Triggerwarnung: Der folgende Blogbeitrag behandelt geschlechtsspezifische Gewalt.
Der Anstieg geschlechtsspezifischer Gewalt und die daraus resultierenden Debatten rücken zunehmend in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Fälle wie der Prozess um die Taten gegen Gisèle Pelicot, die Massenvergewaltigung und Ermordung einer indischen Ärztin, der gemeinsame Suizid von Frauen im Sudan zum Schutz vor weiteren Vergewaltigungen, die Ermordung der Olympionikin Rebecca Cheptegei durch ihren Ex-Partner oder das internationale Vergewaltiger-Netzwerk in Telegramgruppen verdeutlichen das globale und hohe Ausmaß geschlechtsspezifischer Gewalt. Auch in Deutschland spiegelt sich dies wider. Das BKA-Lagebild zu geschlechtspezifischer Gewalt gegen Frauen in Deutschland im Jahr 2024 zeigt alarmierende Zahlen: „Fast jeden Tag ein Femizid in Deutschland“.
Doch bereits der Titel des Lagebilds wirft Fragen auf, denn in den Vorbemerkungen des Berichts wird klar, dass die Begriffe geschlechtsspezifische und geschlechtsbezogene Gewalt vermischt werden. Geschlechtsbezogene Gewalt hebt das Motiv der Gewalt hervor, etwa Misogynie oder Queerfeindlichkeit. Geschlechtsspezifisch beschreibt hingegen, wie sich die Gewalt äußert. Damit ist etwa sexualisierte Gewalt gemeint, aber auch erzwungene Sterilisationen oder Abtreibungen und Foltermethoden, die sich gegen die Genitalien richten. Der Definition des European Center for Constitutional and Human Rights zufolge bezieht sich der Begriff geschlechtsbezogene Gewalt dabei nicht nur auf das biologische und soziale Geschlecht, sondern umfasst auch systemische Gewalt wie heteronormative Geschlechterhierarchien. Heteronormativität meint dabei die Positionierung von Heterosexualität als gesellschaftliche Norm.
Zwar suggeriert der Titel des BKA-Lageberichts, dass die Tatmotivation erfasst wurde, doch die Daten zu Tötungsdelikten an Frauen basieren auf der Polizeilichen Kriminalstatistik, die keine „tatauslösende[n] Motive“ erhebt. Dadurch werden diese Fälle nicht als politisch motivierte Kriminalität erfasst und es tauchen nur 29 Fälle von Gewalt mit explizit frauenfeindlichem Motiv in der Statistik auf. Wird durch die lückenhafte Datenlage einerseits das Problem verharmlost, ergibt sich durch die Vermischung von Formen und Ursachen der Gewalt eine analytische Unschärfe.
Begriffliche Unschärfe und Cisnormativität: Lücken im Lagebericht
Diese Unschärfe erstreckt sich auch auf Queerfeindlichkeit, die durch eine konzeptionelle Verengung nicht erfasst und somit aus dem Diskurs über geschlechtsbezogene und -spezifische Gewalt ausgeschlossen wird. Das BKA definiert geschlechtsspezifische Gewalt als „Straftaten der Hasskriminalität, welche aufgrund einer von Vorurteilen gegen Frauen oder das weibliche Geschlecht geleiteten Tatmotivation heraus begangen werden”. Damit wird ein cisgeschlechtlicher Frauenbegriff vorausgesetzt, ohne diesen zu operationalisieren oder gar zu problematisieren. Cisnormativität meint dabei die Machtstruktur, in der die Identifikation mit dem eigenen biologischen Geschlecht (Cis-gender), sowie binäre (Mann/Frau) Geschlechtszuschreibungen als Norm gesetzt werden.
