Die Präventionsarbeit ist so vielschichtig wie die Motive, aus denen sich Jugendliche und junge Erwachsene religiös-extremistischen Szenen zuwenden. Gerade deshalb ist die Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure von Bedeutung. Das Engagement der Zivilgesellschaft in Deutschland ist dabei eine besondere Stärke, wie ein Blick nach Frankreich zeigt.
Ist das Glas halb voll oder halb leer? Mit der Präventions- und Ausstiegsarbeit ist es so eine Sache, der Erfolg ist wie in der Kriminalitäts- und Gesundheitsprävention nur schwer zu messen. Ob die Radikalisierung eines Jugendlichen aufgrund einer bestimmten Maßnahme verhindert wurde, lässt sich kaum mit Gewissheit klären. Gerade zivilgesellschaftliche Träger stehen hier unter besonderem Druck, ihre Arbeit mit Erfolgen zu rechtfertigen.
Die Argumente, die in letzter Zeit häufiger gegen zivilgesellschaftliche Träger in der Prävention von religiös begründeten Radikalisierungen angeführt werden, weisen allerdings in die falsche Richtung. In einem längeren Bericht über die Präventionslandschaft in Deutschland bemängelte Ronen Steinke in der Süddeutschen Zeitung, der Zivilgesellschaft komme in der Präventionspolitik eine zu große Bedeutung zu. Von „Wildwuchs“, „Ratlosigkeit“ und Konzeptlosigkeit dieser „privaten Programme“ war hier die Rede. Tatsächlich gibt es auch in Deutschland immer häufiger Forderungen, die Präventions- und Deradikalisierungsarbeit stärker an die Behörden zu binden. So gibt es auf in verschiedenen Bundesländern Bemühungen, Beratungsangebote wieder verstärkt an staatlichen Stellen anzusiedeln. Und auch die wachsende Kontrolle von zivilgesellschaftlichen Trägern durch die Sicherheitsbehörden ist ein Zeichen, dass die Rolle von zivilgesellschaftlichen Trägern nicht überall auf Unterstützung stößt.
Frankreichs staatliche Präventionspolitik als Vorbild?
Steinke sieht gerade in der französischen Politik ein gutes Beispiel, wie es laufen sollte. Nach vielen Fehlern bei der Wahl von Partnern und Ansätzen unternehme die französische Regierung nun alles, um die Präventions- und Deradikalisierungsarbeit auf solide und vor allem staatliche Beine zu stellen. In der Hand von Behörden, so die Annahme, ließe sich die Qualität dieser Arbeit besser kontrollieren und eine effektivere Umsetzung gewährleisten.
Dabei ist gerade die französische Politik ein Beispiel dafür, wie es nicht funktioniert – und wie gut die Präventionsarbeit in Deutschland gerade wegen des mit Bundes- und Landesmitteln geförderten zivilgesellschaftlichen Engagements aufgestellt ist. Erst unter dem Eindruck der diversen Anschläge der letzten Jahre und des deutlichen Anstiegs von radikalisierten Personen wird der staatliche Zentralismus und die ausschließlich sicherheitspolitische Ausrichtung der Präventionsstrategien dort mittlerweile vorsichtig in Frage gestellt. In einem kürzlich veröffentlichten Maßnahmenplan werden nun ausdrücklich auch Vereine aus der Bildungs-, Kultur- und Antidiskriminierungsarbeit als wichtige Akteure der Präventionsarbeit benannt.
Die Erfahrungen aus Frankreich zeigen, wie schnell staatlich geführte Maßnahmen in diesem Feld an Grenzen stoßen. Frankreichs Antiterrorpolitik schaffte es zuletzt mit dem gescheiterten Projekt eines Internats für radikalisierte junge Erwachsene in die internationalen Medien. Die Bewohner sollten mit Fahnenappell und Unterweisungen in die Werte der französischen Revolution auf den rechten Weg gebracht werden sollten. Das Projekt, das als Modell für ähnliche Internate in ganz Frankreich geplant war, wurde nach einigen Monaten angesichts verheerender Kritik wieder eingestellt. Ein Schnellschuss, der aufgrund der zahlreichen Anschläge in den vergangenen Jahren zwar verständlich war, der aber deutlich machte, wie sehr es an zivilgesellschaftlichen Strukturen mangelt, auf deren Erfahrungen man in der Präventions- und Ausstiegsarbeit aufbauen konnte.
