist*innen. Gleichzeitig war er durch eine verschwindend geringe Wahlbeteiligung gekennzeichnet, die etwa für beide Parlamentskammern bei etwa 11% lag, das Verfassungsreferendum 2022 erreichte auch nur 30%. Er war ebenso verbunden mit einer massiven wirtschaftlichen Krise, die von hohen Inflationsraten, weiter ansteigender Arbeitslosigkeit und ungekannten Versorgungsengpässen bei Grundgütern v. a. bei Lebensmitteln, gekennzeichnet war. Und viertens war es eine Zeit, in der paradoxerweise sowohl der populistische Diskurs des Präsidenten über nationale Souveränität und Ablehnung jeglicher Einmischung von außen (in erster Linie gegen EU und IWF gerichtet) als auch die Kooperation mit der EU, v. a. im Migrationsmanagement und Energiefragen, immer weiter zunahmen. Was ist nun von den Präsidentenwahlen zu erwarten?
Wie zu erwarten: Repression und Kontrolle des Wahlprozesses
Die Präsidentenwahlen, die am 6. Oktober 2024 in der ersten Runde abgehalten werden, reflektieren zunächst die Repressionen, denen Oppositionspolitiker*innen v. a. seit Anfang 2023 in Tunesien ausgesetzt sind. Rashid Ghannouchi, der Führer der islamistischen Nahda-Partei, und Abir Moussi, anti-islamistische, die Ben-Ali Zeit verklärende Vorsitzende der Freien Dustur Partei, sind nur die prominentesten Beispiele für politische Häftlinge, die mit z. T. immer neuen Anschuldigungen inhaftiert bleiben. Andere Politiker, die dieses Jahr ihre Ambitionen für eine Kandidatur geäußert hatten, wurden gefangen genommen, wie Lotfi Mraihi und Safi Saïd, die 2019 zwar bereits kandidiert, aber jeweils nur einstellige Prozentzahlen erzielten. Eine ernste Gefahr für Saied wären sie nicht geworden, trotzdem wollte der Präsident wohl lieber auf Nummer sicher gehen.
Weiterhin ließ die dem Namen nach eigentlich unabhängige Wahlkommission (Instance Supérieure Indépendante pour les Elections – ISIE) von 17 eingereichten Kandidaturen nur drei zur Wahl zu. Der Prozess der Kandidatur ist unter Saied komplex und hürdenreich gestaltet worden und öffnet über Bedingungen wie die Unterstützungslisten für Kandidaten zahlreiche Einfallstore für Ausschlüsse ungewollter Personen. Einige der von der Wahlkommission ausgeschlossenen Kandidaten legten Beschwerde beim Verwaltungsgericht ein, das in drei durchaus prominenten Fällen die Teilnahme an der Wahl zuließ. Dennoch nahm die Wahlbehörde diese nicht auf die Liste auf, was bei deren Verkündung für einen enormen Aufschrei insbesondere unter Verfassungsjurist*innen führte. Dass sich die Wahlkommission, die eigentlich klar dem als unabhängig geschätzten Verwaltungsgericht unterstellt ist, einfach über Recht und Ordnung stellt, ist ein gefährlicher Präzedenzfall für die Rechtsstaatlichkeit in Tunesien.
Übriggeblieben als vermeintliche Wettbewerber war zunächst der weitgehend unbekannte Geschäftsmann Ayachi Zammel, der zumindest in seiner Rhetorik freiheitlich-demokratische Grundwerte vertreten hat und daher noch am ehesten als Kandidat einer Opposition gesehen werden kann. Doch auch er sieht sich nun juristischer Verfolgung ausgesetzt. Bleibt noch Zouhair Maghzaoui, der zwar auch die zunehmende Einschränkung der Meinungsfreiheit kritisierte (v. a. über die vermeintliche Bekämpfung der Verbreitung von Falschinformationen und der Cyber-Kriminalität durch das viel kritisierte Dekret 54). Da er aber 2021 Saied noch unterstützte, kann er nur eingeschränkt Opposition hinter sich vereinen.
