Trauerbekundung vor der Vancouver Art Gallery. | Photo: © Frozemint via Wikimedia Commons | CC BY-SA 4.0

Kanadas Genozid an den First Nations: Der Aufarbeitungskonflikt braucht Recht und Politik

Erst legten Trauernde Kinderschuhe vor das kanadische Parlament, für jedes der über 1000 Kinderskelette eines. Danach brannten Kirchen. Nachdem in Kanada in der Nähe von christlichen Umerziehungsschulen sterbliche Überreste indigener Kinder gefunden wurden, wird erneut über die kanadische Kolonialpolitik diskutiert. Bereits 2015 hat eine Untersuchungskommission festgestellt, dass ein kultureller Genozid an den First Nations des heutigen Kanadas begangen wurde. Wie kann der Staat das begangene Unrecht aufarbeiten? Welche Möglichkeiten bietet das internationale Recht zur Konfliktbewältigung? Das kürzlich gewählte kanadische Parlament steht jetzt in der Verantwortung, konkrete politische Aussöhnungsmaßnahmen zu ergreifen und zugleich juristische Wege der Aufarbeitung weiterzuentwickeln.

Erst legten Trauernde Kinderschuhe vor das kanadische Parlament, für jedes der über 1.000 Kinderskelette eines. Danach brannten Kirchen. Nachdem in Kanada im Sommer 2021 in der Nähe von christlichen Umerziehungsschulen sterbliche Überreste indigener Kinder gefunden wurden, wird erneut über die kanadische Kolonialpolitik diskutiert. Bereits 2015 hatte eine Untersuchungskommission festgestellt, dass an den First Nations des heutigen Kanadas ein kultureller Genozid begangen wurde. Obwohl Premier Trudeau damals lückenlose Aufklärung forderte, waren Kanadas koloniale ‚Altlasten‘ für seine Liberale Partei im jüngsten Wahlkampf kein Thema mehr. Um den Genozid aufzuarbeiten, müssen jedoch juristische Konsequenzen und eine Übernahme der politischen Verantwortung ineinandergreifen.

Auch unter dem Einfluss postkolonialer Forschung sind neue Bestrebungen ehemaliger Kolonialmächte entstanden, ihre Vergangenheit politisch und moralisch zu reflektieren. Das kontrovers diskutierte Abkommen zwischen Deutschland und Namibia ist hierfür ein Beispiel. Darin erkennt das heutige Deutschland die historische Gewalt als Genozid an Herero und Nama an. Im Unterschied zu dieser Konstellation wurde in Kanada ein ‚inländischer Völkermord‘ begangen. Täter*innen- und Opfergruppen leben im gleichen Staat. Die genozidalen Gewalttaten stellen ein Kolonialverbrechen dar, dessen Aufarbeitung nicht nur politische und moralische, sondern auch rechtliche und gesellschaftliche Sprengkraft besitzt. Um Prozesse der Aufarbeitung zu mobilisieren, müssen diese verschiedenen Ebenen adressiert werden.

Koloniale Gewalt und genozidale Vernichtungspolitik

Im Zuge der Kolonialisierung begingen die weißen[i] Siedler*innen in Nordamerika eine Vielzahl an Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es gibt Hinweise darauf, dass sie das Volk der Mi’kmaq systematisch durch Massentötungen im 18. Jahrhundert dezimierten. Die Beothuk vertrieben sie so lange von den Küsten Neufundlands, bis sie ausgestorben waren. Die indigene Bevölkerung wurde in der frisch gegründeten Kanadischen Konföderation als Sicherheitsproblem deklariert. „I want to get rid of the Indian problem“, konstatierte der Chef des Ministeriums für Indian Affairs im Jahr 1920, „our object is to continue until there is not a single Indian in Canada that has not been absorbed into the body politic, and there is no Indian question, and no Indian Department“.

Das erklärte Ziel dieser Strategie war die kulturelle Angleichung der Inuit, Métis und heute sogenannten First Nations an die weiße Gesellschaft. Die kanadische Elite etablierte zur Durchsetzung der Assimilationspolitik ein Schulsystem in kirchlicher Trägerschaft. Seit 1876 wurden rund 150.000 Kinder unter staatlichem Zwang von ihrer Familie getrennt und in Internaten untergebracht. Dort sollten sie christianisiert und ‚umerzogen‘ werden. Das Assimilationsprogramm des Schulheimsystems ging einher mit körperlichen und sexuellen Misshandlungen. Gesunde Kinder lebten mit an Masern, Grippe oder Tuberkulose erkrankten Kindern auf engstem Raum zusammen; Überlebende berichten auch von Mangelernährung. Viele Kinder kehrten nicht zu ihren Eltern zurück. Über ihren Verbleib schwiegen die Internate, viele bis heute. Die Skelettfunde geben den Familien der Verschollenen nun die Möglichkeit, zu rekonstruieren, was geschehen ist: Mindestens 4.100 Kinder starben auf den Schulgeländen und wurden in geheimen Massengräbern verscharrt. Die Dunkelziffer ist noch höher. Der junge Staat Kanada setzte zudem den Indian Act in Kraft, ein Gesetzestext, der sowohl bestimmt, wer als ‚indigen‘ gilt, als auch das Leben der Benannten reglementiert. Bis auf minimale Abwandlungen gelten die Reglementierungen des Indian Acts für Angehörige der First Nations noch heute.