Wissenschaftliche Studien belegen den Befund des BKA, dass die überwältigende Mehrheit der Opfer weiblich ist und zeigen, dass das Risiko, vom Partner getötet zu werden, für Frauen nach einer Trennung erheblich ansteigt. Darin äußert sich ein Kontrollverlust der Täter, der auf patriarchale Besitzansprüche zurückgeht. Das Auftreten von Gewalt muss daher strukturell analysiert werden. Gewaltstrukturen unterliegen Machtasymmetrien. Macht- und Herrschaftsasymmetrien sowie sozio-ökonomische Unsicherheit verstärken das Risiko der Gewaltbetroffenheit, insbesondere für marginalisierte Gruppen wie FLINTA-Personen, also Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nicht-binäre, trans Personen und agender Personen, oder rassifizierte Menschen. Trotz der Unschärfen legt das BKA-Lagebild also offen, dass in Deutschland ein deutliches Problem mit patriarchaler Gewalt herrscht: Bestand oder besteht zwischen Opfern und Tatverdächtigen eine Partnerschaft, waren die Tatverdächtigen bei allen Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt in 94 % männlich. In der Kategorie der politischen Straftaten, also bei geschlechtsbezogener Gewalt, waren die Tatverdächtigen in rund 93 % der Fälle männlich.
Patriarchale Gewalt und die Grenzen des Gewalthilfegesetzes
Das im Februar verabschiedete Gewalthilfegesetz möchte dem entgegenwirken, indem es einen kostenfreien Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung für gewaltbetroffene Frauen gesetzlich verankert. Um den damit notwendigen Ausbau von Schutz- und Beratungsstellen zu gewährleisten, soll der Bund zwischen 2027 und 2026 2,6 Milliarden Euro zur Verfügung stellen.
Das Gesetz greift jedoch zu kurz. Um die strukturellen Ursachen zu bekämpfen, reicht es nicht aus, den Zugang zu Schutz- und Beratungseinrichtungen zu vereinfachen. Der Schutz bei akuter Gefahr muss zwingend um ein Konzept zur Prävention von Gewalt ergänzt werden, um Strukturen, die zur Gewaltausübung führen, entgegenzuwirken. Besonders problematisch ist außerdem, dass der im Gesetz festgelegte Rechtsanspruch nicht für alle Betroffenen gilt. Obwohl die Istanbul-Konvention voraussetzt, Geschlecht nicht ausschließlich biologisch zu verstehen, sind trans, intergeschlechtliche und non-binäre Personen davon nicht erfasst. Auch die spezifischen Hürden für geflüchtete Personen finden keine Berücksichtigung.
Zudem geht es nicht nur darum, Betroffene vor akuter Gewalt zu schützen, denn dies drängt sie in eine Opferposition und lässt ihre Selbstwirksamkeit in den Hintergrund rücken. Damit wird erneut ein Machtungleichgewicht geschaffen. Vielmehr muss auf gesamtgesellschaftlicher Ebene angesetzt werden, um geschlechtsbezogener Gewalt vorzubeugen und sie bereits in ihrer Entstehung zu verhindern. Dazu muss auf die Veränderung von Einstellungen gezielt werden, etwa durch gewaltpräventive Bildungsarbeit an Schulen sowie durch Weiterbildung und Unterstützung für Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen, Journalist*innen oder Kommunalpolitiker*innen. Ein Ansatz wären institutionsübergreifende Fallkonferenzen wie sie bereits in Rheinland-Pfalz praktiziert werden. Hier finden monatliche Treffen zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft, Interventionsstellen, Frauenhäusern und Täterarbeitseinrichtungen statt, die durch moderierte Besprechungen in konkret auf die Fälle zugeschnittene Maßnahmenpläne münden.
Das Gewalthilfegesetz ist zudem nur reaktiv gedacht. Notwendig ist ein Fokus auf die Ursachen von Täter*innenschaft sowie auf das gesamte Kontinuum von Gewalt. Auch Betroffene verbaler und psychischer Gewalt benötigen besseren Zugang zu Beratungs- und Schutzeinrichtungen. Darüber hinaus sollten die strafrechtliche Verfolgung geschlechtsbezogener und -spezifischer Gewalt verstärkt und staatliche Meldestellen eingerichtet werden.
Um die Ursachen geschlechtsbezogener Gewalt frühzeitig zu adressieren, muss der dem Gewalthilfegesetz zugrundeliegende krisenbehaftete Schutzbegriff durch einen präventiven, feministischen Schutzbegriff ersetzt werden. Statt patriarchale Gewalt nur als individuelles Phänomen zu betrachten, zeigt sich im feministischen Schutzbegriff ein Perspektivwechsel, der gesellschaftliche Machtverhältnisse mitdenkt. Daran schließt auch das Konzept des „Kontinuums der Gewalt” von Liz Kelly an. Kelly argumentiert, dass die Gewalt nicht isoliert betrachtet werden sollte, sondern auf einem Kontinuum verortet ist. Zu diesem gehören auch psychische Gewalt, misogyne Witze oder sexuelle Belästigung, die häufig keiner Sanktionierung – weder gesellschaftlich noch strafrechtlich – unterliegen.
