Ende Mai legte der Internationale Seegerichtshof ein mit Spannung erwartetes Gutachten vor. Eine Gruppe kleiner Inselstaaten hatte den Seegerichtshof im Dezember 2022 angerufen, um die Frage zu klären, was die Pflichten der Vertragsstaaten des Seerechtübereinkommens für den Klimaschutz umfassen. Der Seegerichtshof kam zu dem Ergebnis, dass die Staaten verpflichtet sind, die Meeresverschmutzung zu verhindern. Auch wenn das Gutachten rechtlich nicht bindend ist, dürfte es Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der Rechtsprechung zum Klimaschutz haben. Zugleich ist fraglich, wie groß die normative Wirkung des Gutachtens sein kann, da die über den Kern des Völkerrechts hinausgehende regelbasierten Ordnung zurzeit an Bedeutung verliert.
Der Antrag für das Gutachten wurde von der Commission of Small Island States on Climate Change and International Law (COSIS) gestellt, der 12 Insel- und niedrig liegende Küstenstaaten angehören und die sich im Zuge der Klimakonferenz der Vereinten Nationen COP26 in Glasgow (2021) gründete. Das Ziel der Kommission, der die Premierminister von Antigua und Barbuda sowie Tuvalu vorsitzen, ist die Förderung der Definition und Implementierung progressiver internationaler Regeln für den Klimaschutz (vgl. Art. 1 (3) COSIS Agreement).
Internationale oder nationale Gerichte um eine Entscheidung oder Stellungnahme zu ersuchen, ist ein erprobtes Instrument zur Verfolgung dieses Ziels. Auch der Internationale Gerichtshof wurde beispielsweise im Dezember 2023 durch eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen zu einem ähnlichen Gutachten (Advisory Opinion) aufgefordert, das aber noch nicht vorliegt. Im Internet finden sich Datenbanken zu zahlreichen Gerichtsverfahren zur Stärkung des Klimaschutzes. Auch die Völkerrechtswissenschaft widmet sich diesen spezifischen Verfahren und deren Folgen. Das aktuelle Gutachten des Seegerichtshofs ist als solches also nicht besonders außergewöhnlich. Vielmehr ist es Teil gegenwärtiger Strategien von Staaten und zivilgesellschaftlichen Akteuren, Gerichte für die Förderung des Klimaschutzes im Sinne einer „strategic litigation“ zu nutzen. Es stellt sich allerdings die Frage, die wir in diesem Blogbeitrag erörtern werden, ob sich die Erfolgsaussichten dieser Strategien gerade verschlechtern.
Inselstaaten haben Recht auf mehr Klimaschutz
Das Gutachten ist ein Erfolg für COSIS, da es die Ansprüche auf mehr Klimaschutz der Inselstaaten bestätigt. Das Gutachten stellt nicht nur fest, dass die durch den Menschen verursachten Treibhausgase eine Verschmutzung der Meere darstellen. Das Seerechtsübereinkommen verpflichte die Staaten, Maßnahmen gegen diese Verschmutzung zu ergreifen. Den Inselstaaten ging es konkret darum, welche Maßnahmen die Vertragsstaaten des Seerechtsübereinkommen ergreifen müssen, um einerseits die aus dem Klimawandel resultierende Verschmutzung der Meeresumwelt zu verhüten, zu verringern und zu überwachen, und andererseits die Meeresumwelt vor den Auswirkungen des Klimawandels zu schützen und zu erhalten. Das Gericht kam einstimmig zu dem Ergebnis, dass insbesondere Art. 194 United Nations Convention on the Law of the Sea (UNCLOS) die Staaten verpflichte, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Meeresverschmutzung durch anthropogene Treibhausgasemissionen zu verhindern, zu verringern und zu kontrollieren, und sich zu bemühen, ihre Politik in diesem Bereich zu harmonisieren. Weitere Bestimmungen des Übereinkommens nutzt der Seegerichtshof zur Konkretisierung dieser Verpflichtungen. Siehe das vollständige Gutachten hier.
