Die Freilassung Deniz Yücels nach einem Jahr Untersuchungshaft in einem türkischen Hochsicherheitsgefängnis ist Anlass zur Freude. Dass sich in diese Freude mehr als nur ein bitterer Beigeschmack mischt, haben zahlreiche Kommentare der letzten Tage zum Ausdruck gebracht: Gibt es einen Deal mit Ankara? Was hieße es, wenn Pressefreiheit zur Verhandlungsmasse würde? Welche Konsequenzen hat es für die vielen noch immer in türkischen Gefängnissen einsitzenden Journalistinnen und Journalisten, wenn es ein Jahr Geheimdiplomatie und Kampagnen in Deutschland braucht, um in Freiheit zu gelangen? Eines zeigt der Fall auf tragische Weise: die Umdeutung der Staatsbürgerschaft zum nationalistischen Treuschwur ist in der Türkei vollzogen.
Blindheit gegenüber Diversität als Geburtsfehler der türkischen Republik
Glücklich sei, wer sich Türke nenne – „ne mutlu Türküm diyene“ – heißt es seit Gründung der Republik Türkei vor gut 100 Jahren. Die auf den Anführer des Befreiungskrieges und Staatsgründer „Atatürk“ Mustafa Kemal Pascha zurück gehende Formulierung wurde in türkischen Schulen zu einer Kernbotschaft und zum Mittel der nationalstaatlichen Identitätsbildung eingesetzt. Nach offizieller Lesart sollte der Satz nicht ein ethnisch verstandenes Türkentum privilegieren, sondern die türkische Staatsbürgerschaft zur nationalen Klammer für alle machen. In der Praxis herrschte ein anderes Verständnis: Die Sprachen, Religionen und kollektiven Selbstverständnisse minoritärer Volksgruppen hatten keinen Platz in der türkischen Öffentlichkeit; intermediäre Identitäten sollten Privatsache sein. Praktisch negierte dieses Frankreich entlehnte Konzept die Pluralität des türkischen Staatsvolks, und wie in vielen Titularnationen entstanden daraus innere Konflikte. Auch wenn dieser Geburtsfehler der Republik, den demos nach der größten ethnischen Bevölkerungsgruppe zu bezeichnen, den politischen Umgang mit Diversität in der Türkei von Beginn an erschwert und nationalistische Zuspitzungen begünstigt hat, zeigt die Symbol- und Begriffspolitik über die letzten zwanzig Jahre eine neue Qualität an.
Der türkische Kulturkampf
Unter dem Einfluss des kemalistischen Nationalismus wurde die Verbindung des (zunehmend ethnisch verstandenen) Türkentums mit sunnitischem Islam und einer strikt laizistischen Staatskultur zum Markenzeichen der Republik. Mit der Verbannung der Religion aus den öffentlichen Belangen wollten die Kemalisten ihr Land modernisieren und im säkularen Europa verankern. An großen Teilen der Bevölkerung, die jenseits der urbanen Zentren im Westen des Landes lebten, ging dieses Projekt jedoch vorbei. Nach dem 1981er Militärputsch von rechts setzte unter Turgut Özal eine Politik der Re-Islamisierung ein: Bilder des Ministerpräsidenten als Pilger in Mekka, öffentliche Großveranstaltungen zum Fastenbrechen oder Özals Eintreten für ein Tolerieren des Kopftuchtragens in Universitäten markierten den Wandel. Die säkularen Eliten dominierten zwar weiterhin Militär und Verwaltung, die politische Führung demonstrierte dagegen zusehends Frömmigkeit, baute die Religionsbehörde aus und sorgte dafür, dass kreationistische Stimmen im Schulsystem Gehör fanden. Dass Religion Privatsache sei, war fortan nicht mehr das unbestrittene Leitbild der türkischen Staatsbürgerschaft. Özals „Mutterlandspartei“ blieb nicht die einzige Kraft, die an dieser Säule sägte. In den 1990er Jahren betrat eine Reihe islamistischer Parteien die türkische Bühne, wenn auch stets nur für kurze Zeit; waren doch hinreichend institutionelle kemalistische Schutzvorkehrungen in Kraft.
