Seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 hat sich die Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan dramatisch verschlechtert. Anlässlich des Internationalen Frauentags haben die PRIF-Forscherinnen Dr. habil. Simone Wisotzki und Irem Demirci mit Dr. Alema Alema gesprochen, die in Afghanistan stellvertretende Friedensministerin war und heute als Afghanistan-Referentin bei Pro Asyl tätig ist.
Wie erleben Sie die aktuelle Situation der Frauen in Afghanistan?
Die aktuelle Situation von Frauen in Afghanistan ist furchtbar. Frauen sind fast vollständig aus dem öffentlichen Leben verdrängt, Millionen von Mädchen verlieren die Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben. Die Taliban haben inzwischen 61 Dekrete erlassen, die Frauen vollkommen entrechten. Die Liste dieser Entrechtungen von Frauen ist lang: Frauen dürfen nicht reisen, keinen Sport treiben, keine Parks oder öffentlichen Bäder besuchen. Bildung, politische Teilhabe und freie Berufsausübung werden ihnen verwehrt. Mädchen dürfen nur bis zur 7. Klasse zur Schule gehen, vielen von ihnen droht als Minderjährige die Zwangsheirat. Frauen und Mädchen müssen brutale Strafen für vermeintlich „unislamisches Verhalten“ fürchten, wie beispielsweise Inhaftierung, sexuelle Misshandlung in der Haft und Auspeitschung.
Friedliche Meinungsäußerungen werden nicht geduldet, Gewalt und Gewaltandrohung werden ungestraft eingesetzt, um die Bevölkerung zu kontrollieren und zu vertreiben. Es gibt öffentliche Hinrichtungen und Prügelstrafen durch die Taliban sowie glaubwürdige Berichte über außergerichtliche Hinrichtungen, Verschwindenlassen und Folter auch von weiblichen Regimegegnern, die diskriminiert und ausgegrenzt werden. Die Taliban verletzen zunehmend die Rechte von Frauen und Mädchen und erzwingen eine strenge Kleiderordnung.
Inzwischen wird die Situation der Frauen mit dem Begriff „Geschlechterapartheid“ zusammengefasst. Gemeint ist damit die institutionalisierte, systematische und weit verbreitete geschlechtsspezifische Diskriminierung. Frauen werden aufgrund ihres Geschlechts systematisch entrechtet und verfolgt. Dies bestätigt auch der Expert*innenbericht der UN-Arbeitsgruppe zur Diskriminierung von Frauen, der besagt: „Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es einen so weitreichenden, systematischen und umfassenden Angriff auf die Rechte von Frauen und Mädchen wie in Afghanistan.“
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag prüft derzeit, ob die geschlechtsspezifische Verfolgung durch die Taliban als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft und damit als Verbrechenstatbestand zur Anklage gebracht werden kann. Die afghanische Exilgruppe United Voice of Women for Peace begrüßt diesen Vorschlag: „Wir […] begrüßen diesen Schritt des Menschenrechtsrates und fordern den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) auf, Druck auf die Taliban auszuüben und sie zur Rechenschaft zu ziehen.“
Wie haben Sie die Machtübernahme der Taliban erlebt?
Die Machtübernahme der Taliban wurde durch die Verhandlungen der USA im Rahmen des so genannten Doha-Abkommens eingeleitet. Es wurde fatalerweise geschlossen, ohne auf die Wahrung der etablierten Rechte und Freiheiten des afghanischen Volkes zu bestehen. Nach dem überstürzten Rückzug der westlichen Truppen entwickelte sich das Land innerhalb weniger Monate zum frauenfeindlichsten Land der Welt. Dabei hatte sich die damalige Regierung unter Präsident Aschraf Ghani noch nach Kräften bemüht, sich gegen diese verhängnisvolle Dynamik zu stemmen. Wahlen wurden durchgeführt, eine Friedensroadmap entwickelt, in Afghanistan selbst fanden Friedens-Loya Jirga statt. In den internationalen Verhandlungsteams waren afghanische Frauen beteiligt, die aber nie direkt mit den Taliban verhandelten. Das Abkommen von Doha vom Februar 2020 zwischen den USA und den Taliban hat dazu beigetragen, dass 20 Jahre Engagement in Afghanistan zunichtegemacht wurden.
