Eine Reihe syrischer Flüchtlinge überquert die Grenze zwischen Ungarn und Österreich auf dem Weg nach Deutschland. Durch einen Drahtzaun gesehen, im Hintergrund eine Windkraftanlage.
Syrische Flüchtlinge warten darauf, die Grenze zwischen Ungarn und Österreich zu überqueren. | Foto: Mstyslav Chernov via wikimedia commons | CC BY-SA 4.0

Harmonisierung um jeden Preis

Am heutigen Internationalen Flüchtlingstag ist die Situation für Geflüchtete so düster wie wohl seit Einführung des Gedenktages im Jahr 2001 noch nie. Während 2022 mehr als 100 Millionen Menschen auf der Flucht waren, lassen sich weltweit, insbesondere im Globalen Norden, Bestrebungen zur Aushöhlung des Flüchtlingsrechts beobachten. Die EU plant eine umfassende Reform des europäischen Asylrechts, doch auch dieser wird keine Harmonisierung gelingen, da Kernprobleme des bisherigen Systems nicht angegangen werden. Menschenrechtliche und rechtsstaatliche Grundsätze werden zum Bauernopfer.

Der politische Druck auf das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Der Nachweis illegaler Zurückweisungen von Flüchtenden, etwa in Griechenland, Kroatien oder Litauen und die dokumentierte Beteiligung der EU-Agentur Frontex an diesen Handlungen, das anhaltende Sterben auf dem Mittelmeer und die fehlenden Konsequenzen für Rechtsbrecher wie Ungarn haben die Unwirksamkeit des gültigen Systems deutlich gemacht. Der UNHCR hat diese Missstände stark kritisiert. Nachdem die EU-Kommission auf diesen Druck hin im September 2020 ihren Vorschlag für die Reform des GEAS unterbreitet hat, wurde nun in diesem Monat mit der Zustimmung der EU-Innenminister*innen die nächste Hürde für die Reformpläne genommen. Nun steht die Verhandlung der Gesetzestexte im Trilog zwischen Rat, Parlament und Kommission an. Die Reform muss vor den Europawahlen im Jahr 2024 verabschiedet werden, sonst wäre sie gescheitert.

Reformpläne gefährden das Fundament des Flüchtlingsschutzes

Die Pläne sehen vor allem zwei Änderungen vor: erstens die Möglichkeit zur Abschiebung in Drittstaaten, ohne dass bisher Verbindungen in diese bestehen, und zweitens verpflichtende Grenzverfahren, in denen für einen bestimmten Personenkreis darüber entschieden wird, ob ein Asylantrag zulässig ist. Laut den Verfassungsrechler*innen Kießling und Kienzle ist vor allem die Kombination dieser beiden Neuerungen aus völker- und menschenrechtlicher Perspektive bedenklich, denn so können Abschiebungen in vermeintlich „sichere“ Drittstaaten möglich werden, ohne dass die Fluchtgründe inhaltlich geprüft wurden. Bei Menschen, die aus Ländern geflohen sind, für die die Anerkennungsrate der Asylanträge unter 20 Prozent liegt oder die aus sogenannten „sicheren Herkunftsländern“ kommen – also Ländern, für die aufgrund der allgemeinen politischen Verhältnisse angenommen wird, dass keine Asylgründe vorliegen, soll die Überprüfung der Zulässigkeit verpflichtend werden. Dabei wird außer Acht gelassen, dass auch in Staaten, die für die Mehrheit einer Bevölkerung sicher erscheinen, für bestimmte vulnerable Gruppen wie ethnische Minderheiten oder queere Menschen individuelle Asylgründe bestehen können. Ein Rechtsbehelf gegen diese Zulässigkeitsprüfung ist allerdings nicht vorgesehen. Kritik von einem Bündnis aus über 50 Menschenrechtsorganisationen richtet sich auch gegen die Absenkung der Standards für „sichere“ Drittstaaten, da dies bedeuten könnte, dass Länder wie Tunesien oder die Türkei als sicher eingestuft werden, obwohl Geflüchtete dort immer wieder Gewalt und Kettenabschiebungen ausgesetzt sind.

