Das Ende des kalten Krieges? Pershing-II-Raketen im Museum
The End of the Cold War | Photo: Bernd Rostad | CC BY 2.0

Die Rückkehr der nuklearen Konfrontation. Ein Scheitern des INF-Vertrags wäre fatal für Europa

Für John Bolton war es ein Moment des Triumphs: Am vergangenen Samstag verkündete US-Präsident Donald Trump, worauf der Sicherheitsberater des Präsidenten lange hingearbeitete hatte: Die USA steigen aus dem seit 1987 gültigen Intermediate-Range Nuclear Forces (INF) Treaty aus. Der Vertrag verbietet Russland und den USA die Entwicklung und Stationierung von landgestützten nuklearen Mittelstreckenraketen. Als Grund für seine Aufkündigung führen die USA an, dass Russland den Vertrag durch die Entwicklung eines neuen Marschflugkörpers seit längerem verletze. Dieser Vorwurf wiegt schwer. Scheitert der Vertrag, tragen sowohl die USA als auch Russland dafür Verantwortung – Europa aber die Folgen.

Der amerikanische Rückzug aus dem INF-Vertrag fügt sich nahtlos ein in eine Reihe ähnlicher Schritte, mit denen Trump eine unilaterale Wende in der amerikanischen Außenpolitik eingeleitet hat – nicht nur in der Rüstungskontrolle, sondern auch in anderen Politikfeldern, von der Handelspolitik bis zum Klimaschutz. Maßgeblich unterstützt wird er dabei von republikanischen Hardlinern wie Bolton, die schon lange vor Trumps Wahl ihre unilaterale Agenda verfolgten. Als George W. Bushs Undersecretary of State for Arms Control and International Security Affairs war Bolton unter anderem (mit)verantwortlich für das Scheitern eines Verifikations-Protokolls zur Biowaffenkonvention und die Aufkündigung des bilateralen Anti-Ballistic Missile (ABM) Treaty mit Russland. Der selbsternannte Kämpfer gegen die „Church of Arms Control“ kann seiner Trophäensammlung nun ein weiteres Abkommen hinzufügen, zusätzlich zum bereits aufgekündigten Iran-Deal und womöglich bald dem nuklearen New START-Vertrag mit Russland, gegen den er ebenfalls Front macht. Offenbar haben die USA unter Trump das Interesse an der nuklearen Rüstungskontrolle verloren – zu einer Zeit, in der auch das russische Verhalten das bestehende Regelwerk zunehmend unter Druck setzt.

Aus Sicht Deutschlands hingegen wäre das Ende des INF-Vertrags eine politische Katastrophe; für die europäische Sicherheit wäre es ein gravierender Rückschritt in die längst überwunden geglaubten Zeiten nuklearer Rüstungswettläufe und Kriegsführungsphantasien.

Zur Erinnerung: Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre spaltete die Kontroverse um die Nachrüstung Deutschland. Um eine angebliche Lücke im nuklearen Eskalationsspektrum zu schließen, die sich mit der Einführung der sowjetischen SS-20 Mittelstreckenrakete geöffnet habe, plante die NATO die Stationierung von Pershing-II Raketen und bodengestützten Marschflugkörpern mit Reichweiten bis Russland auf deutschem Boden. Während die einen mit diesem abermaligen Dreh an der Aufrüstungsspirale die Welt in einen Nuklearkrieg taumeln sah, ein Widerstandsrecht proklamierten und Militärbasen blockierten, sahen die anderen die Glaubwürdigkeit der Abschreckung und die Existenz der NATO gefährdet, sollte Deutschland von diesem Beschluss abweichen. Der Streit ging tief, führte zum Aufstieg der Grünen, spaltete die SPD und läutete den Bruch der sozialliberalen Koalition ein. Beruhigung trat erst ein, als die Präsidenten Reagan und Gorbatschow in einer der überraschendsten Volten der jüngeren Geschichte dem Spuk mit dem bahnbrechenden INF-Vertrag ein Ende machten. Bis dahin war nukleare Rüstungskontrolle kaum mehr als kontrollierte Aufrüstung. Der INF-Vertrag beseitigte dagegen gleich die ganze Klasse landgestützter Nuklearraketen und Marschflugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometer.  Bahnbrechend war der Vertrag auch in anderer Hinsicht: Er sah weitergehende Kontrollen einschließlich Vor-Ort-Inspektionen vor. Und er markierte den Anfang vom Ende des Ost-West-Konflikts und der nuklearen Abschreckungslogik in Europa. Die restlichen der in Europa verbliebenen taktischen Nuklearwaffen der USA wurden ebenfalls sukzessive demontiert oder setzten Patina an, Frankreich und Großbritannien folgten dem Trend und verschrotteten ihre sub-strategischen Nuklearwaffen komplett und die nukleare Planungsgruppe der NATO verfiel in den wohlverdienten Tiefschlaf.

