International Federation of Red Cross and Red Crescent Cocieties | Flickr Photo: Babak Fakhamzadeh | CC BY-NC 2.0

Das Humanitäre Völkerrecht: Eine Erfolgsgeschichte auf dem Prüfstand

Das Humanitäre Völkerrecht – das ius in bello – ist eine der großen völkerrechtlichen Errungenschaften. Am 8. Juni 2017 jährte sich die Unterzeichnung der beiden Zusatzprotokolle von 1977 zu den Genfer Abkommen von 1949 zum 40. Mal. Die Genfer Abkommen werden in zwei Jahren ihren 70. Geburtstag feiern – eine Erfolgsgeschichte. Zugleich wird das Humanitäre Völkerrecht in den letzten Jahren immer wieder auf eine harte Probe gestellt. Nicht-internationale bewaffnete Konflikte wie in Syrien lassen Grenzen und Schwächen des derzeitigen völkerrechtlichen Systems auch jenseits des ius in bello hervortreten. Stößt das Recht an seine Grenzen?

Das Humanitäre Völkerrecht – eine große Errungenschaft

Das Humanitäre Völkerrecht in seiner heutigen Gestalt stellt einen Meilenstein der völkerrechtlichen Entwicklung dar. Die vertraglichen Grundlagen wurden vor allem in den Jahren 1899/1907 in der Haager Landkriegsordnung, 1949 in den Genfer Konventionen und 1977 in den Zusatzprotokollen zu den Genfer Konvention gelegt. Das ius in bello soll ein Mindestmaß an Humanität in bewaffneten Konflikten gewährleisten. Kernelemente sind daher Bestimmungen über Personen, die nicht oder nicht mehr an Feindseligkeiten teilnehmen sowie über Beschränkungen der Kriegsmittel und -methoden. Das Humanitäre Völkerrecht gliedert sich in das sogenannte Genfer Recht sowie das Haager Recht; erstes umfasst vor allem den Schutz von Angehörigen der Streitkräfte sowie von Zivilpersonen, letzteres befasst sich mit den Mitteln und Methoden der Kriegsführung.

Im Rahmen des Rechts der bewaffneten Konflikte ist zwischen internationalen bewaffneten Konflikten – bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen mindestens zwei Staaten – sowie nicht-internationalen bewaffneten Konflikten – bewaffneten Auseinandersetzungen einer gewissen Intensität und Dauer zwischen einem Staat und einer oder mehreren organisierten, bewaffneten Gruppen bzw. zwischen mehreren nicht-staatlichen, bewaffneten Gruppen – zu differenzieren. Obwohl nicht-internationale bewaffnete Konflikte heute überwiegen, ist der dafür maßgebliche Normenbestand nach wie vor rudimentär. Anwendbar sind im Wesentlichen der Gemeinsame Art. 3 der Genfer Abkommen von 1949 und das Zweite Zusatzprotokoll von 1977. Dieser Bestand wurde durch das Völkergewohnheitsrecht gefestigt, dessen Weiterentwicklung durch eine Studie des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) und die Rechtsprechung völkerstrafrechtlicher Spruchkörper bestätigt wurde.

Aktuelle Herausforderungen – Das Beispiel Syrien

Nicht-internationale bewaffnete Konflikte wie der in Syrien sind eine besondere Herausforderung für das Humanitäre Völkerrecht. Die internen Konflikte zeichnen sich oft durch ein bemerkenswertes Ungleichgewicht der Konfliktparteien aus (asymmetrische Konflikte). Dessen ungeachtet beruhen die Normen des Humanitären Völkerrechts auf dem Prinzip der Gleichheit der Rechte und Pflichten, also der Reziprozität. Auch nicht-staatliche Akteure sind an das jeweils anwendbare Recht des bewaffneten Konflikts gebunden (dazu ausführlich Christian Schaller in einer SWP-Studie).