Dies schlägt eine Brücke zum heutigen Internationalen Flüchtlingstag, denn die Reformvorschläge stellen das fundamentale Prinzip des Flüchtlingsschutzes in Frage. Gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention, deren Verabschiedung im Jahr 1951 heute gedacht wird, ist die Zurückweisung von Schutzsuchenden (Art. 33 GFK) untersagt. Diese Regelung, auch als Refoulement-Verbot bekannt, ist eine der stärksten völkerrechtlichen Einschränkungen territorialer Souveränität von Staaten, denn sie untersagt ihnen, Flüchtende an der Grenze abzuweisen, wenn das Leben oder die Freiheit der schutzsuchenden Person durch die Zurückweisung bedroht wird. Dennoch könnten die Reformpläne der EU dazu führen, dass Menschen ohne inhaltliche Prüfung ihrer Fluchtgründe in Drittstaaten abgeschoben werden, in denen möglicherweise Menschenrechtsverletzungen gemäß Art. 3 EMRK drohen.

Fehlende Lösungen und fragwürdige Kompromisse

Es ist besonders bedenklich, dass die Reformpläne nicht den Versuch unternehmen, die Ineffizienz des aktuellen Systems zu beheben. Spätestens 2015 wurde durch die verstärkten Migrationsbewegungen nach Europa auch den politisch Verantwortlichen klar, dass das Dublin-System, das die Zuständigkeiten für Asylverfahren regelt, nicht funktioniert. Alle Bemühungen, sich auf einen Verteilungsschlüssel zu einigen, sind gescheitert. Das Dublin-System sieht vor, dass der Mitgliedstaat, dessen Grenzen eine asylsuchende Person zuerst überschreitet, für das Asylverfahren zuständig ist. Ausnahmen gelten nur zum Schutz des Kindeswohls und zur Wahrung der Einheit der Familie. Mit diesen Regelungen wollten die Regierungen vermeiden, dass Asylsuchende, deren Asylgesuch in einem EU-Mitgliedstaat abgelehnt wurde, in den nächsten Mitgliedstaat weiterreisen und dort erneut einen Asylantrag stellen. Doch aufgrund mangelnder Aufnahmebereitschaft von Mitgliedstaaten, etwa von Griechenland und Ungarn, gerichtlicher Verbote der Überstellung in Mitgliedstaaten aufgrund menschenrechtlicher Bedenken und Problemen bei der Registrierung von Asylsuchenden an den Außengrenzen, scheiterte das System in der Praxis. Zudem hat das Dublin-System die europäische Abschottungspolitik und damit verbundene Menschenrechtsprobleme verstärkt.

Der aktuelle Reformentwurf hält trotz dieser gravierenden Defizite weiter am Dublin-System fest und sieht statt einer Überarbeitung eine Erhöhung der Fristen für die Überstellung in einen anderen Mitgliedsstaat vor. Statt eines „neue[n] Solidaritätsmechanismus“, wie die Bundesregierung ankündigt, bietet der Entwurf den EU-Staaten, die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen wollen, die Möglichkeit, sich mithilfe einer Ausgleichszahlung von der Rücknahmeverpflichtung de facto freizukaufen. Damit entfernt die EU sich weiter von der Wiederherstellung rechtsstaatlicher Zustände und ermöglicht Mitgliedstaaten, die in der Vergangenheit gegen Völker– und EU-Recht verstoßen haben, ihre bisherigen Rechtsbrüche zu legalisieren. Schutzsuchende werden folglich zunehmend vom politischen Willen abhängig. Sollten weitere rechtspopulistische und nationalistische Parteien an die Regierung gelangen und sich vermehrt darauf beschränken, Zahlungen zu leisten anstatt Geflüchtete aufzunehmen, wird der Kreis der Staaten, die fliehenden Menschen Schutz bieten, immer kleiner. Dies setzt auch negative Anreize für die EU-Mitgliedstaaten an den Außengrenzen, da sie weiterhin hauptsächlich für die Bearbeitung der Asylanträge zuständig sind und zusätzlich Grenzverfahren und Haftzentren betreiben müssen. Es bleibt fraglich, weshalb Staaten, die in der Vergangenheit schwere Völkerrechtsstöße begangen haben und ihrer Registrierungspflicht nicht nachgekommen sind, plötzlich rechtskonform handeln sollten. Der EU mangelt es nicht nur an Sanktionsmöglichkeiten, sondern auch an politischem Willen, diese Rechtsstaatlichkeitskrise zu beenden.