Entsprechend überrascht und unvorbereitet sieht sich Deutschland plötzlich mit einer Renaissance der Diskussion über nukleare Drohungen, die Glaubwürdigkeit ihrer Abschreckung  und der Forderung nach nuklearer Ertüchtigung konfrontiert.

Die Diskussion um Vertragsverletzungen

Hintergrund der amerikanischen Ankündigung ist vor allem der immer schärfere Streit über mutmaßliche Verstöße gegen den INF-Vertrag.

Bereits 2013 warfen die USA noch unter Obama Russland vor, den Vertrag mit der Entwicklung und dem Test eines landgestützten Marschflugkörpers mit Reichweiten bis 2000 km zu verletzen. Entsprechende Beobachtungen amerikanischer Geheimdienste gehen sogar auf das Jahr 2008 zurück. Seitdem präzisierten amerikanische Regierungsvertreter und die jährlichen Arms Compliance Reports die Vorwürfe. Demnach handelt es sich bei dem inkriminierten System um die 9M729 Rakete (von der NATO als SSC-8 bezeichnet), die von der Firma Novatar produziert wird, die dem ebenfalls von dieser Firma hergestellten seegestützten Marschflugkörper „Kalibr“ gleicht, aber von dem mobilen Iskander System gestartet werden kann. Russland habe mittlerweile zwei Bataillone mit dem System ausgestattet. Die USA trugen ihre Beschwerde gegenüber Russland in mehreren Gesprächen vor, nicht zuletzt bei zwei Treffen der vom INF-Vertrag für diesen Zweck vorgesehenen Special Verification Commission (SVC), und sanktionierten im Dezember 2017 zwei russische Firmen, die an der Entwicklung der kritisierten Rakete beteiligt waren.

Russland reagierte auf diese Vorwürfe mit einer doppelten Antwort. Einerseits behaupteten russische Vertreter, die Leistungsparameter des von den USA genannten Systems bewegten sich innerhalb der vom INF-Vertrag gesetzten Grenzen. Andererseits warfen sie ihrerseits den USA vor, den Vertrag zu verletzen. Drei Aspekte werden dabei von russischer Seite immer wieder genannt: Erstens der Einsatz von nicht-INF kompatiblen Raketen als Übungsziele der im Test befindlichen amerikanischen Raketenabwehr. Zweitens das amerikanische Drohnenprogramm. Einige amerikanische Drohnen, wie z.B. die MQ-9 Reaper, besitzen durchaus die Ausdauer und Reichweite, die durch den INF-Vertrag limitiert ist und könnten prinzipiell die Last eines nuklearen Sprengkopfes tragen. Allerdings ähneln Drohnen eher Flugzeugen als Marschflugkörpern und fallen zumindest nach Einschätzung westlicher Experten nicht unter den INF. Der dritte Kritikpunkt hebt hervor, dass die Abschussvorrichtungen der amerikanischen Raketenabwehr in Rumänien und Polen auch in der Lage sein sollen, durch den INF verbotene Raketen abzuschießen. Da der INF nicht nur die Träger, sondern auch die Abschussvorrichtungen verbiete, läge hier ein eindeutiger Verstoß vor. Die USA weisen die Vorwürfe zurück. Während der Aspekt der Testraketen vermutlich zu vernachlässigen ist und die Formulierungen des INF Drohnen tatsächlich ausschließen, ist der dritte Vorwurf ohne weitere Informationen nicht zu überprüfen.