Bis zu den Anschlägen auf die Redaktion der Satirezeitung Charlie Hebdo im Januar 2015 konnte von einer Präventionsarbeit in Frankreich kaum die Rede sein. Noch bis vor wenigen Jahren setzte die dortige Präventionsarbeit weitgehend auf eine „präventive strafrechtliche Neutralisierung“ (Ragazzi 2014, S. 20) radikalisierter Personen – also auf frühzeitige staatliche Repressionsmaßnahmen. Entscheidungen fielen in Paris, die Kommunen blieben außen vor. Das Gleiche galt für zivilgesellschaftliche Träger, denen – wenn überhaupt – nur die Rolle als Dienstleister bei der Reintegration von radikalisierten Personen aus salafistischen Szenen zukam.
Die Nationale Beratungskommission für Menschenrechte warnte im vergangenen Jahr vor möglichen Folgen einer solchen Politik, in der präventive Maßnahmen ausschließlich an staatlichen und sicherheitspolitischen Interessen orientiert sind. So forderte die Kommission die Regierung unter anderem dazu auf, den Kernbereich der Sozialarbeit zu schützen und in der Präventionsarbeit mitzudenken: „Statt der Sozialarbeit eine neue Aufgabe der Überwachung aufzubürden, empfiehlt die Kommission, die Autonomie der Sozialarbeit zu gewährleisten und sie in ihrer originären Aufgabe der Unterstützung und Begleitung“ von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu stärken.
Vielfalt und Vernetzung der zivilgesellschaftlichen Ansätze in Deutschland
In Deutschland hat sich dagegen auch auf politischer Ebene ein Bewusstsein dafür durchgesetzt, wie breit das Spektrum zwischen universeller Prävention, Interventions- und Ausstiegsarbeit gedacht werden muss – und wie wichtig die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Umsetzung entsprechender Ansätze ist. Die Entscheidung der Bundesregierung, das Förderprogramm „Demokratie leben“, das die Vielzahl zivilgesellschaftlicher Ansätze erst möglich machte, zu entfristen, ist dafür ein Beispiel.
Interessanterweise verweisen die Kritiker der französischen Präventionspolitik auch auf die Erfahrungen, die in der Präventions- und Ausstiegsarbeit in Deutschland gerade von zivilgesellschaftlichen Trägern gesammelt wurden. In Deutschland entstanden schon Anfang der 2000er Jahre erste Initiativen, die sich unterschiedlichen Ausdrucksformen des religiösen Extremismus widmeten. Das Zentrum Demokratische Kultur und die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus zählten zu den ersten, die in Veröffentlichungen und mit Projekten für Jugendliche auf die Probleme hinwiesen, die mit religiös begründeten Abwertungen und Abgrenzungen verbunden sind – lange bevor dies von staatlicher Seite als Problem erkannt wurde. „Demokratiegefährdende Phänomene in Kreuzberg und Möglichkeiten der Intervention. Eine Kommunalanalyse im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg“, so lautete der Titel einer Broschüre des ZDK, die schon 2003 auf erste Ausdrucksformen religiöser Radikalisierungen hinwies. Das Gleiche gilt für den Verein Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage, der schon vor fünfzehn Jahren viele der Fragen aufgriff, die die Präventionsarbeit auch heute beschäftigen – auch wenn der Schwerpunkt des Vereins bis heute eigentlich in der Antidiskriminierungs- und Antirassismusarbeit liegt.
Die Tatsache, dass sich immer mehr Träger aus anderen Arbeitsbereichen dem Thema Radikalisierung widmen, ist dagegen für Kritiker der hiesigen Präventionslandschaft ein Beleg, dass es vor allem um öffentliche Fördermittel und die Legitimation der eigenen Arbeit gehe. Dabei ist gerade diese Bereitschaft, sich einem schwierigen und gesellschaftlich kontrovers diskutierten Thema zu widmen, ein Hinweis, dass zivilgesellschaftliche Akteure die Bedeutung dieses Problems erkannt haben. Mittlerweile gibt es bundesweit dutzende Vereine, die in diesem Feld aktiv sind – oft mit langjährigen Erfahrungen im Bereich der Rechtsextremismusprävention und immer häufiger auch mit ausgewiesenen Erfahrungen in der Jugendhilfe, der Familien- und Erziehungsberatung, der interkulturellen Arbeit oder der politischen Bildung.