Wie groß ist die Unterstützung für den Präsidenten? Wahlbeteiligung und Proteste als mögliche Indikatoren
Der Autokratisierungsprozess in Tunesien ist weit fortgeschritten und wird keine Überraschungen im Wahlergebnis zulassen. Trotzdem werden zwei Punkte interessant zu beobachten sein, um Rückschlüsse auf den Rückhalt Saieds in der Bevölkerung zu ziehen. Zum einen wird sich die Aufmerksamkeit auf die Wahlbeteiligung richten. Die sehr niedrige Beteiligung an den Wahlen zur ersten Parlamentskammer im Dezember 2022 kommentierte der Präsident mit dem Verweis, dass dies nur belege, wie sehr Tunesier*innen Vertrauen in Parlamente verloren hätten. Der Präsident selbst hatte bereits vor seiner Wahl 2019 ein Alternativmodell in Form von regionalen Räten skizziert. Davon übrig geblieben ist in der Verfassung von 2022 die zweite Kammer, die regionale Belange über Personen vertreten soll, die über eine komplexe Kombination aus Wahl, Delegation und Los bestimmt wurden. Wie erwähnt lockte dieses Modell die Tunesier*innen aber auch nicht an die Urnen.
Nun steht aber der Präsident selbst zur Wahl: Eine ähnlich geringe Wahlbeteiligung wäre die eigentliche Niederlage für Saied, der sich bis heute zum eigentlichen Retter der Revolution von 2011 erklärt sowie weiterhin nebulös-populistisch über Korruption, Terroristen und einen infiltrierten Staatsapparat spricht, von denen er Tunesien befreien will (wie in seiner kürzlich erschienen Erklärung zur Wahl erneut wiederholt). Wie sehr diese Narrative noch verfangen, ist schwer zu beurteilen. Umfragen sind im autoritären Kontext mit Vorsicht zu genießen, zeigen aber meist Saied weiter an der Spitze. Die Wahlbeteiligung wird in Autokratien natürlich auch gern einmal manipuliert, um Legitimität für das Regime zu signalisieren. Dabei darf sie aber auch nicht zu hoch angesetzt werden, um noch ansatzweise plausibel zu sein. Symbolkraft kann schon daraus resultieren, höhere Quoten als in früheren Wahlen erzielt zu haben – manche Forschende sprechen von authoritarian math. Davon wurde bisher offensichtlich in Tunesien noch kein Gebrauch gemacht, was zeigt, dass die Autokratisierung noch nicht ganz vollzogen ist. Eine eventuell hohe Wahlbeteiligung könnte also auch ein Anzeichen fortschreitender Autokratisierung sein. Wichtige zivilgesellschaftliche Organisationen wurden nicht als Wahlbeobachter zugelassen, was die Beurteilung des Wahlergebnisses noch schwerer machen wird.
Ein weiteres Indiz für Zustimmung oder Unzufriedenheit sind öffentliche Proteste. Politische Proteste wie Mitte September in Tunis, sind auf jeden Fall ein Lebenszeichen pro-demokratischen Aktivismus, werden Saieds Machterhalt aber nicht im Wege stehen. In der Tat haben Proteste, insbesondere solche mit sozioökonomischen Forderungen, trotz massiver Wirtschaftskrise in den letzten Jahren abgenommen. Ob dies Zustimmung für den Präsidenten bedeutete, oder einen – eventuell mittlerweile aufgebrauchten – Vertrauensvorschuss– oder vielleicht eher Protestmüdigkeit aufgrund der immer schwerer werdenden Lebensbedingungen, ist nicht eindeutig zu sagen. In persönlichen Gesprächen, aber auch in der Presse scheinen die beiden letzten Punkte die zentrale Rolle zu spielen.
Wie umgehen mit der Autokratisierung?
Bleibt die Frage, wie die EU und Deutschland mit der offensichtlich fortschreitenden Autokratisierung umgehen sollen und ob Kritik von außen etwas bewirken kann. Tatsächlich hatte vorwiegend das EU-Parlament immer wieder die negative politische Entwicklung in Tunesien in den letzten Jahren kritisiert. Der Fokus der EU-Kommission unter Kommissionspräsidentin von der Leyen war dagegen von Interessenpolitik geprägt, die sich auf Migrations- und Energiethemen konzentrierte. Der sogenannte Migrationspakt mit Saied gilt heute als Modell für erfolgreiches Migrationsmanagement, bei dem die Verhinderung von Flucht nach Europa finanziell belohnt wird. In der Forschung spricht man mittlerweile von refugee rentierism. Dabei lösen die seit 2023 andauernden Berichte über Geflüchtete, die von tunesischen Sicherheitskräften in der Wüste ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen werden, mittlerweile auch keine große Entrüstung mehr aus. Saied, der mit xenophoben und verschwörungstheoretischen Aussagen vor einem drohenden Bevölkerungstausch in Tunesien warnt, ist damit von Aussagen einzelner Kabinettsmitglieder rund um die italienische Ministerpräsidentin Georgia Meloni nicht weit entfernt. Man versteht sich und zeigt dies auch deutlich, etwa beim Italien-Afrika Gipfel im Januar dieses Jahres oder mehreren Staatsbesuchen von Meloni in Tunis.
