Graue Wand auf der in schwarzen Großbuchstaben „WEST WING“ steht.
Westwing: Ist der Rechtsextrsmismus vor allem eine Bedrohung aus dem Westen? Foto Ainur Iman via Unsplash

Extrem rechts – Extrem jung: Radikalisierung in Deutschland und Singapur

Letzte Woche ließen zwei Meldungen besonders aufhorchen: Die eine, nicht neu, dass die größte extremistische Gefahr in Deutschland von Rechtsextremist*innen ausgehe. Die andere, und diese überraschender, dass sich zunehmend auch Teenager radikalisierten. Bei einer bundesweiten Razzia wurde ein 14-Jähriger festgenommen. Das Phänomen wird nicht nur in Deutschland und Europa beobachtet. Auch in Singapur kam es zuletzt zu mehreren Verhaftungen rechtsextremer und auffallend junger Männer. Interessant ist der Fall Singapurs, weil dort die rechtsextremistische Radikalisierung als aus „dem Westen“ importiert verstanden wird. Was wissen wir über das Phänomen dieser transnational-diffundierenden Radikalisierung junger Männer und gibt es Unterschiede in den Erklärungsansätzen?

Den Verhaftungen in Deutschland lag die Einschätzung des Generalbundesanwalts zugrunde, dass die Verdächtigen mutmaßlich Mitglieder einer Gruppe seien, die rechtsextremistisch motivierte Anschläge auf Geflüchtete und Andersdenkende plane. Ganz ähnlich die Gefahreneinschätzung in Singapur vor wenigen Monaten. Ein 18-jähriger wurde präventiv inhaftiert, da er, orientiert an Vorbildern wie den Attentaten von Christchurch 2019, Anschläge auf muslimische Einrichtungen zwar noch nicht konkret vorbereitet habe, er sich darüber aber mit anderen in Online-Foren austauschte. Es war nicht der erste Fall dieser Art in Singapur. 2023 wurde ein 16-jähriger Jugendlicher aus ähnlichen Gründen in Gewahrsam genommen.

Wie entsteht die Bereitschaft zur Gewalt?

Die Hintergründe der Inhaftierungen waren in beiden Ländern also substanzielle Anhaltspunkte für eine „Radikalisierung in die Gewalt“. Die verdächtigen Personen haben mutmaßlich bereits Gewalt angewendet oder waren bereit dies zu tun. Der Begriff der Radikalisierung in der Literatur ist grundsätzlich breiter. Er erfasst unter anderem auch Formen der gewaltfreien Radikalisierung, die in einer demokratischen Gesellschaft dazugehören. Aber auch solche, die eine Radikalisierung in die Gewalt begünstigen können und deren Verständnis daher umso wichtiger ist, um die Radikalisierung in die Gewalt zu vermeiden.

Woran entscheidet sich, wer eine Bereitschaft entwickelt, aus politischen Gründen Gewalt gegen andere Menschen anzuwenden? Die meisten Menschen, die ein radikales Weltbild entwickeln, planen weder Anschläge noch setzen sie solche Pläne um. Eine Radikalisierung hin zu einem gewaltsamen Handeln ist ein vielschichtiger Prozess, der in der Radikalisierungsforschung auf der individuellen, der Gruppen- und der gesellschaftlichen Ebene analysiert wird (als Referenzen zu diesem Abschnitt siehe hier und hier). Alle Ebenen sind für das Verständnis einer Radikalisierung in die Gewalt wichtig:

Die Erklärungsmuster auf der individuellen Ebene adressieren individuelle Erfahrungen und psychologische Eigenschaften eines Menschen, der sich radikalisiert. Im Zentrum steht die Frage, welche externen Impulse in Kombination mit diesen Eigenschaften eine persönliche Krise auslösen können, die eine Hinwendung zu radikalen Überzeugungen fördert, in denen Gewalt als eine legitime Option gilt. Auf der Gruppenebene geht es um die Bedürfnisse nach Anerkennung, Bestätigung und Zugehörigkeit. Auch wenn es um Prozesse der Selbstradikalisierung geht, ist diese Ebene wichtig. Gerade auch vereinzelte, einsame Personen suchen in Online-Foren aktiv nach dieser Form der Bestätigung und Vernetzung mit Gleichgesinnten. Hierdurch kann es zu einer Dynamik der gegenseitigen Selbstverstärkung kommen, die durch die sozialen Medien zusätzlich befeuert wird. Die Analyse der gesellschaftlichen Ebene adressiert das soziale Umfeld in einem weiteren Sinne. Es geht um die Frage, welche Haltungen und Normen als angemessen gelten. Findet die Sozialisierung in einem radikalen Milieu statt, in der etwa rassistische Haltungen normalisiert und Gewalt nicht verurteilt wird, kann dies einen Radikalisierungsprozess hin zu einem gewaltsamen Verhalten ebenfalls begünstigen.