Aus diesem Ungleichgewicht der Konfliktparteien können allerdings zahlreiche Probleme resultieren. Die Kämpfer der bewaffneten Gruppen tragen typischerweise keine Uniform; sie sind nicht klar identifizierbar und können verdeckt aus der Zivilbevölkerung heraus agieren. Die Unterscheidung zwischen den Angehörigen solcher Gruppen und geschützten Personen, die nicht aktiv an Kampfhandlungen teilnehmen, ist daher schwierig zu treffen. Darüber hinaus können bewaffnete Gruppen aus geschützten Objekten heraus operieren. Zwar können die Gebäude den Schutz als ziviles Objekt unter bestimmten Voraussetzungen verlieren, eine eindeutige Identifizierung eines militärischen Objekts (und damit eines legitimen Ziels) ist aber oftmals schwierig. Die Anwendung solcher Guerillataktiken ist nicht per se untersagt, die Grenzen zwischen dem Erlaubtem und dem nach dem ius in bello Unzulässigen verlaufen aber fließend. Für einen beteiligten Staat ergeben sich daraus besondere Schwierigkeiten; er bleibt vollständig an das humanitäre Völkerrecht gebunden und darf nicht seinerseits auf humanitär völkerrechtswidrige Taktiken mit einer Missachtung des Völkerrechts reagieren.

Wie sieht aber die Wirklichkeit im syrischen Konflikt aus? Leider wiegen die Verletzungen zentraler Regeln des Humanitären Völkerrechts schwer. Im April dieses Jahres wurde zum wiederholten Male Giftgas eingesetzt. Bei einem Angriff auf die Stadt Chan Scheichun wurde laut der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) Sarin eingesetzt: ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht. Bereits die Haager Landkriegsordnung von 1907 (HLKO) und das Genfer Protokoll zum Verbot chemischer und biologischer Waffen von 1925 enthalten das Verbot des Einsatzes von Gift und giftigen Waffen (Art. 23 a HLKO) bzw. erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen, Flüssigkeiten und Stoffen (Genfer Protokoll). Allerdings sind die dort enthaltenen Verbote nur auf klassische Kriege, also internationale bewaffnete Konflikte anwendbar. Auch im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt besteht allerdings keine uneingeschränkte Wahl der Kriegsmittel. Zwar kennt das Recht des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts keine spezifischen Bestimmungen bezüglich der Durchführung militärischer Operationen, kraft Gewohnheitsrecht gilt aber das Verbot des Einsatzes von Giftgas sowie nuklearer, biologischer und chemischer Waffen (IKRK, Customary Law Study, Regeln 72 ff.). Ferner müssen das Verbot des Einsatzes von Mitteln und Methoden der Kriegsführung, die geeignet sind, überflüssige Verletzungen und unnötiges Leiden zu verursachen sowie das Verbot unterschiedsloser Kriegsführung beachtet werden. Zudem ist Syrien seit dem 14. Oktober 2013 Mitglied des Chemiewaffen-Übereinkommens (CWÜ).

Von besonderer Bedeutung ist außerdem das zentrale Prinzip des Schutzes der Zivilbevölkerung. Dieses verbietet insbesondere unmenschliche und erniedrigende Behandlungen oder Folterung von Zivilpersonen oder eine Verurteilung durch Gerichte, welche „die von den zivilisierten Völkern als unerlässlich anerkannten Rechtsgarantien“ nicht bieten (Gemeinsamer Art. 3 Genfer Abkommen). Genannt werden müssen in diesem Zusammenhang auch humanitär völkerrechtswidrige Angriffe auf geschützte Objekte, wie beispielsweise medizinische Einrichtungen und Hilfskonvois sowie die Zerstörungen zahlreicher geschützter Kulturgüter wie beispielsweise von Tempelanlagen in Palmyra – Regeln, die ebenfalls Bestandteil der Völkergewohnheitsrechts sind.

Ist das Recht noch zeitgemäß?

