In Europa ist die Debatte über islamistische Radikalisierung bei jungen Menschen und wirksame Präventionsmaßnahmen in vollem Gange. Dieser Blogbeitrag beleuchtet Herausforderungen und Chancen, denen Schulen im Umgang mit Radikalisierung und Prävention begegnen. Schulen fungieren nicht nur als Bildungseinrichtungen, sondern auch als Sozialisationsinstanzen, in denen Diversität und Toleranz gefördert werden können. Doch sie werden gleichzeitig mit hohen Anforderungen konfrontiert, wenn von ihnen verlangt wird, Anzeichen von Radikalisierung zu erkennen und damit umzugehen. Dieser Beitrag betont die Notwendigkeit eines sensiblen und differenzierten Ansatzes, um Diskriminierung und Ausgrenzung in der Präventionsarbeit zu vermeiden.
In den vergangenen Jahren ist in der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft kontrovers diskutiert worden, weshalb islamistische Radikalisierung bei jungen Menschen in Europa entsteht und welche Maßnahmen zur Prävention und Deradikalisierung Wirkung zeigen. Auf Bundes- und Landesebene wurden zahlreiche präventiv-pädagogische Maßnahmen und Angebote entwickelt und implementiert, um einerseits Radikalisierung bei jungen Menschen zu verhindern und andererseits bereits islamistisch radikalisierte Menschen im Abwendungsprozess zu unterstützen und zu begleiten. Einen guten Überblick bietet hier Mapex; hier wird eine Landkarte zur Verfügung gestellt, in der interaktiv recherchiert werden kann, wo unterschiedliche Präventionsangebote angesiedelt sind, welche Zielgruppen diese ansprechen und ob es sich eher um eine primäre Prävention für alle oder sekundäre oder tertiäre Präventionsangebote für bestimmte Gruppen handelt. Jüngste Untersuchungen haben gezeigt, dass neben sozialen Gruppen wie Familie und Freunde auch gesellschaftliche Institutionen wie die Schule eine große Rolle in der Prävention vom Islamismus spielen können.
Dieser Blogbeitrag basiert auf einer qualitativen Interviewstudie, in der insgesamt 26 Berater*innen aus dem Bereich der Deradikalisierungs- und Distanzierungsarbeit, die bei zivilgesellschaftlichen Trägern oder in staatlichen Institutionen tätig sind, befragt wurden, sowie auf einer Befragung von Lehrkräften und weiterem pädagogischem Personal an Kölner Schulen.
Sekundäre/selektive Prävention: Diese konzentriert sich auf bestimmte Zielgruppen mit individuellen, sozialen oder materiellen Risikofaktoren. Maßnahmen können direkt an Risikogruppen oder indirekt an Personen mit Zugang zu diesen Gruppen gerichtet sein, wie Eltern, Lehrkräfte oder Schulsozialarbeitende. Die sekundäre Prävention interveniert bei ersten Anzeichen von Radikalisierung, während die selektive Prävention aufgrund von Grundrisiken und individuellen Faktoren ohne konkrete Anzeichen agiert.
Tertiäre/indizierte Prävention: Diese Maßnahmen richten sich an Menschen, die bereits radikalisiert sind. Das Hauptziel besteht darin, eine Abkehr von Gewaltanwendung und Selbstgefährdung zu erreichen, idealerweise verbunden mit einer ideologischen Abwendung. Die Maßnahmen können direkt durch Austausch, Beratung oder Gruppensitzungen erfolgen oder indirekt über Gatekeeper wie Angehörige, nahestehende Bezugspersonen oder Fachkräfte im Justizvollzug.
Die Schule als soziale Instanz zur frühzeitigen Prävention von Radikalisierung
Die Schule spielt eine bedeutende Rolle bei der Integration junger Menschen und ist als wichtiger Akteur der Sozialisierung ein Ort, an dem junge Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und sozialen Hintergründen zusammenkommen. Die Schule hat hier nicht nur anhand ihres „offiziellen“ Auftrages zur Erziehung und Bildung im formellen Kontext eine wichtige Bedeutung. Sie bietet auch Raum für wichtige sozialisatorische Erfahrungen, die etwa durch die informellen Kontakte u.a. mit Peers unterschiedlichster Herkunft in ethnischer, religiöser oder sozialer Hinsicht entstehen. Schule hat hier eine sehr große Bedeutung, da sie als einzige Sozialisationsinstanz verbindlich von allen Kindern und Jugendlichen eines Jahrgangs besucht werden muss und hier die einmalige Chance besteht, dass auch interreligiöse und interethnische Kontakte und Freundschaften geknüpft werden. Diese tragen nachweislich zu einer Steigerung der Diversitätsakzeptanz und zu Toleranz bei.
