Am 17. März 2023 hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Haftbefehle gegen Vladimir Putin und eine Präsidialbeamtin erlassen. Diese Entscheidung hat große Teile der Fachwelt überrascht und wirft einige Fragen auf: Auf welcher Basis kann der IStGH Putin verfolgen? Was wird ihm und der Präsidialbeamtin vorgeworfen? Ist er als amtierender Präsident vor Verfolgung besonders geschützt? Welche Staaten sind verpflichtet, den Haftbefehl umzusetzen? Was sind die politischen Folgen für Putin, das Gericht und das Völkerrecht? Der Blogbeitrag geht auf diese Fragen vor allem aus völkerrechtlicher Sicht ein.
Die Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofes, das 2002 in Kraft getretene Römische Statut, ist ein internationaler zwischenstaatlicher Vertrag. Dieser hat das Ziel, hochrangige Entscheidungsträger:innen für schwerste internationale Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen. Ursprünglich umfasste der Vertrag drei Kategorien von schwersten Verbrechen: Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. In 2010 wurde in einer Überprüfungskonferenz als vierte Kategorie das Verbrechen der Aggression hinzugefügt.
Das Römische Statut wurde seither von 123 Staaten ratifiziert. Während zu den Unterzeichnerstaaten die meisten Staaten Südamerikas, Europas und viele Staaten Afrikas zählen, haben bevölkerungsreiche Staaten wie China, Indien und die USA den Vertrag nicht ratifiziert. Auch Russland und die Ukraine sind keine Mitgliedsstaaten des Römischen Statuts. Jedoch ermöglicht Artikel 12(3) des Statuts, dass Nicht-Mitgliedsstaaten die Zuständigkeit des Gerichts anerkennen, was die Ukraine in 2014 getan hat. Damit können schwerste internationale Verbrechen, die nach 2014 auf ukrainischen Territorium stattgefunden haben, verfolgt werden. Die Ausnahme bildet das Verbrechen der Aggression, für das die Zuständigkeit für Nicht-Mitgliedstaaten in den Verhandlungen in 2010 ausgeschlossen wurde.
Die Situation in der Ukraine
Kurz nach Kriegsbeginn im März 2022 hat Chefankläger Karim Khan formelle Ermittlungen in der Ukraine eröffnet. Diese mündeten Anfang 2023 darin, dass die zweite Vorverhandlungskammer des IStGH einen hinreichenden Anfangsverdacht auf mögliche Kriegsverbrechen bestätigt sah und auf deren Basis einen internationalen Haftbefehl für den Russischen Präsidenten Vladimir Putin und die Russiche Präsidentielle Sonderbeauftragte für Kinderrechte Maria Lvova-Belova ausstellte. Speziell wird beiden die Verantwortlichkeit für die Kriegsverbrechen nach Artikel 8(2)a)(vii) und 8(2)b)(viii) vorgeworfen. Diese beinhalten und verbieten die rechtswidrige Vertreibung und Überführung von Teilen der Zivilbevölkerung, unter anderem aus besetzen Gebieten. Im konkreten Fall verweist der Vorwurf auf die systematische Verschleppung von zwischen 6.000 und 16.000 ukrainischen Kindern, vor allem Waisen, aus den besetzten Gebieten nach Russland.
Laut der Vorverhandlungskammer besteht der ausreichende Anfangsverdacht, dass diese Praxis direkt durch Lvova-Belova angewiesen wurde und Putin sowohl direkte als auch indirekte Befehlsgewalt ausgeübt habe. Diese Annahme wird durch eine Vielzahl an öffentlich zugänglichen Informationen gestützt, unter anderem einem auf der Website des Kremls veröffentlichten Protokoll eines Treffens zwischen Putin und Lvova-Belova, in welchem die Details des Verschleppungsprogrammes besprochen werden.
Der IStGH kann über diese speziellen Verbrechen hinaus beliebig viele weitere mögliche Anklagepunkte hinzufügen, sobald ausreichende Hinweise für andere Tatbestände vorliegen. Medienberichten zufolge könnte dies bald vor allem für das Kriegsverbrechen gezielter Angriffe auf zivile Infrastruktur der Fall sein, aber auch mögliche Anklagepunkte von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und des Genozids werden diskutiert.
Die Frage der Immunität Putins
Jedoch wird durch diesen Haftbefehl eine völkerrechtliche Fragestellung wieder besonders relevant: Besitzen amtierende Staatsoberhäupter Immunität vor internationalen Gerichten?
Grundsätzlich besteht im Völkergewohnheitsrecht die Annahme, dass bestimmte Personengruppen wie Staatsoberhäupter, aber auch Außenminister:innen und Regierungsvorsitzende, während ihrer Amtszeit einen besonderen Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung durch andere Staaten genießen. Dieser besondere Schutz vor Verfolgung vor nationalen Gerichten wurde durch den Internationalen Gerichtshof für zwischenstaatliche Rechtsfragen – nicht zu verwechseln mit dem IStGH – selbst für den Vorwurf von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestätigt (IGH Haftbefehl Entscheidung Paragraf 58).