Radikalisierung als westliche Bedrohung

Welche dieser Ebenen finden sich in den unmittelbaren Erklärungsversuchen zu den Verhaftungen in Deutschland und Singapur? Wie der Blog im Folgenden zeigt, wird in beiden Fällen auf die Bedeutung der Online-Radikalisierung verwiesen, in der sich Elemente der individuellen Ebene und der Gruppenebene verbinden. Ein Unterschied zwischen den beiden Fällen liegt in der Bezugnahme auf gesellschaftliche, strukturelle Ursachen der Radikalisierung. Diese werden in den unmittelbaren Reaktionen auf die Verhaftungen in Deutschland adressiert, in Singapur war dies nur am Rande der Fall. Dies hat zwei Gründe: Erstens wird die rechtsextremistische Radikalisierung in Singapur als eine Bedrohung verstanden, die von außen, vor allem aus westlichen Ländern kommt. Zweitens ist die gesellschaftliche Verankerung rassistischer Einstellungen, die eine Ideologie und Legitimationsquelle rechtsextremistischer Radikalisierung sein können, in der öffentlichen Debatte in Singapur tabuisiert.

Es sind diese beiden Gründe, die eine gemeinsame Betrachtung der Fälle Deutschland und Singapur interessant machen. Die Unterschiede zwischen Singapur und Deutschland sind sehr groß – historisch, politisch, demografisch und kulturell. Vergleiche zwischen diesen beiden Ländern sind daher voraussetzungsreich bzw. gehen in Richtung eines Most Different System Designs. Die Frage der Diffusion eines besonders jungen Rechtsextremismus ist aber gerade keine des Vergleichs, sondern eine der Verflechtung. Die Radikalisierung in Online-Foren, in Gaming-Welten, in den sozialen Medien stützen die These der transnationalen Diffusion des Rechtsextremismus. In der vergleichenden Perspektive könnte parallel dazu aber ein in den beiden sehr unterschiedlichen Gesellschaften verankerter Rassismus ein gemeinsames Merkmal sein, das die Radikalisierung in die Gewalt mit erklärt. Gerade dieses Merkmal wird aber in Deutschland und Singapur in unterschiedlichem Maße einbezogen. In beiden Ländern ist gerade dieses Analysemerkmal politisch besonders umstritten.

Rechte Bedrohung in Singapur

In Singapur wurden in den vergangenen Jahren mehrfach junge Männer inhaftiert, denen vorgeworfen wurde, gewaltsame Anschläge mehr oder weniger konkret geplant zu haben. In den Schlagzeilen war vor einigen Wochen der Fall eines erst 18-jährigen jungen Mannes, der sich laut Medienberichten selbst radikalisierte und im Dezember 2024 präventiv festgenommen wurde. Die Grundlage hierfür bietet der Internal Security Act, ein Gesetz aus dem Jahr 1960, welches die interne Sicherheit vor Subversion und politischer Gewalt schützen soll. Dieser aktuelle Fall ist der dritte Fall eines Verdächtigen, darunter auch ein 16-jähriger, auf den dieses Gesetz in den vergangenen Jahren angewendet wurde.

Die mediale Aufmerksamkeit für diese Fälle in Singapur ist deshalb interessant, da in Singapur, anders als in Deutschland, zumindest aktuell der Rechtsextremismus und -terrorismus empirisch nicht als die größte Gefahr der politischen Gewalt gelten kann. Es sind vor allem drei Merkmale, die die Aufmerksamkeit für den Rechtsextremismus in Singapur verstärken. Erstens das Narrativ, dass es sich um eine Bedrohung handele, die aus dem Ausland importiert ist und die dort bereits großen Schaden anrichtet. Es geht also darum, den Rechtsextremismus bereits in einem frühen Stadium ernst zu nehmen und präventiv einzuschreiten. Zweitens hat auch in Singapur das junge Alter der mutmaßlichen Rechtsextremisten Erstaunen hervorgerufen. Drittens, und dies wird im Folgenden erläutert, herrschte in der öffentlichen Debatte eine Irritation über die ideologische Motivation der jungen Männer, die sich als „East Asian Supremacists“ identifizierten (siehe hier und hier).