Wir alle wissen, dass dies keine Ironie des Schicksals war, sondern ein kollektives Versagen aller Beteiligten! Der Versuch, die Ursachen des dschihadistischen Terrors durch den Aufbau einer rechtsstaatlichen, freiheitlichen und demokratischen Ordnung zu überwinden, war damit gescheitert. Am Ende der westlichen Intervention und der Machtübernahme der Taliban stand ein verheerendes Ergebnis, das für Millionen Afghan*innen ein Schrecken ohne Ende ist und bleibt. Der Prozess, der mit dem Sturz der Taliban-Diktatur begann, endete mit der Rückkehr der Taliban. Die Dynamik, die zu diesem Ergebnis führte, war über Jahre hinweg durch eine Reihe von politischen Fehlern gekennzeichnet. Das Abkommen von Doha war ein Abkommen ausschließlich zwischen den Taliban und den USA und in Wirklichkeit eine Art Rückzugsabkommen für die ausländischen Truppen aus Afghanistan. Besonders unverständlich bleibt, warum das Abkommen nicht an Bedingungen geknüpft wurde, um die fortschrittlichen Errungenschaften der letzten 20 Jahre zu erhalten.
Am Tag der Machtübernahme durch die Taliban war ich selbst im Friedensministerium und hörte Schüsse. Alle gerieten in Panik und wir haben das Ministerium verlassen. Zu Hause erfuhr ich aus den Medien, dass die Taliban den Präsidentenpalast eingenommen hatten. Mitarbeiter*innen des BMZ und auch von der deutschen Botschaft kontaktierten mich und boten die rasche Evakuierung nach Deutschland an.
Sie waren stellvertretende Friedensministerin in Afghanistan. Was waren die Schwerpunkte Ihrer Arbeit?
Im Jahr 2019 wurde das Friedensministerium eingerichtet. Im September 2020 wurde im Friedensministerium das neue Amt des Vizepräsidenten für Menschenrechte und Zivilgesellschaft geschaffen, das ich übernommen habe. Um eine sinnvolle und aktive Beteiligung der Zivilgesellschaft zu ermöglichen, Menschenrechte zu verteidigen und die Stimme des Volkes, insbesondere der Frauen, in Friedensverhandlungen einzubringen, habe ich verschiedene Institutionen geschaffen, unter anderem die United Voice of Women for Peace (UVoWP), das Beratungs- und Koordinationsgremium Zivilgesellschaftliche Institutionen für den Frieden sowie das Nationales Komitee der Kriegsopfer. Die Kampagne der afghanischen Frauen zur Verteidigung der Republik wurde landesweit gestartet und mit der Verabschiedung einer Resolution abgeschlossen.
Was bedeutet feministische Außenpolitik für Sie? Was sind Ihre Erwartungen an eine deutsche feministische Außenpolitik?
Feministische Außenpolitik bedeutet für mich, sich für globalen Frieden und Sicherheit einzusetzen. Es muss darum gehen, den Dialog statt Krieg zu unterstützen und sich entschieden gegen Militarismus einzusetzen. Feministische Politik muss nach innen und außen wirken.
In Bezug auf Afghanistan und insbesondere afghanische Frauen erwarten wir, die Regierung der Taliban nicht anzuerkennen. Die humanitäre Hilfe, die das afghanische Volk dringend braucht, darf nicht dazu führen, die Taliban zu legitimieren oder zu unterstützen. Den Mitgliedern der Talibanregierung darf keine Reisefreiheit gewährt werden, solange sie nicht die Einhaltung der Menschenrechte garantieren. Deutschland muss sich für die für die Anerkennung der Geschlechterparität in Afghanistan einsetzen. Aber es geht auch darum, bedrohten und von der Talibanregierung verfolgten Menschen aus Afghanistan Aufnahme und Schutz zu gewähren. Afghanische Frauen müssen in Deutschland als Flüchtlinge anerkannt werden.
Wie engagieren Sie sich konkret bei Pro Asyl für Frauen und Frauenmenschenrechte?
Ich bin Ansprechpartnerin für Anfragen zu Afghanistan und Referentin bei Pro Asyl. Hier unterstütze ich bei der Vernetzung der Exil-Community, insbesondere von Frauenrechtsaktivist*innen aus Afghanistan. Nach wie vor geht es uns darum, die Ortskräfte, ihre Angehörigen oder auch Frauenrechtsaktivist*innen aus Afghanistan zu schützen. Die Bundesregierung hatte sich dazu verpflichtet. Viele Frauenrechts- und Menschenrechtsaktivist*innen sind in die Nachbarländer in den Iran und nach Pakistan geflohen. Dort erleben sie viele Schikanen, angefangen von willkürlichen Verhaftungen und Verhören, aber auch Abschiebungen. Die Situation in Pakistan hat sich kürzlich zugespitzt, nachdem die dortige Regierung beschlossen hat, alle afghanischen Flüchtlinge ohne Aufenthaltsrechte zurück nach Afghanistan zu schicken. Außerdem organisiere ich Ortskräftekongresse, bin Referentin auf Tagungen, gebe Interviews zur Situation in Afghanistan und bin selbst Wissenschaftlerin und Autorin. Ich versuche alles, damit die Situation der Menschen aber im Besonderen auch der Frauen und Mädchen in Afghanistan nicht in Vergessenheit gerät.
Das Interview führten Irem Demirci & Dr. habil. Simone Wisotzki