Die Themen Extremismus, Radikalisierung, Terrorismus und Terrorismusbekämpfung sind aus der gesellschaftlichen Debatte in Deutschland nicht mehr wegzudenken. Diese findet oftmals in einem Modus der Aufgeregtheit statt, sodass wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse, Differenzierungen und Querverbindungen sowie kritische Blickwinkel auf diese Phänomene nicht immer angemessen berücksichtigt werden. Die Forschungsgruppen Radikalisierung und Terrorismus stellen deshalb eine kleine Liste von lesenswerten Werken im Feld zusammen. Und während es zunächst so scheinen mag, als wären die Themen wenig für die besinnliche Zeit geeignet, so sprechen sie doch große Herausforderungen gesellschaftlichen Wandels zugänglich an – und tragen somit zu besser informierten Debatten bei: ein Geschenk für alle. Wir wünschen eine entspannte Zeit mit spannenden Büchern!
Clara-Auguste Süß empfiehlt: Sophia Moskalenko und Clark McCauley (2020): “Radicalization to Terrorism: What Everyone Needs to Know”, Oxford University Press.
Die Sozialpsycholog*innen Sophia Moskalenko und Clark McCauley gelten als Koryphäen auf dem Gebiet der Radikalisierungsforschung – und das nicht ohne Grund, haben sie doch (mehrfach auch gemeinsam) in zahlreichen Veröffentlichungen wichtige Aspekte von Radikalisierung, Extremismus und Gewalt untersucht und theoretisiert. Ihr neuestes Buch fasst den Wissensstand zu jenen Themen nun pointiert und übersichtlich zusammen und gibt Leseempfehlungen für die weitere Beschäftigung mit einzelnen Aspekten. Die dreizehn Kapitel und ihre kleinteiligen Untersektionen widmen sich dabei jeweils konkreten Fragen. Das Buch thematisiert auf diese Weise unter anderem den Radikalisierungs- und Terrorismusbegriff, individuelle und (klein)gruppenbezogene/kollektive Mechanismen der Radikalisierung, den spannungsgeladenen Zusammenhang von radikalen Ideen und Handlungen, das Phänomen der auch medial vielfach besprochenen Einzeltäter*innen (sogenannte „einsame Wölfe“) sowie die Themenfelder Prävention und Deradikalisierung. Obwohl teilweise stark auf den US-amerikanischen Kontext bezogen, gelingt den Autor*innen eine übersichtliche Darstellung über den Stand der wissenschaftlichen Beschäftigung, die dieses – zugegebenermaßen große und komplexe – Themenfeld auch für ein breiteres Publikum ohne konkretes Vorwissen zugänglich macht. Seinem Titel entsprechend mutet das Buch dabei stellenweise fast enzyklopädisch an – und bietet daher einen guten Einstieg für alle Interessierten, kann aber gleichzeitig auch als Nachschlagewerk für jene dienen, die kondensierte Antworten auf konkrete Fragen suchen.
Regine Schwab empfiehlt: Vera Mironova (2019): “From Freedom Fighters to Jihadists. Human Resources of Non-state Armed Groups”, Oxford University Press.
Vera Mironova’s Studie über die interne Organisation und die personellen Ressourcen (human resources, HR) bewaffneter, nichtstaatlicher Gruppen untersucht, warum sich radikale islamistische Gruppen wie ISIS, Jabhat al-Nusra und Ahrar al-Sham im kompetitiven Umfeld des syrischen Bürgerkriegs gegenüber moderaten Gruppen durchgesetzt haben. Neben Ideologie sind dafür die straffere interne Organisation, der geringere Korruptionsgrad und eine bessere Fürsorge für Kämpfer inklusive deren Familien ausschlaggebend. Die HR-Perspektive wird zur alles erklärenden Formel dafür, warum die meisten Gruppen schon nach kurzer Zeit wieder verschwinden, während einige wenige zu mächtigen Akteuren werden; warum letztere nicht nur die meisten, sondern auch die qualifiziertesten und entschlossensten Kämpfer anziehen; und warum sie besser mit Waffen und Finanzen ausgestattet sind. Mironova betrachtet das Phänomen zunächst aus Sicht der potentiellen Mitglieder, die mehrere folgenreiche Entscheidungen treffen müssen, die über fliehen vs. bleiben, und kämpfen vs. nicht-kämpfen hinausgehen. Sie nimmt aber auch die Perspektive der Gruppe ein: Hat sie eine gewisse Popularität erreicht, muss sie etwa darauf achten, nur wirklich entschlossene Kämpfer zu rekrutieren, die sich nicht von kurzfristigen Gewinnen leiten lassen. Zwar kann eine strenge Ideologie dies bewirken, birgt aber wiederrum die Gefahr, überideologisierte Personen anzuziehen, die das Gruppenziel gefährden könnten. Ein wesentlicher Beitrag des Buches ist die beeindruckende Datensammlung, die unter anderem mehr als 600 Survey-Interviews mit Zivilist*innen und Mitgliedern von moderaten bis radikalen Gruppen über mehrere Jahre enthält. Das Buch ist nicht nur Nahost-Interessierten zu empfehlen, sondern allen, die sich für moderne Bürgerkriege interessieren.
