Chinas scheinbar unaufhaltsamer wirtschaftlicher Aufstieg hat inzwischen auch die deutsche Parteipolitik erreicht, und die Frage nach dem zukünftigen Umgang mit der neuen Supermacht als bedeutendes Wahlkampfthema etabliert. Die deutschen Parteien begegnen dieser Herausforderung, indem sie 2021 erstmalig ausgewiesene China-Politiken skizzieren. Das ist neu: noch 2017 fanden sich nur vereinzelte Erwähnungen von „China“ in den damaligen Programmen, und ausschließlich in unspezifischen Kontexten wie dem Umgang mit autoritär verfassten Staaten. Wie ein Vergleich der aktuellen Programme zeigt, ist China inzwischen nicht nur eines von vielen außenpolitischen Themen, sondern sogar wichtiges Element ihrer allgemeinen weltanschaulichen Positionierung.
Rein quantitativ fällt zunächst auf, dass die Parteien dem Thema unterschiedlich viel Platz und Konzentration beimessen. So sind in den (traditionell sehr detaillierten) Programmen der Grünen und der FDP längere Abschnitte der China-Politik gewidmet, im letzteren Fall schließen sich daran auch noch weitere Gedanken zu Taiwan und Hongkong an. Bei der Union finden sich noch einige gesondert herausgebrochene Stichpunkte; SPD und AfD widmen dem Thema hingegen nur wenige Sätze, und bei der Linken taucht China nur im Kontext einzelner Politikfelder auf. Auf chinesischer Seite dürfte man diese gestiegene Aufmerksamkeit jedoch nicht als schmeichelhaft empfinden, da sie überwiegend zu pointierter Kritik genutzt wird: je mehr Platz eine Partei dem Thema China widmet, desto härter fällt auch die eigene Positionierung aus. Dies zeigt sich sowohl in den allgemeinen Leitlinien der skizzierten Politik als auch in konkreten Einzelvorschlägen.
Wo das Land lange Zeit vor allem als wirtschaftlicher Partner (oder Konkurrent) gesehen wurde, greifen die diesjährigen Diskussionen prominent politische Gegensätze auf, bis hin zur Gegnerschaft in einem globalen Systemwettstreit. Damit folgen die Parteien einem Modell, das von der Europäischen Union (EU) 2019 vorgeschlagen wurde, und wonach China gleichzeitig „Partner, Konkurrent und Rivale“ sei. Dessen aufsehenerregendste Neuerung ist die Einstufung von China als „Systemrivale“, der nicht nur selber von illiberalen Regierungs- und Wirtschaftssystemen geprägt sei, sondern diese inzwischen auch international verbreite. CDU/CSU und Grüne übernehmen diesen Ansatz explizit, bei SPD und FDP klingt er sprachlich zumindest an. Darin spiegelt sich zwar die deutliche Verschärfung der deutschen und europäischen China-Wahrnehmung wider, es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass auch ein Weiterbestand von Kooperationsmöglichkeiten – in der Wirtschaft, aber auch in Global-Governance-Fragen – konstatiert wird, die Beziehungen insgesamt also als komplex und vielschichtig dargestellt werden.
Als Einstieg ins Thema verweisen die meisten Programme auf Chinas anwachsenden globalen Einfluss und die damit einhergehende Möglichkeit, auch die Weltordnung nach eigenen Vorstellungen umzugestalten. Dies wird überwiegend als Bedrohung oder zumindest Herausforderung der geltenden liberalen Ordnung interpretiert, auf die eine europäische Antwort gefunden werden müsse – jedenfalls sprechen sich alle Parteien außer der AfD für ein Vorgehen auf EU-Ebene aus. An der Diagnose der zentralen Herausforderung lässt sich auch gut das Spektrum erkennen, entlang dessen sich die deutschen Parteien inzwischen chinapolitisch aufreihen, und das teils deutlich von früheren außenpolitischen Positionierungen abweicht. Die Grünen etwa führen steigende internationale Spannungen in erster Linie auf ein „autoritäres Hegemonialstreben“ Chinas (und Russlands) zurück, und äußern sich entsprechend positiv zu den Anregungen der Biden-Regierung, diesem im Gespann mit anderen Demokratien weltweit entgegenzutreten. Die Linke konstatiert ebenfalls einen Hegemonialkonflikt, verortet dessen Ursache jedoch in einem „Konfrontationskurs“ der USA und amerikanisch-europäischen Bestrebungen, ihre Position gegenüber aufsteigenden Mächten zu verteidigen. Die Union liegt in ihren Überlegungen zum globalen Systemkonflikt recht nahe bei den Grünen, auch hier erscheint China als „systemischer Rivale“ mit dem „Willen und Machtanspruch, die internationale Ordnung nach eigenen Vorstellungen zu prägen und zu verändern“. Die FDP sieht ebenfalls einen „neuen Systemwettbewerb“ mit China und begrüßt den Vorschlag einer „Allianz der Demokratien“. SPD und AfD vermeiden hingegen eine solche Festlegung zumindest in den vorliegenden Programmen. Die China-Frage teilt deutsche Parteien daher weder entlang der allgemeinen Links-Rechts-Dimension noch der friedenspolitischen Blöcke, die aus Zeiten des Kalten Krieges bekannt waren.