East Asian Supremacy

In Deutschland und in Singapur bereiten den Sicherheitsbehörden das junge Alter der Verdächtigen und die Geschwindigkeit der Radikalisierung die größten Sorgen. Merkmale, die dabei immer wieder genannt werden, ist neben den online Mechanismen der Radikalisierung auch, dass Rechtsextremismus sich vor allem unter jungen Männern verbreite und zunehmend auch – in Deutschland wieder – zu einem Lifestyle avanciere.

Für Singapur können diese Elemente am Beispiel des im Februar dieses Jahres inhaftierten 18-jährigen stellvertretend illustriert werden. Das Ministry of Home Affairs zeichnet in einer Erklärung das scheinbar klare Bild einer aktiven Selbstradikalisierung über Online-Medien: Der Jugendliche habe im Internet nach extremistischen und gewalttätigen Inhalten gesucht und diese immer intensiver konsumiert. Insbesondere der rechtsterroristische Anschlag von Christchurch habe dabei eine wichtige Rolle gespielt. Die Idolisierung des Täters wurde auch daran erkennbar, dass der Jugendliche dessen Identität in online Gewaltspielen verwendete. Wie in Neuseeland sollten auch in Singapur Muslim*innen das Ziel der Gewalt werden. Zudem bemühte sich der 18-jährige, in Online-Foren Gleichgesinnte und potenzielle Mittäter zu finden.

Ideologisch orientierte der Teenager sich u.a. an der Great Replacement Theory und identifizierte sich als „East Asian Supremacist“. Dies hat in der Debatte in Singapur zum Teil Irritationen hervorgerufen. Wäre der Chinesisch gelesene Jugendliche in den Vereinigten Staaten und Europa – also den aus singapurischer Perspektive westlichen Ursprungsländern der White Supremacy-Ideologie – nicht selbst bedroht? Bereits in einem früheren Kommentar, vor der Verhaftung des 18-Jährigen, hatte Kumar Ramakrishna, ein nicht nur Singapur bekannter Wissenschaftler, sich mit dem Phänomen auseinandergesetzt.

Ramakrishna weist darauf hin, dass auch in westlichen Ländern paradoxerweise das Phänomen der „Multicultural White Supremacists“ auftrete, also von radikalisierten Individuen, die zwar nicht-weißen Ethnien angehören, aber dennoch zentrale Elemente der Ungleichheitsideologie aufgreifen und für ihre spezifischen Ideologie-Kontexte adaptieren. In diesem Sinne haben sich auch in Singapur junge Männer als Anhänger einer „East Asian Supremacy“ identifiziert. Größere Bedeutung als den ethnischen Motiven, misst aber auch Ramakrishna vor allem dem jungen Alter der Verdächtigen zu, das sie besonders anfällig für Übernahme radikaler Haltungen mache.

Gesellschaft, Rassismus, Radikalisierung

An der Debatte in Singapur fällt der starke Fokus auf die Online-Komponente der Radikalisierung auf, die insbesondere durch die individuelle und die Gruppenebene der Radikalisierung erklärt wird. Wenn die ideologische Untermauerung diskutiert wird, dann in einer Weise, die vor allem den westlichen Ursprung der Gewalt legitimierenden Haltungen markiert. Dieses Bild einer rechtsextremistischen Radikalisierung als nahezu ausschließlich importierten Vorgang ist aber verkürzt. Es übersieht, dass auch in Singapur in der Gesellschaft rassifizierende und stereotypisierende Grundhaltungen verankert sind, an die rassistische und extremistische Ideologien anknüpfen können. Zugleich ist der gesellschaftliche Rassismus in Singapur aber ein Thema, das in der öffentlichen Debatte quasi tabuisiert ist, da die politischen Eliten davon ausgehen, dass eine offene Thematisierung den gesellschaftlichen Zusammen halt eher gefährdet als erhält.

