Der ukrainische Präsident Selenskyj bei Gesprächen mit den Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien
Der ukrainische Präsident Selenskyj bei Gesprächen mit den Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien | Photo: President Of Ukraine | Public Domain

Schießen und verhandeln – in vielen Konflikten kein Gegensatz

Schon kurz nach dem Überfall auf die Ukraine nahmen die Kriegsparteien Verhandlungen auf. Viele Kommentare kritisierten, es passe nicht zusammen, zu verhandeln und gleichzeitig zu schießen. Ein einflussreicher Forschungsstrang in der Politikwissenschaft widerspricht dem. Ihm zufolge fassen viele Konfliktparteien Krieg als Teil des Verhandelns auf. Begreift man das vor allem als erschreckende Beobachtung und weniger als zynische Politikempfehlung, dann wird verständlicher, warum viele Verhandlungen erst spät oder nie zu einem Ende des Krieges führen.

„Wer spricht, schießt nicht“, lautet eine verbreitete Erwartung. In den Tagen vor dem Angriff auf die Ukraine ließ Putin viele Staatsgäste an seinem langen Tisch Platz nehmen, die ihn von einer Invasion abbringen wollten. Putin sprach und hatte offenbar doch schon vor zu schießen. Nicht lange nach Beginn des Überfalls trafen sich Unterhändler beider Seiten zu ersten Verhandlungen. Sie sprachen, und zugleich wurde weitergeschossen. Es ist wünschenswert, dass während der Gespräche über eine etwaige Beendigung des Krieges oder über eine Linderung seiner Folgen die Waffen schweigen. Doch in vielen Konflikten zeigt sich kein Gegensatz von Schießen und Verhandeln. Vielmehr erscheint den Streitparteien der Krieg als Fortsetzung des Aushandlungsprozesses. Im Folgenden möchte ich diese Sichtweise einnehmen und auf drei Fragen eingehen: Wieso verhandeln Konfliktparteien während eines Krieges? Weshalb schießen sie oft trotz laufender Verhandlungen weiter? Woran scheitern Verhandlungen über eine Beendigung des Krieges?

Vorab mag es helfen, einige allgemeine Aspekte im Zusammenhang von Verhandlungen und Kriegsbeendigung zu klären. Verhandlungen sind keine notwendige Bedingung für das Ende eines Krieges. Würde Putin anordnen, die russischen Truppen auf die Positionen vom 23. Februar zurückzuziehen, wäre der Krieg zumindest außerhalb des Donbass wahrscheinlich vorbei. Erklärt eine Seite einen Waffenstillstand und schließt sich die andere Konfliktpartei dem an, kann ein Krieg ebenfalls ohne eigentliche Verhandlungen enden. Friedensabkommen hingegen setzen Aushandlungen voraus, und Verhandlungen am Ende mancher Kriege dienen dazu, den militärischen Sieg einer Seite in politische Konsequenzen zu übersetzen.

Was versprechen sich Konfliktparteien von Verhandlungen bei laufenden Kämpfen?

Es gibt eine Reihe von Beweggründen, wieso Kriegsparteien Delegationen zu Verhandlungen schicken. Nicht alle gehen mit dem Ziel einher, mit gutem Willen einen Weg zu suchen, der den Krieg beendet oder eindämmt. Oft wollen die Beteiligten nicht als diejenigen dastehen, deren Verweigerung Friedensgespräche unmöglich macht. Wer als Blockierer erscheint, muss Konsequenzen wie Sanktionen dritter Parteien fürchten. Da bieten sich Verhandlungen an, auch wenn man gar nicht für deren Erfolg arbeiten möchte. Verhandeln lässt sich leicht in das nach innen gerichtete Narrativ einfügen, der Feind sei der aggressive, während die eigene Seite sich selbst, Dritte oder bestimmte Werte verteidige. Die Teilnahme an Verhandlungen hilft, ein positives Selbstbild zu zeichnen, so abstrus das nach außen auch wirken mag. Man denke etwa an Putins Vorgabe, die in der Ukraine einfallenden Truppen als Befreier und Entnazifizierer zu bezeichnen, die in keinem Krieg kämpfen, sondern eine militärische Spezialoperation durchführen.