Philipp Offermann empfiehlt: Maik Fielitz und Holger Marcks (2020): „Digitaler Faschismus. Die sozialen Medien als Motor des Rechtsextremismus“, Dudenverlag.
Die sozialen Medien gehören zum festen Alltag von Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt. Das macht sie zum idealen Werkzeug auch für rechtsextreme Akteur*innen aller Couleur, Rechtspopulist*innen wie Faschist*innen. In ihrem Buch zeigen die (full disclaimer) Ex-Kollegen hervorragend auf, wie das im Einzelnen funktioniert. In drei Kapiteln fassen sie den aktuellen Forschungsstand zugänglich und nicht belehrend zusammen. Es werden dramatisches Erzählen (zum Schüren moralischer Panik), gaslighting (der spin von alternativen Fakten statt faktischer Wahrheit) sowie metrische Manipulation (gezielte Nutzung der Social Media-Plattformen) erläutert und diskutiert. An diese verdienstvolle Arbeit schließt aber gleich die Frage an, welche Konsequenzen die skizzierten Entwicklungen für demokratische Prozesse haben, insbesondere für die Meinungsbildung. Denn wo der „Wille zur Manipulation“ auf die wenig verregelten Plattformen trifft, wird es brenzlig, trotz oder gerade wegen der universellen Verbreitung dieser Plattformen. Die Forderung nach einer strikten Regulierung (wenn nicht gar Verstaatlichung!) zentraler Plattformen ist nach der Lektüre unbedingt zuzustimmen. Diese Zusammenhänge zwischen politischer Agitation und demokratischer Meinungsbildung aufzuzeigen und einzuordnen, ist das große Verdienst von „Digitaler Faschismus“. Wer also einen grundlegenden, aber dennoch einführenden und sogar unterhaltsamen Text zum Zusammenhang von Rechtsextremismus und Internet sucht, dem sei gesagt: It’s a match!
Linda Schlegel empfiehlt: Julia Ebner (2019): „Radikalisierungsmaschinen. Wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren“, Suhrkamp.
In „Radikalisierungsmaschinen“ widmet sich Extremismusforscherin Julia Ebner einem Querschnitt zeitgenössischer, radikaler Gruppierungen, die neue Technologien für ihre Zwecke nutzen. Neben den „üblichen Verdächtigen“ wie Neo-Nazis, Mitgliedern der Identitären Bewegung, Jihadist*innen und den besonders seit der Corona Pandemie populär gewordenen QAnon Verschwörungstheoretiker*innen berichtet Ebner auch über ihre Erfahrungen mit Troll-Armeen, Hackern und anti-feministischen Trad Wives. Ebner führt den*die Leser*in anhand verschiedenster ideologisierter Gruppen durch die Phasen der Radikalisierung, von der Rekrutierung über Sozialisierung und Vernetzung bis zu Mobilisierung und schließlich dem Angriff. Sie zeigt, dass digitale Kommunikation untrennbar mit der Offline-Realität verbunden ist und dass soziale Gruppenprozesse, die früher des persönlichen Kontakts bedurften, durch diese Wechselwirkung online verstärkt werden können. Das Buch lebt von Ebners zugänglichem, journalistischem Schreibstil und der Reflexion persönlicher Erfahrungen, die sie undercover bei ihrer Forschung zu den verschiedenen Gruppierungen gemacht hat. Neben wichtigen Erkenntnissen über digitale Radikalisierung erhält der*die Leser*in Einblick in die Widrigkeiten der Extremismusforschung und die ein oder andere brenzlige Situation, die Ebner bei ihren Ausflügen in radikale Milieus bewältigen musste. Insgesamt bietet „Radikalisierungsmaschinen“ Einblick in eine Vielzahl heute vorhandener, radikaler Kräfte und eine verständliche Einführung dazu, wie sie digitale Medien für ihre Zwecke nutzen. Mehrere Verwandte, die mit diesem Buch bereits beglückt wurden, schließen sich dieser Leseempfehlung an.