Weiterentwicklung der Auslegungsmethoden
Bemerkenswert ist, dass der Seegerichtshof auf der Grundlage seiner bisherigen Spruchpraxis die Methoden der Auslegung des Übereinkommens weiterentwickelt. Insbesondere geht er davon aus, dass die Seerechtskonvention ein „living instrument“ (Abs. 130 des Gutachtens) ist, dass das Übereinkommen und andere völkerrechtliche Regeln koordiniert und harmonisiert. Dabei geht der Gerichtshof durchaus selektiv vor, wenn er umweltvölkerrechtliche Verträge einbezieht, aber menschenrechtliche Vereinbarungen nur am Rande erwähnt und sie konkret nicht berücksichtigt. Was das Pariser Abkommen betrifft, so sei dies besonders bedeutsam („particularly relevant“) und für die Auslegung von Art. 194 UNCLOS heranzuziehen, stelle aber kein lex specialis dar (Abs. 215 und 222-3 des Gutachtens). Dabei unterstreicht der Gerichtshof, dass Art. 194 Abs. 1 UNCLOS konkrete Rechtspflichten begründe, deren Verletzung zu Staatenverantwortlichkeit führen könne (Abs. 223 des Gutachtens), während das Pariser Abkommen mit den nationalen Emissionszielen („nationally determined contributions“ nach Art. 4 Abs. 2 des Pariser Abkommens) in erster Linie freiwillige Verbindlichkeiten begründe. Auf dieses Verhältnis zwischen rechtsverbindlichen und anderen Verpflichtungen gehen wir im Folgenden noch einmal ein.
Welche Rolle spielt die Klimawissenschaft?
Eine charakteristische Eigenschaft der Klimadebatte ist, welchen Stellenwert wissenschaftliche Erkenntnisse zum Klimawandel für politische und rechtliche Entscheidungsprozesse haben. Das Gutachten befasst sich mit dieser Frage in rechtlicher Hinsicht, und zwar anhand der komplexen und unterschiedlichen Verständnisse rechtlicher Sorgfaltspflichten („due diligence“). Der Gerichtshof macht einerseits klar, dass umweltwissenschaftlichen Erkenntnissen (insbesondere des IPCC, vgl. Abs. 208 des Gutachtens) zentrale Bedeutung zukommt. Anderseits unterstreicht er aber, dass diese Erkenntnisse für sich genommen – ohne Berücksichtigung anderer, vom Seegerichtshof nicht näher bezeichneter Erwägungen – keine unmittelbaren Rechtspflichten auslösen (Abs. 212 und 213 des Gutachtens).
Mehr noch, durch die Berücksichtigung des Prinzips der gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung („common but differentiated responsibilities“) können die Erwartungen an die Vertragsstaaten, trotz gleicher wissenschaftlich begründeter Erfordernisse, variieren, so dass Staaten mit mehr Fähigkeiten auch mehr tun müssen (Abs. 241 des Gutachtens). Der Gerichtshof zeigt hier einen ambivalenten Umgang mit den Konzepten einer „due diligence“ und „stringent due diligence“. Sorgfaltspflichten (siehe dazu schon die Gutachten von 2011 und 2015) müssen zwar stringent verstanden werden, aber ihre Implementierung und Anwendung können sich unterscheiden. Leider ist der Umgang mit „stringent“ im Gutachten alles andere als eindeutig. So bleibt unklar, ob der Gerichtshof die Pflichten als Verhaltens- oder Ergebnispflichten interpretiert („obligations of conduct“ oder „obligations of result“). Immerhin meint der Gerichtshof, dass es sich bei Art. 194 Abs. 1 UNCLOS um eine Verhaltenspflicht handelt (Abs. 238 des Gutachtens). Zu 194 Abs. 2 und zu 192 UNCLOS bleibt der Gerichtshof unpräzise (Abs. 265, 286 und 399 des Gutachtens). Es finden sich lediglich Andeutungen, die man so oder so interpretieren kann. Zu Recht kritisiert Diane Desierto:
„The ambiguity of the “stringent due diligence” standard as articulated in the ITLOS 2024 Advisory Opinion on Climate Change and International Law creates simultaneous hazards of overbreadth and underinclusion“.
Letztlich bleibt unklar, wer (sic!) entscheidet und welche Rolle der Begriff „best available science“ spielt.
Politisierung des Seerechtsübereinkommens
Auch im Hinblick auf die Kooperations- und Unterstützungspflichten vermeidet der Gerichtshof eine nähere Festlegung. Er verweist lediglich auf die Pflicht, „to participate meaningfully“ an multilateralen Prozessen (Abs. 307 des Gutachtens). Der Gerichtshof formuliert ähnlich wie im Gutachten von 2015, dass „substantial effort should be made by all States concerned“ (Abs. 308 und 422 des Gutachtens). Im Hinblick auf Unterstützungspflichten zugunsten von Entwicklungsländern skizziert der Gerichtshof drei Dimensionen, stellt diese allerdings allesamt unter Ermessensvorbehalt („discretion“):
„first … the promotion of programmes of scientific, educational, technical, and other assistance to developing States; … second … the provision of appropriate assistance … in order to minimize the effects of major incidents which may cause serious marine pollution; … (and) third (the provision of) appropriate assistance … concerning the preparation of environmental assessments.“ (Abs. 332-335)
Insgesamt entwickelt der Seegerichtshof die Auslegung von UNCLOS weiter, schafft dabei aber nicht nur Klarheiten, sondern auch Unklarheiten. Viele vom Gerichtshof angedachten Weiterentwicklungen werden in der Folge von ihm selbst wieder relativiert. Es bleibt manches beim „Bemühen“. Dadurch werden die Pflichten aus UNCLOS in dem Sinne politisiert, dass sie dem Ermessen politischer Entscheidungsträger*innen überlassen werden und dabei einen Teil der „rechtlichen Substanz“ wieder einbüßen, die der Gerichtshof zuvor entwickelt hat. Im Ergebnis ist gleichwohl von Bedeutung, dass der Seegerichtshof die negativen Folgen des Klimawandels als Verschmutzung der Meeresumwelt qualifiziert und den umweltspezifischen Verpflichtungsgehalt von UNCLOS betont.