Femi(ni)zid: Ein feministischer Begriff für strukturelle Gewalt
Um über Symptombekämpfung hinauszugehen, braucht es deshalb eine Debatte zu Ursachen struktureller Gewalt. Dazu zählt auch die Verwendung der treffenden Begriffe, sei es bei der Unterscheidung zwischen geschlechtsbezogener und geschlechtsspezifischer Gewalt als auch der Benennung dieser in der medialen Berichterstattung. Dort werden immer wieder Formulierungen wie „Eifersuchtsdrama” oder „Beziehungstat” genutzt, die die Taten verharmlosen und gesellschaftliche Ursachen verschleiern. Auffällig ist zudem, dass der Begriff „Mord” häufig nur als Reproduktion von antimuslimischem Rassismus im Begriff „Ehrenmord” auftaucht.
Feministische Organisationen fordern daher, die Begriffe „Femizid “oder „Feminizid“ für geschlechtsbezogene Tötungen zu verwenden. Dieser geht auf Diane Russell und Jill Radford zurück, die Femizide 1992 als „the misogynous killing of women by men” definierten. Marcela Lagarde y de los Ríos prägte dann den Begriff „Feminizid”, um das Motiv der geschlechtsbezogenen Tötung sowie der Verantwortung des Staates stärker hervorzuheben. Gleichzeitig kann damit in Abgrenzung zu Russells Begriffsverständnis sichtbar gemacht werden, dass sich patriarchale Gewalt nicht nur in heterosexuellen Beziehungen und zwischen cisgeschlechtlichen Personen äußert. Das Autor*innenkollektiv Biwi Kefempom differenziert zwischen einer theoretischen und einer politischen Dimension. Theoretisch zielt der Begriff „Femi(ni)zid“ darauf ab, Morde an FLINTA-Personen als Gewaltformen zu begreifen, bei denen das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung eine zentrale Rolle spielen. Politisch verstehen sie die Verwendung des Begriffs als feministische Praxis, die auf die kritische Auseinandersetzung mit den patriarchalen und heteronormativen Strukturen abzielt. Der Begriff „Femi(ni)zid” durchbricht außerdem die Täter-Opfer-Dichotomie (Täter vs. Opfer), die das Narrativ von Einzelfällen fördert.
In Deutschland wurde der Begriff „Femizid” 2021 in den Duden aufgenommen. Auch das BKA verwendet ihn in seinem Lagebild, weist aber darauf hin, dass eine einheitliche Definition fehlt und die Motive für Tötungsdelikte nicht erfasst werden. Dadurch bleibt unklar, welche Tötungsdelikte an Frauen als geschlechtsbezogene Gewalt einzuordnen sind. Durch die Differenzierung in Opfer- und Tätergruppen kann daher zwar das Ausmaß geschlechtsspezifischer Gewalt erfasst werden, eine Analyse der Ursachen fehlt jedoch. Es bleibt daher auch unklar, wie man die Zielvorgabe, die Entwicklung von Femiziden zu beobachten und „deren politische Tathintergründe zu erkennen und aufzuklären”, erreichen möchte.
Datenerfassung und ihre Grenzen
Ein weiteres Hindernis ist die Datenerfassung. Das liegt nicht nur an der Diversität der Gewaltformen, sondern auch an den Kontexten der Gewalt. Besonders bei partnerschaftlicher Gewalt schweigen Betroffene oft aus Angst vor weiteren Übergriffen. Dadurch bleibt die Dunkelziffer hoch, während viele Formen von Gewalt in patriarchal geprägten Strukturen unsichtbar bleiben.
Der Vergleich mit anderen EU-Ländern zeigt, dass die Ursachen geschlechtsbezogener Gewalt durch die Erfassung von Fallzahlen nur schwer zu greifen sind. Die verfügbaren Daten weisen erhebliche Unterschiede in der Anzahl der Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt auf. So liegt der Anteil von Frauen, die physische oder sexualisierte Gewalt erfahren haben, in Finnland und Schweden bei über 50 %, während er in Bulgarien und Polen bei unter 20 % liegt. Deutschland liegt mit 25,6 % knapp unter dem EU-Durchschnitt (30,7 %). Diese Unterschiede werfen Fragen zur Datenerfassung, gesellschaftlichen Normen und Meldebereitschaft auf.