Dieser gesellschaftliche Aspekt der Radikalisierung wird hingegen in Deutschland – insbesondere seit dem Mord an Walter Lübcke – stärker in den Fokus gerückt. Eine Normalisierung rassistischer und menschenverachtender Sprache und der damit verbundenen Haltungen, die in der Gesellschaft zunehmend unwidersprochen bleibt, kann die Radikalisierung hin zu Gewalt begünstigen. In diesem Sinne wies ein Kommentar zu den Verhaftungen der vergangenen Woche darauf hin, dass nicht zuletzt die Elternhäuser der sehr jungen Rechtsextremen eine Rolle spielten. Dies vor allem dann, wenn es Eltern seien, die selbst in den 1990er Jahren eine rechtsextremistische Sozialisation erfahren haben. Die gesellschaftliche Dimension der Radikalisierung wurde in Deutschland schon früher und mit Bezug auf die Gewalt der 1990er Jahre thematisiert. So wies etwa Albert Scherr 2009 darauf hin, dass sie nicht nur psychosozial und individualisiert verstanden werden könne, sondern dass diese eben auch an historische und seinerzeit aktuelle gesellschaftliche Diskurse angeschlossen habe, die zur Legitimation genutzt werden konnten.

Wer Gewalt verhindern will, muss alle Ebenen in den Blick nehmen

Die rechtsextremistische Radikalisierung sehr junger Männer ist ein transnationales Phänomen. Entsprechend fokussieren Erklärungs- wie Präventionsansätze auf Mechanismen der Selbst- und Online-Radikalisierung. Zugleich verweisen die Erfahrungen aus der Erforschung des Rechtsextremismus auf gesellschaftliche Faktoren der Radikalisierung. Diese sollten nicht nur in Singapur noch stärker in den Blick genommen werden, um das Phänomen des Rechtsextremismus besser zu verstehen und ihm besser begegnen zu können.

Singapur ist durch eine hohe ethnische und religiöse Diversität charakterisiert, die dort durch ein spezifisches Modell der Multikulturalität reguliert wird. Eine Folge davon ist eine hohe Sensibilität für jegliche Form der Diskriminierung bis hin zur politischen Gewalt. Die Prävention setzt dabei sehr früh an. In Singapur konnten seit langer Zeit trotz einer bestehenden Bedrohungslage Anschläge erfolgreich verhindert werden. Die Verhaftungen junger mutmaßlicher Rechtsextremisten illustrieren dies. Sie können ein Beispiel auch für westliche Länder sein, bei drohender Gewalt früher einzugreifen. Dennoch, und dies hat der Blog gezeigt, erzeugt die hohe Sensibilität eine Blindstelle aufgrund der Tabuisierung gesellschaftlicher Rassismen. Diese in der Erklärung von Radikalisierungsprozessen in die Gewalt nicht zu ignorieren, sondern stärker zu berücksichtigen, ist eine der Lehren aus der Auseinandersetzung mit rechter Gewalt in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland.

Stefan Kroll

Stefan Kroll

Dr. Stefan Kroll ist Leiter der Abteilung für Wissen­schafts­kommunika­tion und Senior Researcher im Programm­bereich Inter­nationale Insti­tutionen. Seine Arbeits­schwer­punkte liegen im Bereich inter­diszi­plinärer Normen- und Institutionen­forschung, des Wissens­transfers und der politischen Bildung für Themen der Friedens- und Konflikt­forschung. // Dr. Stefan Kroll is Head of Science Communication and a Senior Researcher at PRIF’s research department International Institutions. His work focuses on inter­disciplinary research on norms and insti­tutions, know­ledge transfer, and political education for peace and conflict research topics.. | Twitter: @St_Kroll

Stefan Kroll

Dr. Stefan Kroll ist Leiter der Abteilung für Wissen­schafts­kommunika­tion und Senior Researcher im Programm­bereich Inter­nationale Insti­tutionen. Seine Arbeits­schwer­punkte liegen im Bereich inter­diszi­plinärer Normen- und Institutionen­forschung, des Wissens­transfers und der politischen Bildung für Themen der Friedens- und Konflikt­forschung. // Dr. Stefan Kroll is Head of Science Communication and a Senior Researcher at PRIF’s research department International Institutions. His work focuses on inter­disciplinary research on norms and insti­tutions, know­ledge transfer, and political education for peace and conflict research topics.. | Twitter: @St_Kroll

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