Das Ende der Informalität?
Auch wenn das Gutachten rechtlich nicht bindend ist, wird ihm in Rechts- und Politikwissenschaft eine nicht geringe normative Wirkung zugesprochen. Nationale Gerichte werden in ihren Entscheidungen auch Bezug auf das Gutachten nehmen. Auf diese Weise wird es zur Normgenese- und -durchsetzung in ganz unterschiedlichen Kontexten beitragen. Klimaentscheidungen nationaler Gerichte bieten Anschauungsmaterial für die Einbindung internationaler Normen und Praktiken unabhängig von ihrer jeweils spezifischen völkerrechtlichen Verbindlichkeit, wie im deutschen Fall etwa der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem März 2021.
Informalität wird ganz allgemein in den internationalen Beziehungen als ein eigener Modus der Kompromissfindung und Normenbildung verstanden. Das Pariser Übereinkommen wäre als internationaler Vertrag nicht möglich gewesen, wenn zentrale Elemente wie die nationalen Emissionsziele in ihrer Reichweite nicht der politischen Entscheidungsfindung jeder einzelnen Vertragspartei überlassen worden wären („nested informality“). Informelle Übereinkommen finden sich jenseits der internationalen Umweltpolitik etwa in Bereichen der Migrations- oder Sicherheitspolitik.
Informalität ist vor allem dann wirksam, wenn die internationale regelbasierte Ordnung als über das Völkerrecht hinausgehend verstanden wird. Gerade dies scheint aber zunehmend nicht mehr der Fall zu sein. Ein wichtiges und aktuelles Beispiel nicht für den Verfall, aber für geringere Ansprüche an die regelbasierte Ordnung ist die deutsche Nationale Sicherheitsstrategie, die im Frühsommer 2023 erstmals veröffentlich wurde. In einer Kernpassage zur regelbasierten Ordnung heißt es:
„Wir treten ein für eine freie internationale Ordnung auf Grundlage der Charta der Vereinten Nationen, der universellen Menschenrechte und des Völkerrechts. Wir engagieren uns für den Multilateralismus und für die Stärkung der Vereinten Nationen. Den Versuchen, die Welt in Einflusssphären einzuteilen, stellen wir das positive Modell einer solchen regelbasierten Ordnung entgegen.“ [Hervorhebung SK]
Dies ist der Versuch, den Multilateralismus dadurch zu stärken, dass er offener für Akteure ist, die liberale Prinzipien nicht teilen. Dies gelingt nur dann, wenn der „Multilateralismus als Rahmenordnung“ weniger ambitionierte Ziele verfolgt. Das Ergebnis ist hier die Re-Definition „einer solchen“ regelbasierten Ordnung, die auf die materiell-rechtliche Substanz des Völkerrechts verengt ist.
Kernfragen des internationalen Rechts
Das Gutachten fällt in eine Zeit, in der die globale Ordnung in Folge einer tiefgreifenden Krise in einem Findungsprozess ist. Konnte noch vor wenigen Jahren der Optimismus groß sein, dass auch juristisch nicht-bindende internationale Instrumente eine normative Bindungswirkung entfalten würden, ist dies heute nicht mehr der Fall. Der Angriff Russlands auf die Ukraine und auch der Krieg in Gaza haben die Debatte über internationale Normen auf die materielle-rechtliche Substanz internationalen Rechts zurückgeführt: in den konkreten Fällen Krieg und Frieden sowie Humanität im militärischen Konflikt. Diese Kriege lenken als akute Krisen nicht nur seit 2022 von der notwendigen langfristigen Transformation zum Schutz von Klima und Biodiversität ab. Insbesondere der Angriff Russlands hat in seinen übergeordneten Folgen für die internationale Ordnung schon jetzt dazu geführt, dass die Wirksamkeit – nicht die Aktivität selbst – bewährter Instrumente der internationalen Problemlösung reduziert ist. Das Gutachten des Seegerichtshofs, das in der Sache wichtig und zu begrüßen ist, könnte davon direkt betroffen sein.