Mobilisierung des Rechts „von unten“

Bereits seit den 1980er Jahren versuchen indigene Gemeinschaften, die Geschehnisse rechtlich zu verfolgen und die Verantwortlichen für das erzeugte Leid zur Rechenschaft zu ziehen. Bürgerrechtler*innen beriefen sich in Sammelklagen vor kanadischen Gerichten auf Einzeltaten wie Misshandlung oder sexuellen Missbrauch. Doch wird die Verfolgung solcher Einzeltaten dem Unrechtsgehalt der systematischen Existenzgefährdung gerecht, die Indigene erlitten haben?

Antworten finden sich in verschiedenen Feldern des internationalen Rechts. Während der Nürnberger NS-Prozesse wurde der Straftatbestand diskutiert, den viele Opfergruppen auch in der Assimilationspolitik Kanadas vorliegen sehen: Das Verbrechen des Genozids. Kurz darauf verabschiedeten die Vereinten Nationen (United Nations, UN) die Genozidkonvention. Demnach gilt die ganzheitliche oder teilweise Vernichtung einer nationalen, ethnischen, ‚rassischen‘[ii] oder religiösen Gruppe, oder der Versuch hiervon, als Völkermord. Das Völkermord-Verbot beschränkt sich jedoch nur auf die physisch-biologische Ausrottung bestimmter Menschengruppen. Allerdings liegt laut Konvention ebenfalls ein Völkermord vor, wenn eine gewaltsame Überführung von Kindern in eine andere gesellschaftliche Gruppe stattgefunden hat. Auf diesen Unterabsatz berufen sich zahlreiche First Nations und auch australische Aboriginals, um die ehemaligen Kolonialmächte im Hinblick auf ihre genozidalen Handlungen zur Verantwortung zu ziehen.

Das ursprüngliche Dokument der Genozidkonvention differenzierte Völkermord breiter und schützte damit einen größeren Personenkreis. Insbesondere legte jener Entwurf fest, was ein kultureller Genozid sei und stellte diesen unter Strafe. So sei kultureller Genozid die „Zerstörung der spezifischen Charakteristika einer Gruppe mit brutalen Mitteln“. 1948 waren die Staaten jedoch in den UN-Verhandlungen geteilter Meinung über diesen Völkermordbegriff. Insbesondere Staaten mit kolonialer Vergangenheit lehnten das Konzept ab. Schließlich wurde der weite Begriff komplett aus dem Vertragstext gestrichen. Auch in jüngeren Verträgen taucht der Begriff nicht auf, stattdessen wird auf ähnliche, uneinheitliche Begriffe verwiesen wie ‚kultureller Schaden‘ oder ‚kulturelle Assimilation‘.

So stand auch in Kanada in jeder rechtlichen Debatte um Reparationszahlungen an die Opfer des Schullandheimsystems der Elefant im Raum: Gibt es für das, was den Indigenen Kanadas angetan wurde, eine legale Definition? Wiedergutmachungszahlungen wären schließlich eine logische Konsequenz auf einen Rechtsbruch, der dafür allerdings erst einmal nachgewiesen werden muss. Die Skelettfunde auf den Geländen der ehemaligen Residential Schools sind in dieser Debatte ein nicht von der Hand zu weisendes Indiz für eine vorsätzliche kulturelle Auslöschungsstrategie geworden.

Nicht nur mit den Sammelklagen einzelner Betroffener erhöhte sich der Druck auf den kanadischen Staat und die christlichen Kirchen, sondern auch durch die aktivistische Arbeit indigener Bürgerrechtler*innen. Überlebende des kanadischen Internatssystems machten Schadensersatzforderungen in Milliardenhöhe geltend. Schließlich verabschiedete der kanadische Staat 2006 das Indian Residential School Settlement Agreement, einen ‚Aussöhnungsvertrag‘ zwischen Opfergruppen, dem Staat und den Kirchen. Dieser beinhaltete ein System zur Zahlung von Entschädigungen und die Installation einer Wahrheitskommission (Truth and Reconciliation Commission of Canada, TRC). Nach sieben Jahren Recherche und fast 7.000 Interviews mit Betroffenen ist das Fazit der TRC eindeutig: Mit 94 Handlungsempfehlungen ruft sie die Regierung dazu auf, das koloniale Erbe der Residential Schools aufzuarbeiten und die innerkanadische Versöhnung voranzutreiben.

Wie knüpft die Politik an den Aufarbeitungsprozess an?