Chinapolitische Schwerpunkte und Einzelthemen
Angesichts der erwähnten, und von fast allen Parteien anerkannten, Komplexität der deutsch-chinesischen Beziehungen ist nicht überraschend, dass sich bei der Überführung genereller Positionierungen in konkrete Politikentwürfe Kohärenzprobleme stellen. So strebt die Union eine eigenständige europäische China-Strategie an, gleichzeitig aber auch ein „gemeinsames Vorgehen des Westens“, d.h. einen transatlantischen Schulterschluss, der fast zwangsläufig die Übernahme US-amerikanischer Positionen bedeuten würde. Die Grünen bekennen sich explizit zum „Ein-China-Prinzip“ (wonach offizielle diplomatische Kontakte nur mit der Volksrepublik China, nicht jedoch mit Taiwan, unterhalten werden). Im nächsten Satz wird jedoch die Stärkung des politischen Austauschs mit Taiwan gefordert, was von Peking schnell als Verletzung dieses Prinzips bewertet und geahndet wird. Die AfD positioniert sich mit ihren beiden Einzelforderungen gleich an unterschiedlichen Enden des chinapolitischen Spektrums: einerseits wird für einen Beitritt Deutschlands zur Belt-and-Road-Initiative geworben (den unter den westeuropäischen Ländern bislang nur Italien vollzogen hat), andererseits sollen Konfuzius-Institute an deutschen Universitäten generell abgeschafft werden.
Ähnlich ist es bei der übergeordneten Frage der Abwägung zwischen moral- und realpolitischen Impulsen. Auch dieser Widerspruch wird in mehreren Programmen offen eingestanden und als letztlich nicht auflösbar bezeichnet. Grüne und FDP fordern, die Kritik an chinesischen Menschenrechtsverstößen weiter zu intensivieren, was die dortige Kompromissbereitschaft in – ebenfalls angestrebten – Verhandlungen über Klima- und Handelsfragen nicht eben erhöhen dürfte. Für die Umsetzung einer solchen Politik wird letztlich entscheidend sein, wie genau Kritik und Kooperationswille gewichtet werden. Hier sind die Programme vielleicht weniger aufschlussreich als die Äußerungen von Spitzenpolitiker:innen im Wahlkampf: während die China-Charakterisierungen von Grünen und CDU/CSU sich recht ähnlich lesen, profilierte sich Annalena Baerbock als China-Kritikerin; Armin Laschets persönliche Kommentare zum Thema fielen hingegen eher konzilianter aus als das eigene Programm. Auch angesichts der zunehmend heftigen Reaktionen Pekings auf ausländische Kritik ist das keine rein atmosphärische Frage, sondern für die Bemessung zukünftiger Kooperationsspielräume maßgeblich. Die sofortige Verhängung von Gegensanktionen als Antwort auf die europäische Xinjiang-Politik, die auch mehrere deutsche Politiker:innen direkt betraf, ist jedenfalls als deutliches Zeichen zu werten, dass China menschenrechtspolitische Vorstöße mit eigenen Strafmaßnahmen beantworten und dafür auch seine stetig wachsenden wirtschaftlichen Machtmittel einsetzen wird.
Thematische Unterschiede finden sich auch in den Schwerpunkten, die einzelne Parteien setzen – oft entsprechend ihren Markenkernen. Die Grünen wollen im Austausch mit China vor allem für gemeinsame klimapolitische Ziele werben, Union und AfD nennen den Schutz deutscher Spitzentechnologie als zentrale Priorität. Und obwohl die Beschreibung der Gegensätze mit China deutlich mehr Raum einnimmt, erscheint das Land gerade in friedenspolitischen Themen auch öfters als Partner. SPD, Grüne, FDP und Linke regen hier deckungsgleich die Einbindung Chinas in weltweite Rüstungskontrollregime ein. Bezogen auf Nuklearwaffen dürfte sich das schwierig gestalten, da sich Peking hier angesichts seines vergleichsweise kleinen Arsenals nicht in der Bringschuld sieht, aber im Bereich der Kleinwaffenkontrolle in Afrika gibt es bereits europäisch-chinesische Bemühungen. Entwicklungszusammenarbeit (CDU/CSU und Linke) oder gar das Ziel einer „globalen sozial-ökologischen Transformation“ (Grüne) werden als weitere Berührungspunkte genannt. Vor allem in Afrika, wo China bereits ein wichtiger Akteur in der Entwicklungszusammenarbeit und militärischen Friedenssicherung ist, dürften sich auf Sachebene einige Schnittmengen ergeben – dieser Konnex wird allerdings hier nicht explizit hergestellt.
China als Treibkraft der außenpolitischen Lagerbildung
Insgesamt schlägt sich in den Programmen zur Bundestagswahl 2021 nicht nur eine größere Aufmerksamkeit gegenüber China, sondern auch die deutliche Verschärfung der deutschen Wahrnehmung des Landes nieder. Angesichts der Häufung von Streitpunkten in den letzten Jahren, und der rapiden Verschlechterung von Chinas globalem Image, kann diese Ausrichtung kaum überraschen. Und nahezu unabhängig vom Ausgang der Wahl ist zu erwarten, dass die nächste deutsche Regierung einen deutlich härteren Kurs gegenüber China verfolgen wird, als das in der Merkel-Ära der Fall war.
Die präzise Ausgestaltung der zukünftigen deutschen China-Politik hängt dabei natürlich von der Zusammensetzung der neuen Regierung ab, dürfte diese aber ihrerseits auch beeinflussen. Vor allem bei einer rechnerischen linken Mehrheit dürfte der diametrale Gegensatz zwischen Grünen und Linken ein Problem in möglichen Koalitionsverhandlungen werden. Ein schwarz-grünes oder auch Jamaika-Bündnis hätte hingegen eine klare Schnittmenge in der geforderten härteren und transatlantisch organisierten Auseinandersetzung mit China, und könnte diese sogar zum Signaturprojekt erheben. Als Kontrastfigur ist China jedenfalls inzwischen ein wichtiger Faktor für die außenpolitische Selbstverortung, Identitätsbildung und auch Lagerfindung deutscher Parteien.