Der IStGH hat durch eigene Rechtsprechung jedoch die Annahme entwickelt, dass sich diese Immunität nicht auf Internationale Gerichte erstreckt. In mehreren Urteilen in Bezug auf die mögliche Festnahme von Sudans ehemaligem Diktator Omar al-Bashir haben die verschiedenen Kammern geurteilt, dass diese Immunitäten keinen Schutz vor dem IStGH gewähren (Vorverhandlungskammer 1 Malawi Entscheidung Paragraf 36, Vorverhandlungskammer 2 Südafrika Entscheidung Paragrafen 84, 88 und 91, Berufungskammer Jordanien Entscheidung Paragraf 117). Nach Artikel 89 (1) des Römischen Statutes wären damit alle 123 Mitgliedsstaaten verpflichtet, Putin auf ihrem eigenen Territorium festzunehmen und an den Strafgerichtshof zu übermitteln. Auch Nicht-Mitgliedsstaaten könnten nach Artikel 87(5)a) mit dem IStGH kooperieren und dadurch den Internationalen Haftbefehl umsetzen.
Diese Rechtsauffassung ist jedoch unter Expert:innen nicht unumstritten, da der IStGH in solchen Fällen in „eigener Sache“ urteile und nicht immer sauber argumentiert habe. So haben auch Staaten wie die USA und China in der Vergangenheit die Position vertreten, dass der IStGH nicht die Kompetenz besäße, Staatsoberhäupter von Nicht-Mitgliedsstaaten zu verfolgen, zumindest nicht ohne UN-Sicherheitsratsbeschluss. Diese Ansicht vertritt Russland nun in Bezug auf Putin vehement und erhält teilweise auch Unterstützung von Mitgliedsstaaten des Römischen Statutes, beispielsweise durch Ungarn. Einige, vor allem westliche, Staaten unterstützen die Entscheidung jedoch explizit und haben angekündigt, diese umsetzen zu wollen.
Was bedeutet der Haftbefehl politisch?
Für den IStGH wird die Entscheidung, einen Haftbefehl gegen Putin auszustellen, bereits als richtungsweisend und eine der wichtigsten Entwicklungen in der Geschichte des Gerichtshofes beschrieben. In der Tat ist die mögliche Anklage eines Staatspräsidenten ohne einen UN-Sicherheitsratsbeschluss, noch dazu eines so einflussreichen Landes wie Russland, ein möglicher Meilenstein in der Weiterentwicklung des Strafvölkerrechts. Dies sendet das Signal, dass Verbrechen, selbst wenn sie durch die mächtigsten Personen der Welt begangen werden, nicht unverfolgt bleiben.
Wie oben beschrieben bleibt diese Entscheidung jedoch nicht ohne Widerstand, sowohl aus der Fachwelt als auch durch Staaten. Es wird daher wichtig sein, nicht zu hohe Erwartungen an den Haftbefehl selbst zu knüpfen. Praktisch bleibt es äußerst unwahrscheinlich, dass Putin in näherer Zukunft verhaftet und in Den Haag vor der Anklagebank stehen wird. Mitgliedsstaaten werden Russland aller Wahrscheinlichkeit nach über diplomatische Wege mitteilen, ob sie sich durch den Haftbefehl gebunden sehen, und die Reisen Putins werden dementsprechend geplant werden. Der ehemalige russische Präsident Medvedev verkündete bereits, dass auf eine Festnahme Putins sofortige Raketenschläge gegen den festnehmenden Staat folgen würden. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Staat zu diesem Zeitpunkt eine Überraschungsfestnahme und damit verbundene mögliche (Militär)-Maßnahmen riskiert. Dennoch wird der Haftbefehl Putins Bewegungsfreiheit einschränken sowie, zumindest teilweise, seiner Wahrnehmung in der Welt schaden.
In der Vergangenheit wurde teilweise gewarnt, dass Haftbefehle gegen hohe Entscheidungsträger:innen den Friedensprozess behindern könnten. In der Wissenschaft ist diese Angst jedoch weitgehend widerlegt. Darüber hinaus gäbe es insbesondere in der vorliegenden Situation eine weitere Option, um Putin einen Ausweg zu bieten. Nach Artikel 16 des Römischen Statutes können Verfahren des IStGH durch einen Beschluss des UN-Sicherheitsrats temporär ausgesetzt werden und damit könnte, zumindest theoretisch, ein Friedensschluss gegen die Aussetzung der Verfolgung Putins getauscht werden.
Diese Aussetzung würde die Zustimmung der anderen ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats erfordern. In der gegenwärtigen Situation erscheint dies unwahrscheinlich, vor allem weil die ukrainische Regierung einen solchen Deal ablehnt. Langfristig bietet Artikel 16 damit allerdings eine Möglichkeit, zusätzlichen Druck auf Putin auszuüben, um ein Friedensabkommen als eine gesichts- und freiheitswahrende Option in Betracht zu ziehen.
Fazit
Es bleibt abzuwarten, wie die Mitgliedsstaaten mit dem Haftbefehl verfahren werden. Sollte eine Vielzahl an Staaten diesen ignorieren – der IStGH hat keine ernstzunehmenden eigenen Durchsetzungsmöglichkeiten – kann dies dem Ansehen des Gerichtshofes schaden. Wie bereits bei der Nicht-Festnahme Bashirs wird der Gerichtshof sich der Frage stellen müssen, ob der Anspruch, Verbrechen bis zur höchsten Ebene zu verfolgen, mit der Realität übereinstimmt. Allerdings hat der Gerichtshof mit der Ausstellung des Haftbefehls bewiesen, dass dieser Anspruch noch immer besteht. Damit profiliert sich der IStGH weiterhin als Gericht mit dem Potential, das geltende Völkerrecht weiterzuentwickeln. Sofern diese Weiterentwicklung langfristig zu höherer Verantwortlichkeit von Kriegsverbrecher:innen führt, ist das bereits ein positiver Schritt.