Konfliktparteien nehmen des Weiteren an Verhandlungen teil, weil sie sich davon wertvolle Informationen zur Ausrichtung des eigenen Kurses erhoffen. Zwar geben Umfang, Art und Dauer von Kämpfen und Angriffen auf die Zivilbevölkerung Auskunft über die politischen Ziele und vor allem über die Entschlossenheit und die militärischen Fähigkeiten des Gegners. Doch auch aus den inhaltlichen Positionierungen in Verhandlungen meinen die Konfliktparteien, auf Größen wie die innere Geschlossenheit des Feindes oder dessen Inkaufnahme weiterer Kosten und Risiken schließen zu können. Dabei wissen beide Seiten, dass der Feind Anreize hat zu lügen oder bestimmte Dinge zu verschweigen oder verzerrt darzustellen. Nicht zuletzt deshalb bleiben in vielen frühen Verhandlungsrunden substantielle Fortschritte aus. Dennoch glauben die Konfliktparteien Wichtiges über den Gegner lernen zu können, gerade wenn sich über die Verhandlungsrunden hinweg inhaltliche Positionen verschieben.

In vielen Bürgerkriegen lehnt es die Regierung lange ab, mit Rebellinnen und Rebellen zu sprechen. „Mit Terroristen verhandeln wir nicht“, heißt es oft. Finden dann doch Verhandlungen statt, gehen sie mit einer gewissen Anerkennung einher. Die Rebellierenden gelten fortan offiziell als Konfliktpartei und die entsandten Verhandler und Verhandlerinnen als deren legitimen Vertreter und Vertreterinnen. Diese implizite Anerkennung lässt viele Aufständische ein Verhandlungsangebot annehmen, was nicht bedeutet, dass sie dann gleich Frieden schließen wollen. Im Ukraine-Krieg dürfte Präsident Selenskyj auch daher direkte Verhandlungen zwischen ihm und Putin fordern, weil ein solches Gespräch eine Anerkennung seitens des Präsidenten Russlands signalisieren würde.

Warum kämpfen Konfliktparteien weiter, während sie über Frieden verhandeln?

Allein aus der Teilnahme an Verhandlungen lässt sich kein aufrichtiger Wille zum Frieden ableiten, erst recht nicht bei einer Seite, die erst wenige Tage zuvor die andere angegriffen hat. Das schließt aber nicht aus, dass gerade zu späteren Zeitpunkten Konfliktparteien ernsthaft einen Ausweg aus dem Krieg am Verhandlungstisch suchen. Krieg birgt hohe Kosten und Risiken, und daher sind viele Konfliktparteien offen für eine Prüfung, ob sie ihre politischen Ziele nicht einfacher erreichen könnten.

Selbst ernsthaft an einem Friedensschluss interessierte Konfliktparteien setzen oftmals die Kämpfe bei laufenden Verhandlungen fort, um keine Schwäche zu zeigen. Sie fürchten, der Feind würde bei einem Anzeichen von Schwäche seine politischen Forderungen erhöhen oder die Gewalt intensivieren. Die Streitparteien hoffen, mit Geländegewinnen die eigene Verhandlungsposition zu verbessern.

Die Gewalt kann auch deshalb bei laufenden Verhandlungen andauern, weil die Führungen der Konfliktparteien ihre Kämpferinnen und Kämpfer nicht vollständig unter Kontrolle haben, etwa aufgrund mangelnder Loyalität oder fehlender Kommunikationswege. Dieses Problem stellt sich gerade in Bürgerkriegen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum die Forderung nach einem vollständigen und stabilen Waffenstillstand kontraproduktiv wirken kann. Sie macht es Gegnern eines Friedensprozesses leicht, ihn zu sabotieren.

Woran scheitern Friedensverhandlungen?

Friedensverhandlungen können an vielen Dingen scheitern. Am Beispiel der Kriege im Zuge des Zerfalls Jugoslawiens habe ich an anderer Stelle Hindernisse auf dem Weg zu Friedensschlüssen diskutiert, von denen ich hier einige zusammenfasse.

Ein Friedensabkommen kann nur wirksam werden, wenn es die Verhandlerinnen und Verhandler innerhalb der eigenen Reihen durchsetzen können (s. den Beitrag von Zartman in diesem Band). Traut man das den Gesandten der gegnerischen Seite nicht zu, erschwert das die Suche nach einem Ausweg aus dem Krieg.

In Verhandlungen geht es oft um Friedenspläne, vorgelegt von einer Konfliktpartei oder einem vermittelnden Akteur. Weicht ein Friedensplan zu sehr vom gegebenen militärischen Kräfteverhältnis ab oder von dem, das die Konfliktparteien für die Zukunft erwarten, dann gibt es kaum Chancen auf Annahme des Plans. Gerade in frühen Phasen eines Krieges sind viele Konfliktparteien überoptimistisch, was den Ausgang des Konflikts angeht. In der Fachliteratur findet man die Ansicht, der Verlauf des Krieges lege Information offen, die es den Konfliktparteien erleichtere, die eigenen, oft überzogenen Erwartungen anzupassen und zu einer konvergenten Einschätzung des Kräfteverhältnisses zu kommen (s. den Beitrag von Wagner in diesem Band). Das fördere die Beendigung des Krieges. Die Annahme, Kämpfe beschafften friedensfördernde Informationen, stößt aber auf Vorbehalte. So sind Informationen selten eindeutig, und es lässt sich kaum nachvollziehen, wie Konfliktparteien Informationen verarbeiten.