Aus der Asymmetrie der Konfliktparteien ergeben sich erhebliche Probleme. Insbesondere systematische Rechtsverletzungen als Kriegstaktik sind äußerst bedenklich. Die zahlreichen Verletzungen von Kernnormen des ius in bello in Syrien wecken Zweifel an der Wirkmacht des Rechts. Ist das Humanitäre Völkerrecht vor dem Hintergrund der wachsenden Bedeutung nicht-staatlicher Akteure noch zeitgemäß und den Anforderungen gewachsen?

Es bleibt zunächst festzuhalten, dass auch der fragmentarische Rechtsrahmen, der auf nicht-internationale bewaffnete Konflikte anwendbar ist, die wesentlichen Prinzipien des Humanitären Völkerrechts umfasst. Die Kernnormen sind zum Gewohnheitsrecht erstarkt. Zudem sorgt die Reziprozität des Humanitären Völkerrechts dafür, dass das Recht gleichermaßen für nicht-staatliche und staatliche Akteure gilt.

Die größeren Schwierigkeiten erwachsen allerdings bei der Anwendung und insbesondere der Durchsetzung des Rechts. Besonders prekär ist angesichts der Lage in Syrien, dass die Einhaltungsmechanismen defizitär sind. Ohne Zweifel bestehen zum einen erhebliche Probleme, das Recht gegenüber nicht-staatlichen Akteuren durchzusetzen. Hier sind insbesondere das IKRK aber auch NGOs wie beispielsweise Geneva Call bemüht, nicht-staatliche Akteure von der Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu überzeugen und über das Recht aufzuklären. Zum anderen können auch die Durchsetzungsmechanismen gegenüber Staaten nicht vollständig überzeugen. Das Chemiewaffenübereinkommen sieht beispielsweise Meldepflichten sowie ein Inspektionssystem vor. Die Zerstörung der deklarierten Chemiewaffenbestände Syriens unter Aufsicht der OPCW zeigt – auch wenn es erneute Giftgaseinsätze in Syrien nicht verhindern konnte – eine der Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung auf; allerdings mit Zustimmung des betroffenen Staates. Zudem kann auf den sogenannten Joint Investigative Mechanismen von OPCW und Vereinten Nationen zur Untersuchung von Chemiewaffeneinsätzen in Syrien hingewiesen werden.

Allerdings greifen nur in vertraglich vorgesehenen Fällen gerichtliche Durchsetzungsmechanismen ein. In den anderen Fällen ist das Recht auf die Kooperationsbereitschaft der Staaten angewiesen. Das Völkerrecht verfügt über kein zentrales Organ zur Rechtsdurchsetzung. Zwar könnte der Internationale Strafgerichtshof die schwersten Verletzungen des Humanitären Völkerrechts gegenüber Einzelpersonen verfolgen. Der Gerichtshof wird aber nur subsidiär tätig, also wenn die nationalen Gerichte die Verbrechen nicht verfolgen können oder wollen. Zudem sind lediglich die Vertragsstaaten des Römischen Statuts der Gerichtsbarkeit unterworfen – Syrien gehört nicht dazu. Ansonsten ist der Gerichtshof auf die Überweisung durch den UN-Sicherheitsrat angewiesen. Dort würde aber ein Veto mindestens Russlands drohen und die Überweisung genauso wie die Einsetzung von ad hoc-Tribunalen, wie dies beispielsweise für das ehemalige Jugoslawien oder Ruanda der Fall war, derzeit unwahrscheinlich machen.

Weiterentwicklung oder Stillstand?