Auffällig ist das sogenannte „Nordic Paradox”: Die Forschungsliteratur bezeichnet damit den scheinbar widersprüchlichen Befund von hoher gesellschaftlicher Gleichstellung bei gleichzeitig hohen Fallzahlen geschlechtsspezifischer Gewalt in skandinavischen Ländern. Eine Erklärung könnte sein, dass Frauen in diesen Ländern aufgrund besserer sozialer Absicherungen häufiger Gewaltbeziehungen verlassen, wodurch mehr Fälle von Intimpartnergewalt dokumentiert werden. Ein weiterer Erklärungsansatz ist der sogenannte „Backlash-Effekt“, der argumentiert, dass Männer auf den Gleichstellungsfortschritt mit verstärkter Gewalt reagieren, um bisherige Machtpositionen zu bewahren. Zudem könnte es an einem Missverhältnis zwischen gesellschaftlichen Gleichstellungsnormen und individuellen Einstellungen in Beziehungen liegen. Das „Nordic Paradox” zeigt, dass formale Gleichstellung nicht ausreicht – es braucht kulturelle und institutionelle Veränderungen, um Gewalt nachhaltig zu reduzieren und dieser präventiv zu begegnen.
Ausblick
Der im Gewalthilfegesetz angelegte Rechtsanspruch bietet eine wichtige Grundlage, um Zugang zu Schutz- und Beratungsstellen juristisch durchzusetzen. Daraus ergibt sich auch die Notwendigkeit entsprechender finanzieller Mittel in den Haushalten von Bund und Ländern. Dennoch bleiben Schwachstellen: Der Rechtsanspruch muss auf FLINTA-Personen ausgeweitet sowie der Zugang zu Schutzstrukturen für geflüchtete Betroffene verbessert werden, um bestehende Gewaltstrukturen nicht zu reproduzieren. Zudem müssen strukturelle Barrieren wie finanzielle Abhängigkeiten als Hindernisse für den Zugang zu Schutzangeboten anerkannt und abgebaut werden.
Zugleich müssen Machtasymmetrien, die Gewalt begünstigen, bekämpft werden, zum Beispiel durch einen Entgeltersatzleistungen bei ungerechter Verteilung von Sorgearbeit und Maßnahmen zur Beseitigung von Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt von FLINTA- sowie rassifizierten Personen. Im weiteren Sinne gehören dazu aber auch die Erhöhung des Mindestlohnniveaus, wirksame Entgeltgleichheit und die bessere Absicherung von Minijobs. Mit Blick auf das Kontinuum der Gewalt muss auch eine Veränderung des Diskurses stattfinden: Misogyne und queerfeindliche Sprache dürfen nicht geduldet werden. Gerade in den sozialen Netzwerken müssen gesetzliche Vorgaben Plattformbetreiber zur Verantwortung ziehen, Lücken im Strafrecht geschlossen und mehr Anlaufstellen für Betroffene von digitaler Gewalt geschaffen werden. Wie die Amadeu-Antonio-Stiftung aufzeigt, gibt es bisher kein Lagebild zu antifeministischen und sexistischen An- und Übergriffen. Auch offline braucht es ein Monitoring von Sexismus und Queerfeindlichkeit. Statistiken zu geschlechtsspezifischer Gewalt sollten daher um Studien zu geschlechtsbezogener Gewalt und ihrer Motivation ergänzt werden. Zukünftige Lageberichte sollten nicht nur Fallzahlen und Täterprofile abbilden, sondern auch strukturelle Ursachen untersuchen und gesellschaftliche Zusammenhänge innerhalb der Gewaltbetroffenheit von FLINTA-Personen sichtbar machen. Dies beinhaltet auch, Femi(ni)zide im Kontext eines weitreichenden Frauen*begriffes zu betrachten und sie über heterosexuelle Partnerschaften hinaus zu denken. Nur so kann ein langfristiger Wandel hin zu einer gleichberechtigteren und gewaltfreieren Gesellschaft erreicht werden.