Die EU kann, wenn sie will

Dass es auch anders geht, wenn der Wille da ist, zeigte die Aufnahme ukrainischer Geflüchteter: Im März 2022, nur einen Monat nach der russischen Invasion der Ukraine, aktivierte die EU die Richtlinie über vorübergehenden Schutz, durch die mittlerweile vier Millionen Ukrainer*innen in europäischen Mitgliedsstaaten Schutz erhalten. Etwa eine Million Ukrainer*innen befinden sich in Polen, das sich jedoch weiterhin weigert, Geflüchteten aus anderen Ländern Zugang zu einem Asylverfahren zu ermöglichen. Die Tatsache, dass Ukrainer*innen bei ihrer Ankunft in der EU Aufenthaltstitel, Zugang zum Arbeitsmarkt sowie zur Aus- und Weiterbildung erhalten, während fliehende Menschen aus Syrien, Afghanistan und Venezuela dies erst nach einer positiven Asylentscheidung erhalten, zeigt deutlich, dass das Argument der Überforderung der Nationalstaaten nur vorgeschoben ist. Die schnelle und unbürokratische Hilfe wurde zudem nicht allen aus der Ukraine fliehenden Menschen zuteil. Die ungleiche Behandlung von Personen ohne ukrainische Staatsbürgerschaft lässt erkennen, dass die Aufnahmebereitschaft europäischer Staaten auch durch rassistische Überzeugungen definiert ist.

Die vorgeschlagenen Reformpläne für das GEAS zeigen keine wirkliche Verbesserung, das System ist weiterhin blockiert. Dadurch wird das Leid der Schutzsuchenden verstärkt, da sie mit langen Wartezeiten, Unsicherheit und potenziell wochenlanger Haft konfrontiert sind. Das eigentliche Problem, der mangelnde Wille zur Aufnahme von Geflüchteten bei einzelnen Mitgliedstaaten, wird jedoch nicht angegangen. Anstatt sich für rechtsstaatliche Grundsätze und eine solidarische Verteilung unter den Mitgliedstaaten einzusetzen, nähert man sich nun den Staaten an, die seit Jahren Grundrechte missachten, und normalisiert ihre Praxis. Die Reformpläne legen nahe, dass die EU bereit ist, ihre eigenen Werte und Verpflichtungen aufzugeben, indem sie Zahlungen als Alternative zur Übernahme von Verantwortung für Schutzsuchende akzeptiert. Dies ermutigt Mitgliedstaaten weiterhin dazu, ihre Verantwortung zu umgehen und schafft negative Anreize für Länder an den EU-Außengrenzen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die EU ihre Verantwortung wahrnimmt, ihre Grundwerte verteidigt und effektive Mechanismen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise entwickelt. Eine echte Reform des GEAS erfordert einen ganzheitlichen Ansatz, der den Schutz der Menschenrechte in den Vordergrund stellt und gleichzeitig eine faire Verteilung der Verantwortung unter den Mitgliedstaaten sicherstellt. Erst in der vergangenen Woche hat das Bootsunglück vor der griechischen Küste gezeigt, dass die europäische Abschottung nicht zu einem Ende der Migrationsbewegungen nach Europa führen wird, sondern dazu, dass Schlepper*innen Flüchtende auf immer riskantere Fluchtrouten bringen. Zu klären ist aktuell zudem noch, inwieweit sich die griechische Küstenwache der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht hat.

Die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention sind als Reaktion auf die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs entstanden. Sie gehören zu den essentiellen zivilisatorischen Errungenschaften, die unter anderem dafür sorgen sollten, dass der Schutz von Flüchtenden nicht von nationalstaatlicher Willkür abhängt, sondern rechtsstaatlich garantiert wird. Genau dieser Gründungsgedanke wird jedoch zunehmend ausgehöhlt. Die Bundesregierung sollte bei der nun folgenden Ausgestaltung der Gesetze zwingend für den Schutz vulnerabler Gruppen, rechtsstaatliche Grundsätze und menschenrechtskonforme Standards bei der Bewertung der Sicherheit von Herkunfts- und Drittstaaten eintreten. Dabei darf das Ziel der Harmonisierung nicht über der Einhaltung der Menschenrechte stehen.

Helena Hirschler

Helena Hirschler

Helena Hirschler ist wissenschaftliche Referentin der Geschäftsführung der HSFK. Auf dem PRIF-Blog schreibt sie über das europäische und internationale Flüchtlings- und Migrationsrecht. // Helena Hirschler is Advisor to the Executive Director of PRIF. On the PRIF blog she writes about European and international refugee and migration law | Twitter: @h_lenahirschler

Helena Hirschler

Helena Hirschler ist wissenschaftliche Referentin der Geschäftsführung der HSFK. Auf dem PRIF-Blog schreibt sie über das europäische und internationale Flüchtlings- und Migrationsrecht. // Helena Hirschler is Advisor to the Executive Director of PRIF. On the PRIF blog she writes about European and international refugee and migration law | Twitter: @h_lenahirschler

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