Angesichts dieser Situation stellt sich die berechtigte Frage: was nun? Jenseits der Internationalen Humanitären Ermittlungskommission, die jüngst erstmals von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) in Zusammenhang mit den Ereignissen vom 23. April 2017 in der Ost-Ukraine aktiviert worden ist, gibt es weitere Bemühungen um die Einhaltung des humanitären Völkerrechts. Um „der Gefahr einer Erosion seiner Glaubwürdigkeit entgegenzuwirken“ beschloss die 31. Internationale Konferenz vom Roten Kreuz und Roten Halbmond 2011 einen Prozess zur Entwicklung eines neuen Mechanismus zur Sicherung der Einhaltung des humanitären Völkerrechts. Ein auf der 32. Internationalen Konferenz vom Roten Kreuz und Roten Halbmond (Dezember 2015) eingereichter Schlussbericht mit einem Resolutionsentwurf wurde jedoch nicht angenommen, sondern es wurde lediglich beschlossen, den Beratungsprozess fortzusetzen. Zumindest ist man sich einig, den zwischenstaatlichen Dialog weiter zu führen.

Das Aushandeln neuer Regelungen, insbesondere für nicht-internationale bewaffnete Konflikte, sieht sich vielen politischen Kontroversen gegenüber. Das Recht muss sich im Einklang mit der gesamten Staatengemeinschaft entwickeln und wachsen. Daher sind neue Regelungen faktisch nur schwer vorstellbar. Eine Überforderung und zu rasante Weiterentwicklung des Rechts riskieren, dass sich einzelne Staaten von den Grundnormen des Völkerrechts abwenden. Dies wäre in einem so zentralen Rechtsgebiet, welches dem Schutz von Minimalstandards der Menschlichkeit dient, fatal: Statt einer Stärkung könnte eine Schwächung des Rechts die Folge sein. Die aktuellen Entwicklungen lassen zwar kaum Innovationspotenzial erkennen; aber vielleicht ist dies nach der von auch völkerrechtlicher Euphorie geprägten ersten Hälfte der 1990er Jahre ein „back to normal“.

Auch wenn der andauernde Konflikt in Syrien mit Blick auf das Humanitäre Völkerrecht ernüchternd erscheinen mag, sollte man das (Humanitäre) Völkerrecht nicht als obsolet oder unbrauchbar bezeichnen. Es handelt sich um ein jahrzehntelang gewachsenes Regelwerk, das über eine gewisse Widerstandsfähigkeit verfügt. Christian Schaller weist zudem auf einen weiteren Aspekt hin:

Ungeachtet aller grundsätzlichen juristischen Argumente sollte bei der völkerrechtlichen Diskussion des Themas schließlich auch folgende Gefahr bedacht werden: Je häufiger und lauter das geltende Recht für untauglich erklärt wird, desto größer ist das Risiko, dass sich Soldaten in Extremsituationen mit denselben Argumenten über eben diese Rechtsnormen hinwegsetzen.

Das Recht als solches kann nicht verhindern, dass es gebrochen wird; damit wird es aber nicht per se wirkungslos oder obsolet. Zudem darf eine Enttäuschung, dass sich das Humanitäre Völkerrecht nicht so schnell wie erhofft weiterentwickeln lässt, Zweifeln an der generellen Funktionstüchtigkeit des gegenwärtigen Normenbestands keinen Vorschub leisten.


Eine ausführliche Analyse findet sich in dem Beitrag von Thilo Marauhn und Judith Thorn „Friedenssicherungsrecht und humanitäres Völkerrecht unter Druck“ im Friedensgutachten 2017.

 

Judith Thorn
Judith Thorn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Justus-Liebig-Universität Gießen und Assoziierte Forscherin an der HSFK (Forschungsgruppe Völkerrecht). Sie ist Mitglied der Forschungsgruppe "Polizeimissionen der Vereinten Nationen – Völkerrechtliche Grundlagen, Status und Einsatzregeln“.

Judith Thorn

Judith Thorn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Justus-Liebig-Universität Gießen und Assoziierte Forscherin an der HSFK (Forschungsgruppe Völkerrecht). Sie ist Mitglied der Forschungsgruppe "Polizeimissionen der Vereinten Nationen – Völkerrechtliche Grundlagen, Status und Einsatzregeln“.

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