Wie dargelegt, kämpfen Konfliktparteien oft trotz Verhandlungen weiter, um keine Schwäche zu zeigen. Aus einem ähnlichen Beweggrund scheuen sie sich in Verhandlungen davor zurück, Zugeständnisse zu machen. Sie erwarten, Konzessionen würden den Gegner nur dazu ermutigen, noch mehr zu fordern. Die angegriffene Seite fürchtet, mit eigenen Zugeständnissen den Aggressor zu belohnen und so zu weiterer Gewalt anzustiften. Dieses Problem erschwert viele Verhandlungen. Dass es aber nicht unüberwindbar ist, zeigen viele Kriege, die nicht bis zur totalen Erschöpfung einer Seite fortdauern, sondern in denen Friedensabkommen der Gewalt ein vorzeitiges Ende setzen.

Einen prominenten Platz in der Fachliteratur nimmt das sogenannte Verpflichtungsproblem ein. Konfliktparteien schließen kein Friedensabkommen oder setzen es nicht um, weil sie fürchten, der Feind werde sich an seine Verpflichtungen aus dem Vertrag nicht halten. Folgt man selbst den Vorgaben des Friedensschlusses, der Gegner aber nicht, drohen der eigenen Seite schwere Nachteile bis hin zur vernichtenden Niederlage. Ein Verpflichtungsproblem besteht, selbst wenn beide Seiten aufrichtig nach einem Ausweg aus dem Krieg suchen.

Mit Blick auf den Ukraine-Krieg wird diskutiert, inwieweit Putins Entscheidungen noch im Rahmen rationalen Handelns liegen. Das lässt sich hier nicht beurteilen. Allerdings gehen große Teile der Fachliteratur von rational kalkulierenden Akteuren aus. Dass dem eine starke Annahme zugrunde liegt, räumen sie selbst ein. Verhandlungen können an Konfliktparteien scheitern, die nicht rational kalkulieren, weshalb alle in Aussicht gestellten Kosten oder Anreize ins Leere laufen. Nicht rationales Entscheiden kann schon die Aufnahme von Friedensverhandlungen verhindern. Wie oft Kriege aufgrund nicht rationaler Akteure fortdauern, dazu liegen keine Daten vor.

Was darf man von Verhandlungen erwarten?

Viele Menschen halten es für verlogen oder irrational, wenn Konfliktparteien verhandeln und gleichzeitig aufeinander schießen. Doch wie sich zeigt, kann es im Interesse einer Streitpartei liegen, an Verhandlungen teilzunehmen, selbst wenn sie den Krieg fortsetzen möchte. Auch können Konfliktparteien meinen, es diene der Suche nach einem Ausweg aus dem Krieg, wenn sie vor oder während Verhandlungen ihre militärischen Anstrengungen intensivieren. Diese Einschätzungen mögen zynisch anmuten, helfen aber, die Erwartungen an Verhandlungen in laufenden Kriegen anzupassen. Hofft eine Konfliktpartei zu sehr auf den Erfolg von Verhandlungen und sieht sich dann enttäuscht, erschwert das weitere Bemühungen um ein ausgehandeltes Ende des Krieges. In diesem Sinne kann ein Scheitern heute zu einem weiteren Scheitern in der Zukunft führen. Das alles ändert aber nichts daran: Den Menschen in der Ukraine ist zu wünschen, dass Verhandlungen eine schnelle und gerechte Beendigung des Krieges herbeiführen.

Thorsten Gromes
Dr. Thorsten Gromes ist Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRIF im Programmbereich „Innerstaatliche Konflikte“. Seine Forschung konzentriert sich auf Nachbürgerkriegsgesellschaften und sogenannte humanitäre militärische Interventionen. // Dr Thorsten Gromes is a Project Leader and Senior Researcher at PRIF in the Research Department “Intrastate Conflicts”. His research focuses on post-civil war societies and so-called humanitarian military interventions.

Thorsten Gromes

Dr. Thorsten Gromes ist Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am PRIF im Programmbereich „Innerstaatliche Konflikte“. Seine Forschung konzentriert sich auf Nachbürgerkriegsgesellschaften und sogenannte humanitäre militärische Interventionen. // Dr Thorsten Gromes is a Project Leader and Senior Researcher at PRIF in the Research Department “Intrastate Conflicts”. His research focuses on post-civil war societies and so-called humanitarian military interventions.

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