Religiös aufgeladener Nationalismus
In der Regierungszeit der AKP seit 2002 gewann die Rehabilitierung des Religiösen in der türkischen Politik an Schubkraft: Als Führer der Partei, langjähriger Regierungschef und seit 2014 Präsident der Republik hat Recep Tayyip Erdoğan nicht nur rechtliche Hürden abgebaut, welche die Religionsfreiheit einschränkten, sondern sich auch dezidiert als Moralunternehmer für die Re-Islamisierung engagiert. Medienwirksame Äußerungen, nach denen gelten müsse, muslimische Werte an die Jugend zu vermitteln, dass gemischtgeschlechtliche Studierendenunterkünfte zu unterbinden seien oder muslimische Familien nicht verhüten sollten, zeigen die Reichweite der Interventionsversuche bis in die private Lebensführung an. Es war eine Reaktion auf diese allgemein religiös restaurative Regierungspolitik, dass der zunächst lokale Protest gegen die geplante Überbauung des Istanbuler Gezi-Parks mit einem Shopping-Center im Stil osmanischer Kasernen sich 2013 zu einer landesweiten Bewegung auswuchs. Als der seinerzeitige Premier Erdoğan die Demonstrierenden kurzum als „Marionetten ausländischer Mächte“ denunzierte, trat der neu aufgeladene Nationalismus deutlich zutage: Auf die Stigmatisierung der säkularen Opposition mittels moralischer Diskreditierung folgte deren Ausschluss aus der imaginierten Volksgemeinschaft. In diesem Diskurs ist die gesellschaftliche Diversität nicht länger nur eine unterdrückte Dimension im türkischen Volksbegriff, sondern bedeutet religiöse oder politische Abweichung quasi die ‚Ausbürgerung‘. Vor dem Referendum über eine Ausweitung der präsidialen Befugnisse hieß es 2017 denn auch, wer nicht dafür stimme, stehe mit Terroristen auf einer Seite. – An die Stelle des einstigen Inklusionsangebots, „glücklich, wer sich Türke nennt“, tritt der Ausschluss derjenigen, die dem neo-osmanischen Projekt die Gefolgschaft verweigern; und sei es nur durch kritische Berichterstattung.
Was es heißt, Türke zu sein: was denkt ‚das Volk‘?
Die Intentionen der religiös konservativen Regierungselite mögen das Eine sein; wie aber steht es um die öffentliche Meinung in dem Land, das immerhin über Jahrzehnte als säkulare Republik da stand? Jüngste Umfragewerte zeigen zunächst das gewohnte Bild einer stark polarisierten türkischen Gesellschaft. Sie deuten zugleich darauf hin, dass die herrschende nationalistische Zuspitzung, nach der regierungskritischer Journalismus eine Gefahr für die Türkei und das türkische Volk darstelle, verfängt. An die 80% der AKP-Wählerinnen und Wähler sehen die Verfolgung Oppositioneller als berechtigt an, um Schaden von der Türkei abzuwenden; und ungeachtet ihrer parteipolitischen Präferenzen sind noch um die 40% aller Türkinnen und Türken der Überzeugung, die einschlägigen Inhaftierungen erfolgten eher auf der Grundlage von berechtigten Gefahreneinschätzungen denn zur Einschüchterung und praktischen Ausschaltung politischer Gegner. Damit nicht genug: auch in der Frage der Wichtigkeit der Selbstverständnisse als Türke/Türkin und dessen, was sich hiermit verbindet, zeichnen sich trotz Differenzierungen auch eindrückliche Trends ab. Die Orientierung an der Familie und die Identifikation als Muslim/a erfahren stärkeren Zuspruch als die Orientierung an demokratischen Werten oder die Toleranz gegenüber anderen ethnischen oder Religionsgruppen. Und mit einer Bevölkerungsmehrheit, die Stolz auf die Osmanische Vergangenheit bejaht, ist die restaurative Ideologie der religiösen Rechten kein Randphänomen mehr, sondern auf dem Weg zum hegemonialen Konsens ein gutes Stück vorangekommen. – Alles in allem ist dies nicht das politische Klima einer Gesellschaft, die sich umstandslos für die demokratischen Rechte von Oppositionellen und regierungskritischen Medien mobilisieren lässt.
Fazit
Letztlich haben seine deutsche Staatsbürgerschaft und die hiesige Unterstützung Deniz Yücel zur Freilassung verholfen. An dem Tag, als er frei kam, wurde über sechs Journalisten in der Türkei eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Landesverrats verhängt. Auch Yücel wird Volksverhetzung und Terrorpropaganda vorgeworfen, für eine Berichterstattung, die nach dem Putschversuch 2016 keine Vorverurteilung der Gülen-Bewegung vornahm, sondern bei den Fakten blieb. Für die noch inhaftierten türkischen Intellektuellen und Journalist/innen muss besonders bitter sein, dass der aufklärerische Wert ihrer Stimmen im eigenen Land immer weniger geschätzt wird. Umso wichtiger ist es freilich, die internationale Aufmerksamkeit auf hohem Niveau zu halten, die Verletzung von Grundrechten als solche zu benennen, und gemeinsame Organisationen wie Europarat und EGMR, aber auch die NATO und bilaterale Beziehungen zu nutzen, um einem weiteren Abdriften der Türkei in autoritäre Zustände entgegen zu wirken.