In diesem Kontext können Verhaltensweisen auffallen, die mögliche Anzeichen für Radikalisierungsprozesse darstellen können, wie beispielsweise die Ablehnung von demokratischen Normen, die Suche nach einfachen Antworten auf komplexe politische und gesellschaftliche Fragen oder eine Identifikation mit einer extremistischen Gruppe oder Ideologie.
Da die Schule als entscheidende Instanz zur frühzeitigen Prävention von Radikalisierung angesehen wird, wird sie zunehmend aufgefordert, bei der Prävention von islamistischer Radikalisierung mitzuwirken. Durch gezielte Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen sollen Lehrkräfte und pädagogisches Personal befähigt werden, Radikalisierungsprozesse zu verhindern, Anzeichen von Radikalisierung frühzeitig zu erkennen und adäquat zu intervenieren, bevor sich Radikalisierungsprozesse weiterentwickeln und möglicherweise zu extremistischen Tendenzen führen.
Schulen in der Prävention: Chancen und Herausforderungen
Eine nicht repräsentative Befragung an Kölner Schulen zeigte, dass fast die Hälfte der befragten Lehrkräfte interreligiöse Konflikte und Herausforderungen im Umgang mit religiösen Praktiken wahrnimmt; etwa ein Drittel berichtet über islamistische Vorfälle und Aussagen von Schüler*innen, die teilweise direkt gegen die Lehrkräfte gerichtet sind. Betroffen sind alle Schularten von der Grundschule bis zu den berufsbildenden Schulen.
Die Ergebnisse der Befragung verdeutlichen, dass Schulen mit vielfältigen interreligiösen Konflikten, Einstellungen und Aussagen konfrontiert sind und die befragten Pädagog*innen Verhaltensweisen und Einstellungen von Schüler*innen oftmals als islamistisch einschätzen. Gleichzeitig sind die Erwartungen an die Schulen, präventiv und intervenierend gegen diese Probleme vorzugehen, mit vielen Herausforderungen verbunden. Einerseits deshalb, da Radikalisierungstendenzen kaum an einzelnen Verhaltensweisen im Schulalltag festzumachen sind. Und andererseits wird provokatives – aber jugendtypisches – Verhalten oftmals dann als radikal eingeschätzt, wenn es von muslimischen Schüler*innen kommt. Zudem gibt es Uneinigkeit darüber, anhand welcher Anzeichen islamistische Tendenzen im schulischen Alltag überhaupt erkannt werden können, insbesondere wenn es keine klare Zuordnung zu einer islamistischen Gruppe gibt. Auch muss dabei die im Grundgesetz festgelegte Religionsfreiheit berücksichtigt werden, unter der eine konservative Religionsauslegung ebenfalls geschützt ist. Deshalb besteht ein großer Unterstützungsbedarf im Umgang mit religiösen Praktiken sowie menschen- und verfassungsfeindlichen Äußerungen, um eine vorschnelle und unpräzise Beurteilung (vermeintlich) islamistischer Radikalisierung zu vermeiden.
Ein repressiver oder alarmistischer Umgang mit (vermeintlichen) Radikalisierungstendenzen kann im Gegenteil Radikalisierungsprozesse erst initiieren oder verstärken. Dies kann beispielsweise dann geschehen, wenn Schüler*innen aufgrund ihrer religiösen oder politischen Einstellungen Stigmatisierung erfahren. Besonders hinsichtlich islamistischer Tendenzen ist es wichtig, nicht zu früh Alarm zu schlagen. Denn in solchen Fällen könnten die Überzeugungen junger Menschen gestärkt werden, wie es ein*e Interviewpartner*in der Distanz-Studie ausdrückte: „Aufgrund meiner Religion […] fahre ich gerade voll gegen die Wand.“ In solchen Fällen ist oft zu beobachten, dass junge Menschen sich immer stärker der Gruppe zuwenden, die Diskriminierung und Ausgrenzung als Mittel zur Verbreitung ihrer islamistischen Ideologie nutzt.
Die Schule als wichtiger Teil des sozialen Bezugsrahmens hat erheblichen Einfluss auf Abwendungsprozesse. Im schulischen Kontext gibt es viele Möglichkeiten, islamistischer Radikalisierung vorzubeugen, darunter Projekte zur Stärkung demokratischer Kompetenzen und Empowerment sowie Maßnahmen zur Bewältigung von Risikofaktoren und Problemlagen. Darüber hinaus werden Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, berufliche Zukunftsaussichten und Akzeptanz als förderliche Faktoren seitens der Fachkräfte der Präventionspraxis genannt. Dementsprechend gilt es, den jungen Menschen mit Anerkennung zu begegnen und pädagogische Potenziale auszuschöpfen.
Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen im Schul- und Ausbildungssystem wiederum können den Abwendungsprozess hemmen. Insbesondere die Stigmatisierung Betroffener durch frühzeitiges Hinzuziehen von Sicherheitsbehörden gilt als gravierendes Hindernis. Stattdessen empfehlen die Fachkräfte eine diskrete Kontaktaufnahme mit Beratungsstellen und eine wertschätzende Kommunikation.
Fazit & Ausblick: Was kann Schule leisten?
Wie auch die Radikalisierung ist die Abwendung vom Islamismus und deren professionelle Begleitung ein komplexer Prozess, der immer an den individuellen Fall angepasst werden muss. Schulen können durch Stärkung demokratischer Kompetenzen, Förderung von Empowerment und Bereitstellung von Bewältigungsmöglichkeiten eine positive Rolle in der Deradikalisierung und Distanzierung von extremistischen Ideologien spielen.
Entscheidend ist, junge Menschen mit Anerkennung zu behandeln und ihre pädagogischen Potenziale auszuschöpfen. Stark ausgebaut werden sollten alle Angebote, welche insgesamt Toleranz, Demokratie und interreligiöse und interkulturelle Verständigung fördern. Hierzu gehören etwa Programme wie Compasito (Altersstufe 7-13 Jahre) und Betzavta (Altersstufe ab ca. 14 Jahre), welche u.a. von der Beratungsstelle proKids bei der Arbeit mit Kindern von IS-Rückkehrer*innen eingesetzt werden. Beide Programme bieten handlungsorientierte Ansätze, um zu Themen wie Akzeptanz, Toleranz, Gleichberechtigung und Empathie mit Kindern und Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Ein weiteres Beispiel ist das Programm CHAMPS, ein hybrides Integrations- und Gleichberechtigungs- sowie Peer-to-Peer Projekt, das Jugendliche zwischen 16 und 26 Jahren zu Multiplikator*innen demokratischer Werte ausbildet. Die Programme bieten die Möglichkeit, dass sich junge Menschen und Pädagog*innen auf Augenhöhe begegnen und lebensweltnah politische und persönliche Fragen besprechen. Als Präventions- und Bildungsmaßnahme adressiert CHAMPS sowohl die individuelle Ebene durch Vorurteilsbekämpfung, sozial-kognitive Kompetenzsteigerung und politische Bildung als auch die soziale Ebene durch Gruppenarbeit, Förderung von Teilhabe und das Erleben von Zugehörigkeit. Besonders wertvoll sind dabei die offenen Diskursräume, in denen auch kontroverse Themen in einem geschützten Rahmen bearbeitet werden können.
Kinder und Jugendliche sehen sich mit komplexen Fragen konfrontiert, die von globalen Herausforderungen bis hin zu persönlichen Identitätsfindungen reichen. Die Vielschichtigkeit dieser Themen erfordert nicht nur ein breites Wissen, sondern auch die Fähigkeit, unterschiedliche Sichtweisen zu verstehen und zu schätzen. Gerade in dieser Entwicklungsphase suchen Jugendliche verstärkt nach Orientierung und einem Raum, in dem sie ihre Meinungen ohne Angst vor Beurteilung äußern können. Pädagogische Fachkräfte spielen dabei eine Schlüsselrolle, da sie nicht nur als Wissensvermittler*innen fungieren, sondern auch als Begleiter*innen, die Schüler*innen auf ihrem Weg unterstützen.
Die Wertschätzung unterschiedlicher Perspektiven in der Schule ist nicht nur für das individuelle Wohlbefinden der Schüler*innen von Bedeutung, sondern hat auch präventive Aspekte. Eine offene Kommunikation ermöglicht es, potenziellen Konflikten vorzubeugen, da Schüler*innen lernen, ihre Meinungen auf respektvolle Weise zu artikulieren und gleichzeitig die Standpunkte ihrer Mitmenschen zu akzeptieren. Dies trägt maßgeblich zum Aufbau eines integrativen Lernraums bei, der nicht nur persönliche Entfaltung fördert, sondern auch die Sensibilität für gesellschaftliche Vielfalt stärkt.
Die Schaffung eines unterstützenden Umfelds, in dem alternative Narrative Platz finden und durch pädagogische Fachkräfte respektvoll behandelt werden, ist entscheidend für die ganzheitliche Entwicklung der Schüler*innen. Ein solches Umfeld trägt nicht nur dazu bei, potenziellen Konflikten vorzubeugen, sondern fördert auch eine positive Identitätsentwicklung, die den Kindern und Jugendlichen ermöglicht, selbstbewusst und reflektiert ihre Zukunft zu gestalten.
Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der RADIS-Blogserie: Debatten zu islamistischer Extremismus. Mehr lesen.