Neben der Migration, die auch in Deutschland wieder die höchste Priorität bekommt und mit der Abwehr von Geflüchteten verknüpft wird, ist die Energiekooperation im Bereich grüner Energie ein zentraler Pfeiler in den Beziehungen zu Tunesien. Auch wenn zivilgesellschaftliche Akteure und Forschende vor negativen ökologischen und sozioökonomischen Auswirkungen grüner Energieexporte warnen, gilt dieses Thema weiterhin als unproblematisches win-win Politikfeld. Grüne Energie aus der europäischen Nachbarschaft scheint unverzichtbar auf Europas Weg zur Klimaneutralität. Somit sind auch die Beziehungen zu Autokraten, die hierfür hilfreich sind, scheinbar unverzichtbar. Und wie diese ihre Wahlen managen, bei Bedarf auch mit Repression, wird nicht weiter thematisiert.
Aussichten für eine autokratische Konsolidierung
Der Umgang mit Autokratien ist ein komplexes Feld. Es geht nicht um Schwarz-Weiß-Malerei und gerade in Ländern mit kolonialer Vergangenheit wird Einmischung von außen oft kritisch gesehen. In den von mir geführten Interviews mit Aktivistinnen und Aktivisten rund um das Memorandum of Understanding zwischen EU und Tunesien im Sommer 2023 wurde die Nicht-Einmischung in tunesische Politik zwar betont, aber mit der Kritik ergänzt, dass Demokratie, Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit in den fünf definierten Kooperationsbereichen überhaupt nicht mehr auftauchten. Wenn nicht einmal mehr Europa die normativen Standards hochhält, so war der Tenor, dann wird es für tunesische Aktivist*innen noch schwerer, bereits einmal erreichte Rechte und Freiheiten zurückzuerlangen. Im Zuge des Israel-Gaza Kriegs, in dem einige Mitgliedsstaaten der EU, darunter Deutschland, als einseitig pro-israelisch wahrgenommen werden, hat die Glaubwürdigkeit jedoch noch weiter abgenommen und ist bei vielen Aktivist*innen kaum mehr gegeben. Ob also wirklich noch Potential besteht, der Konsolidierung der Autokratie durch Kritik von außen etwas entgegenzusetzen, ist mehr als fragwürdig, selbst wenn man sich von Migrations- und Energiefragen nicht erpressbar machen ließe.
Der wichtigste „Wahlhelfer“ Saieds sind aktuell die mangelnden politischen Alternativen. Der Abneigung gegen die politischen Kräfte, die zwischen 2011 und 2021 die politische Landschaft prägten, die islamistische Nahda, aber auch Akteure aus dem Spektrum des anti-islamistischen, später zerfallenen Bündnis Nidaa Tounis genießen keine Legitimität. Deren gemeinsamen Regierungsjahre ab 2014 wurden oft als Konsenspolitik kritisiert, die Machterhalt über politischen Gestaltungswillen setzte, damit keine politischen Fortschritte erzielte und Demokratie als scheinbar ineffiziente Regierungsform delegitimierte. Eine genauere Analyse dieser Zeit zeigt aber auch Probleme einer noch nicht fest etablierten Ordnung, in der politische Entscheidungen oft willkürlich und nicht verlässlich erschienen und so schrittweise Vertrauen innerhalb und zwischen den Institutionen sowie zentralen gesellschaftlichen Akteuren verloren ging. Unschöne Streitigkeiten im Parlament sowie die Verrohung des Diskurses trugen zur Delegitimierung der Ordnung bei. Genau von dieser Unzufriedenheit profitiert Saied immer noch.
Wichtig ist zu verstehen, dass Saied selbst keine echten Alternativen zumindest im für die breite Bevölkerung wichtigsten Bereich, der sozioökonomischen Probleme des Landes, zu bieten hat. Populistischer Diskurse zum Trotz hat er weiter ausländische Kredite angenommen, nur eben nicht vom öffentlich verhassten IWF. Ewig wird er mit dem Wechsel von Sündenböcken die massive Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Lage nicht beruhigen. Es ist daher wichtig zu verfolgen, wann sich breite sozioökonomische Unzufriedenheit wieder mit sozialer Mobilisierung und/oder politischer Opposition verbindet, aber auch wie weit die staatliche Repression gehen wird, um dies zu unterbinden. Ein Störfaktor für die aktuelle Präsidentenwahl wird diese Frage aber wohl noch nicht sein.