Die Renaissance nuklearer Kriegsführungsstrategien

In Kombination mit einer zweiten Entwicklung droht die Kündigung des INF-Vertrages eine neue nukleare Rüstungsspirale in Gang zu setzen. Seit der Annexion der Krim und den von Moskau unterstützten Aufständen in der Ostukraine haben sich Russland und der Westen in eine Konfrontationsdynamik verkeilt, die sich vom ursprünglichen Konflikt über die Ukraine zunehmend entkoppelt, dafür aber eine nukleare Dimension gewinnt. Beide Seiten rechnen wieder mit der Möglichkeit einer Aggression, und auf beiden Seiten werden militärische Szenarien einschließlich einer möglichen nuklearen Eskalation durchgespielt. Die heutige Lage unterscheidet sich zwar deutlich von der Zeit vor 1990. Der russisch-westliche Konflikt weist keine ideologische Dimension auf, er strukturiert in keiner Weise das internationale System so wie der Ost-West-Konflikt, und Russland ist in allen denkbaren Machtkategorien dem Westen mit weitem Abstand unterlegen. Dennoch gleichen die Denk- und Argumentationsfiguren in frappierender Weise denen des Ost-West-Konflikts. Kapazitäten sind entscheidend, nicht Intentionen. Eigene Schwächen, und seien sie noch so punktuell, bestimmen die Bedrohungswahrnehmungen; Schwächen und Gravamina der Gegenseite werden ausgeblendet. Ausgangspunkt des Worst-Case Szenarios westlicher Militärplaner ist die hypothetische Möglichkeit, Russland könne durch einen Überraschungsangriff die baltischen NATO-Mitglieder vom Rest des Bündnisses abschneiden und anschließend die NATO durch einen „de-eskalierenden nuklearen Ersteinsatz“ dazu zwingen, den fait accompli zu akzeptieren und den Krieg zu für Russland günstigen Bedingungen zu beenden. Auf der Grundlage eines solchen hypothetischen Szenarios wird in westlichen Debatten eine nukleare Fähigkeits- und Glaubwürdigkeitslücke konstruiert, die durch Modernisierungsmaßnahmen zu schließen sei. Diskutierten Militärplaner und amerikanische Strategiedokumente wie die Nuclear Posture Review bisher eine nukleare Modernisierung in Form INF-vertragskonformer luft- und seegestützter Marschflugkörper, bringt Trump nun die Entwicklung landgestützter Mittelstreckenraketen ins Spiel. Russland hat entsprechende Gegenmaßnahmen bereits angekündigt, und es ist jetzt schon abzusehen, dass mit dem Scheitern des INF-Vertrages eine neue Rüstungsspirale in Gang gesetzt wird.

Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass die Aufkündigung des INF-Vertrags und anderer bilateraler Abrüstungsabkommen auch das Gesamtsystem der multilateralen Rüstungskontrolle ins Wanken bringt. Deren Herzstück, der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV 1968) basiert auf einem politischen „Deal“, nach dem nur fünf Nuklearmächte zum Besitz von Atomwaffen berechtigt sind, dafür im Gegenzug aber miteinander ernsthafte Abrüstungsverhandlungen führen. Die Nichtnuklearstaaten sind schon lange unzufrieden damit, dass die Nuklearstaaten dieser in Artikel VI des Vertrags festgehaltenen Verpflichtung nur äußerst schleppend nachkommen. Scheitern nun auch noch die wenigen bisher errungenen Abrüstungsabkommen, so ist dies ein willkommener Vorwand für Kritiker des NVV, auch in puncto Nichtverbreitung künftig Verhandlungsfortschritte zu blockieren und die eigenen Verpflichtungen nicht mehr einzuhalten.