Mit „Wildwuchs“ und Beliebigkeit hat das in der Regel nichts zu, sondern ist letztlich eine notwendige Folge der Forschungen, die in den vergangenen Jahren zu den Hintergründen von Radikalisierungsprozessen durchgeführt wurden. Denn Hinwendungen zu radikalisierten Ideologien und Szenen lassen sich nicht monokausal erklären, sondern gründen in einer Mischung aus individuellen, gesellschaftlichen, politischen und religiösen Ursachen. Für die Präventions- und Ausstiegsarbeit bedeutet dies, dass nur eine Verbindung unterschiedlicher Ansätze in verschiedenen Handlungsfeldern Aussicht auf Erfolg hat. Schule allein wird es nicht richten, Familienberatung allein auch nicht – und auch psychotherapeutische Ansätze stoßen an ihre Grenzen, wenn der gesellschaftliche Kontext nicht mitgedacht wird.
Gerade hier liegt die Stärke der Präventionsarbeit, die sich in Deutschland in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Sie ermöglicht eine Vernetzung und Kooperation von unterschiedlichen Akteuren, die auf verschiedenen Ebenen Angebote machen, um Jugendliche und junge Erwachsene zu erreichen. Nur in diesem Zusammenspiel kann man sie darin bestärken, dass das, was sie in Deutschland vorfinden, attraktiver ist als das, was ihnen Prediger wie Abu Wala, Pierre Vogel oder Ibrahim Abou-Nagie im Jenseits – oder in Syrien – versprechen. Das reicht von religiösen Angeboten und politischer Bildung über psychosoziale Beratung in Krisensituationen bis hin zu berufsfördernden Maßnahmen.
Polizei und Verfassungsschutz spielen dabei vor allem in sicherheitsrelevanten Fällen eine zentrale Rolle, und auch Jugendämtern und anderen Behörden kommt in vielen Bereichen große Bedeutung zu. Aber schon bei der Frage nach der Glaubwürdigkeit zeigen sich die Grenzen einer Präventionsarbeit, die allein auf Behörden setzt. Hinzu kommt, dass öffentliche Einrichtungen in den wenigsten Fällen an Menschen herankommen, die von Radikalisierungen betroffen sind. Auch hier ist Frankreich ein Beispiel dafür, dass Meldestellen, die direkt bei den Sicherheitsbehörden angesiedelt sind, nur bedingt erfolgsversprechend sind. Zivilgesellschaftliche Träger können Brücken bauen und intervenieren, weil sie nicht unmittelbar mit staatlichen Interessen und sicherheitspolitischen Erwägungen in Verbindung stehen.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus, in der mittlerweile 25 Vereine und andere zivilgesellschaftliche Organisationen vertreten sind, steht für die Vielzahl der Ansätze, die in diesem Themenfeld verfolgt werden, und für den Anspruch, eine Vernetzung und Kooperation der beteiligten Akteure zu fördern. Sie knüpft in vielerlei Hinsicht an die seit den 1990er Jahren gesammelten Erfahrungen im Bereich der Rechtsextremismusprävention an. Auch hier sind es vor allem zivilgesellschaftliche Strukturen, die sich als wirkungsvoll erwiesen haben und die zur Entwicklung von Qualitätsstandards beigetragen haben.
Dazu gehört auch die Förderung einer „Fehlerkultur“, wie sie von Kritikern der Präventionsarbeit aktuell zu recht eingefordert wird. Denn Fehler werden auch zukünftig zu beklagen sein – genauso wie sich einzelne Ansätze als falsch und fehlgeleitet erweisen werden. Dies zu erkennen und darauf zu reagieren ist die Aufgabe der Träger, die in der Prävention und Ausstiegsarbeit aktiv sind. Neu ist diese Einsicht allerdings keineswegs. So laufen aktuell zahlreiche externe Evaluationen, um konzeptionelle Schwachstellen zu erkennen und Ansätze weiterzuentwickeln. Die Aufgabe von Politik und Gesellschaft besteht darin, die Rahmenbedingungen einer Präventionslandschaft zu schaffen, in denen eine solche „Fehlerkultur“ auch langfristig möglich ist, und die Träger nicht nur finanziell, sondern auch politisch in dieser Arbeit zu unterstützen. Denn der Staat alleine wird das Problem von Radikalisierungen nicht richten – und wenn er es doch versucht, stößt er schnell an seine Grenzen.