Politisch folgten auf den Bericht der TRC einmal mehr Entschuldigungsbekundungen sowie ein Bekenntnis dazu, dass die Verbrechen an den kanadischen First Nations einen kulturellen Genozid darstellten. Doch ein Eingeständnis für etwas, das keinen rechtlich bestimmten Charakter hat, ist zunächst nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Da das Recht nicht statisch ist, sondern an neue Regelungsbedarfe angepasst werden kann und muss, braucht es hier die Politik. Denn obwohl bereits zahlreiche Wiedergutmachungsversuche vonseiten der kanadischen Regierung angestrengt wurden, berühren diese das Leben der weißen kanadischen Gesellschaft wenig. Auch individuelle Reparationszahlungen zielen primär auf die Aussöhnung zwischen einzelnen Opfern und Täter*innen ab, sie bringen aber einen gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitungsprozess wenig voran. Eine Reihe von Forscher*innen stellt zudem die Frage, inwieweit die Auslöschung einer kompletten Kultur überhaupt durch Reparationszahlungen ‚wettgemacht‘ werden könne oder ob diese Kultur nicht eher durch monetäre Maßnahmen wiederbelebt werden sollte.

Auf Grundlage solcher Überlegungen forderte auch die TRC in ihrem Abschlussbericht konkrete Investitionsmaßnahmen, die die bis heute anhaltende systematische Diskriminierung der indigenen Bevölkerung ausgleichen sollten. So sollten etwa im Bereich der kulturellen Bildung, im Gesundheitssektor und in der Jugendarbeit zahlreiche staatlich finanzierte Projekte entstehen. Der damals erstmals für die Liberale Partei in den Wahlkampf ziehende Justin Trudeau beteuerte 2015 nach der Veröffentlichung des Untersuchungsberichts sein Bestreben, die Handlungsempfehlungen der Untersuchungskommission lückenlos umsetzen. Bis heute sind laut einer Studie eines kanadischen Forschungsinstituts aber lediglich neun der 94 Handlungsempfehlungen der TRC effektiv umgesetzt worden.

Dass die Aufarbeitung seiner eigenen kolonialen Vergangenheit für den kanadischen Staat ein unliebsames Thema ist, zeigte sich schon während der auffallend schleppenden Zusammenarbeit mit dem TRC. Die Bürokratisierung jedes noch so ‚kurzen Dienstwegs‘ hat der Wahrheitskommission den Zugang zu zahlreichen Zeug*innenaussagen versperrt. Das bestärkt(e) wiederum den Widerstand der First Nations gegen diesen Aufarbeitungsprozess. Das Misstrauen gegen staatliche Institutionen war und ist so stark, dass die TRC in Folge ihres Regierungsmandats von vielen als Teil der Täter*innengruppe angesehen wird. Letztlich repräsentiert sie das Westliche System, welches den Indigenen seit der Kolonisation Nordamerikas aufoktroyiert wurde.

Die Skelettfunde im Umfeld der Residential Schools rütteln die kanadische Gesellschaft auf. Der Fall führt vor Augen, dass die rechtliche Regelungslücke dem begangenen Unrecht an den First Nations nicht das Konfliktpotential nimmt. Premier Trudeau sollte genau jetzt für die Etablierung des Straftatbestands des kulturellen Genozids plädieren. Dieser Schritt würde seinem Land zur langfristigen rechtlichen Aufarbeitung des Genozids verhelfen.

Bisher fehlt es den staatlich initiierten Maßnahmen an der Vision, einen soziokulturellen Wandel einzuleiten. Politische Entscheidungsträger*innen stehen in der Verantwortung, das Paradigma ‚Einzeltäter*in versus Opfer‘ aufzubrechen und einem gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitungsprozess Raum zu geben. Kanadas weiße Bevölkerung hat das System der Diskriminierung Indigener mitgetragen, daher muss die Politik sie auch in den Prozess der Kompensation miteinbeziehen. Solange der Schock über die verscharrten Kinderleichen in der weißen kanadischen Gesellschaft noch nicht abgeklungen ist, bietet sich für den nordamerikanischen Staat die Chance, einen rechtlich-politisch verschränkten Aufarbeitungsprozess in die Wege zu leiten, von dem auch andere ehemalige Kolonialstaaten lernen könnten.


[i] Um den Konstruktionscharakter von Weißsein zu verdeutlichen, wird weiß kursiv geschrieben. Vertiefend dazu hier.

[ii] Die Verwendung des Begriffes ‚Rasse‘ ist vieldiskutiert in den Rechtswissenschaften, siehe beispielsweise hier.

Friederike Drews

Friederike Drews studiert an der Philipps-Universität Marburg Internationale Strafjustiz (Master) und absolviert derzeit bei Sabine Mannitz ein Praktikum im Forschungsfeld zur Aufarbeitung kolonialer Gewalt.

Friederike Drews

Friederike Drews studiert an der Philipps-Universität Marburg Internationale Strafjustiz (Master) und absolviert derzeit bei Sabine Mannitz ein Praktikum im Forschungsfeld zur Aufarbeitung kolonialer Gewalt.

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