Und ob es Russland und den USA gelingt, vor dem INF-Hintergrund einen Nachfolgevertrag zum 2021 auslaufenden New START-Vertrages zur Reduktion strategischer Waffen und Trägersysteme zu verhandeln, ist ebenfalls deutlich fragwürdiger geworden.

Was tun?

Die aktuelle Entwicklung ist für europäische Sicherheit ebenso verheerend, wie schwer zu bremsen. Die Spielräume der nicht am Vertrag beteiligten Allianzpartner der USA sind begrenzt. Dennoch sollte Berlin im Verein mit anderen europäischen Regierungen Alternativen formulieren und einfordern.

Erstens ist der Appell an beide Seiten richtig, alles zu versuchen, um die Vertragsverletzungsvorwürfe zu präzisieren, gemeinsam zu klären und mögliche Vertragsverletzungen zu korrigieren. Dazu sollten die USA die für die Anschuldigungen relevanten Informationen deklassifizieren und einer Prüfung zugänglich machen. Russland hingegen hatte auf Basis der im INF zur Verfügung gestellten Verifikationsmaßnahmen schon länger die Möglichkeit, eine Klärung der Vorwürfe zu ermöglichen. Diese Option ließ man in Moskau verstreichen. Unabhängig vom weiteren amerikanischen Vorgehen muss Russland hier nachlegen, Einblick in das beanstandete Programm gewähren und die Daten ebenfalls einer Prüfung zugänglich machen.

Zweitens sollte Europa gegenüber Washington darauf dringen, auf russische Vertragsverletzungen, wenn sie denn feststehen, mit Augenmaß zu reagieren. Die Stationierung der SSC-8 verändert die strategischen Kräfteverhältnisse kaum und die Kündigung des INF-Vertrages spielt Russland im Zweifelsfall in die Hände. Es sollte im Rahmen der EU eine einheitliche Position bezüglich möglicher zukünftiger amerikanischer Stationierungswünsche von Mittelstreckenraketen angestrebt werden. Deutlich zu machen wäre, dass ein derartiger Schritt politisch unakzeptabel ist und militärisch wenig Sinn macht. Nicht zuletzt lässt die neuste amerikanische Nuclear Posture Review erkennen, dass die Stationierung landgestützter Mittelstreckenraketen verglichen mit einer INF-konformen erweiterten Abschreckung auf Basis bereits vorhandene seegestützte Marschflugkörper die deutlich riskantere Antwort wäre. Es gibt schlicht keine Lücke im vorgestellten Eskalationsspektrum, die sich mit landgestützten Mittelstreckenwaffen schließen ließe.

Drittens wird die Konfrontationslogik, die die drohende nukleare Eskalation treibt und die weit über den INF-Vertrag hinausreicht, nur zu durchbrechen sein, wenn die macht- und sicherheitspolitischen Konflikte in Europa bearbeitet und isoliert werden. Dazu gehört auch der lange überfällige Dialog über die Rolle der NATO, die Bedeutung der OSZE und die Mitsprachemöglichkeiten Russlands bei der Gestaltung gesamteuropäischer Sicherheit. Dies ist aber mit Abstand das dickste Brett.

 

Matthias Dembinski, Caroline Fehl und Niklas Schörnig

Matthias Dembinski, Caroline Fehl und Niklas Schörnig sind wissenschaftliche Mitarbeiter der HSFK in den Programmbereichen Internationale Sicherheitspolitik und Internationale Institutionen. Matthias Dembinski forscht zur europäischen und transatlantischen Sicherheitspolitik, Caroline Fehl zu Normen und Institutionen der internationalen Sicherheitspolitik, und Niklas Schörnig zur konventionellen Rüstungskontrolle.

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Matthias Dembinski, Caroline Fehl und Niklas Schörnig sind wissenschaftliche Mitarbeiter der HSFK in den Programmbereichen Internationale Sicherheitspolitik und Internationale Institutionen. Matthias Dembinski forscht zur europäischen und transatlantischen Sicherheitspolitik, Caroline Fehl zu Normen und Institutionen der internationalen Sicherheitspolitik, und Niklas Schörnig zur konventionellen Rüstungskontrolle.

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