Resistance is not terrorism
Resistance is not terrorism | Photo: neilward | CC BY 2.0

Warum wir nicht vom „Extremismus“ reden sollten

In der sozialwissenschaftlichen Debatte über Radikalisierung hat es sich – wie im politischen Raum – eingeschliffen, von Extremismus und  Extremist*innen zu reden. Doch gerade wenn es darum geht, Prozesse zu verstehen, die in der Befürwortung von Gewalt und schließlich in Gewalthandeln enden, ist die Rede vom Extremismus nicht nur intellektuell unbefriedigend, sondern politisch fatal. Das Extremismuskonzept geht vielen in der Diskussion leicht über die Lippen, weil es unterschiedliche Entwicklungen zusammenfasst, die eine offene Gesellschaft in Frage stellen. Es schafft aber keinen Erkenntnisgewinn – und wirft eine Reihe neuer Probleme auf: die Rede vom Extremismus vernebelt den Blick auf gesellschaftliche Probleme, sie entlässt Akteure aus der Verantwortung, die in diese Probleme verstrickt sind und sie distanziert diejenigen, die mit Deradikalisierungsprogrammen erreicht werden müssen.

In den Sozialwissenschaften flammt die Diskussion über das Konzept des Extremismus immer wieder auf. Insbesondere in der Forschung zum Neonazismus ist es kritisch diskutiert und in der Konsequenz von vielen in der Substanz abgelehnt worden. Auch wenn einige in Forschung und Zivilgesellschaft den Begriff der „extremen Rechte“ vorziehen, bleibt der „Rechtsextremismus“ aber bis heute die dominante Bezeichnung. An dem Verlauf dieser Debatte zeigt sich die intellektuelle Trägheit, die den Gebrauch des Extremismuskonzepts insgesamt auszeichnet. Obwohl die Probleme des Begriffs ausgesprochen und anerkannt sind, wird er weiter verwendet und prägt damit den Blick auf die Welt in einer Weise, die auf mehreren Ebenen problematisch ist.

Ein vernebelter Blick auf gesellschaftliche Probleme

Rechtsextremismus, Linksextremismus, islamistischer Extremismus – die Begriffe schaffen Ordnung im politischen Koordinatensystem. Aber die vermeintliche Klarheit erweist sich bei näherer Betrachtung als Illusion. Gerade der genannte Dreiklang vernebelt den Blick auf sehr unterschiedliche gesellschaftliche Konflikte und Probleme. Auch wenn die Extremismusforschung Unterschiede zwischen den der Logik des Verfassungsschutzes folgenden „Phänomenbereichen“ betont, läuft der Alltagsgebrauch allzu häufig auf eine Gleichsetzung hinaus. Dabei sind nicht alle Begriffe gleichermaßen klar konturiert, so dass deutlich würde, von welchen gesellschaftlichen Akteuren und Problemlagen überhaupt die Rede ist. Allein was unter „Rechtsextremismus“ zu verstehen sei, ist mehr oder weniger konsensfähig: das Zusammentreffen von völkischem Nationalismus, Ideologien der Ungleichwertigkeit und der Bejahung von Gewalt. Welche Problemkonstellation mit dem Begriff „islamistischer Extremismus“ zu fassen ist und noch mehr, wie der Begriff „Linksextremismus“ inhaltlich begründet werden kann, ist kaum befriedigend beantwortet worden. Im letzten Fall ist auf der einen Seite von totalitären Ideologien die Rede, die keine Pluralität zulassen und demokratische Organisationsformen ablehnen. Auf der anderen Seite, wird unter „Linksextremismus“ gewaltförmiges Handeln und dessen antikapitalistische und anti-etatistische Legitimation gehandelt. Beides zusammen – eine Haltung der Einschränkung individueller Rechte und die Befürwortung politischer Gewalt – ist aber nur in Bruchteilen der radikalen Linken anzutreffen – trotzdem wird das Label deutlich freigiebiger ausgegeben.

Insbesondere dann, wenn es darum gehen soll, Radikalisierungsprozesse zu verstehen, die in Gewalthandeln enden, ist es geradezu absurd, unterschiedliche Formen und Legitimationen der Gewalt gemeinsam zu verhandeln. Dass dies die politische Konsequenz des Extremismusparadigmas ist, zeigt der Versuch, Ausstiegsprogramme auf die radikale Linke zu übertragen –nachgewiesenermaßen ohne Erfolg. Statt über ein Label vermeintlich Klarheit herzustellen, braucht es eine Auseinandersetzung darüber, was konkret als problematische Entwicklung gefasst wird. Nur so werden gesellschaftliche Probleme verhandelbar und für Zivilgesellschaft und staatliche Stellen adressierbar.

Stillstellung gesellschaftlicher Konflikte

Offene Gesellschaften entwickeln sich in der Aushandlung von Konflikten weiter. Solche Konflikte sind nicht aus der Welt zu räumen, sie bleiben in der Regel wegen unterschiedlicher Erfahrungen und Interessen bestehen. Die Formen, in denen solche Auseinandersetzungen verlaufen, sind in großen Teilen eingeübt, die Akteure beschränken ihre Handlungen dabei in der Regel selbst. Radikalisierung in Gewalthandeln, also die Hinwendung zu einer Form der Auseinandersetzung, die die Selbstbeschränkung aufgibt und die Integrität des Gegenübers in Frage stellt, geschieht insbesondere da, wo die öffentliche Aushandlung gesellschaftlicher Konflikte verweigert wird.

Die Rede vom Extremismus schlägt diese Richtung ein. Sie vermittelt eine binäre und statische Vorstellung von gesellschaftlichen Konflikten: auf der einen Seite die Extremist*innen, die es zu bekämpfen gilt, auf der anderen die Mitte der Gesellschaft und die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die es zu verteidigen gilt. Dass der Streit in Demokratien eine zentrale Qualität ist, geht dabei verloren. Ein Beispiel: Politische Gewalt, vom Steinewerfen bei Demonstrationen bis zum terroristischen Mord, ist tief verwurzelt in männlicher Dominanzkultur. Wenn man diese Perspektive anerkennt, kommt ein Machtverhältnis in den Blick, das die Gesellschaft insgesamt durchzieht. Misogyne Gewalt, männliches Anspruchsdenken, sind Alltag; sich dagegen zur Wehr zu setzen, Gewalt sichtbar zu machen und sie rechtlich zu sanktionieren, ist Gegenstand lang andauernder Auseinandersetzungen. Erst der Kampf um die Ahndung häuslicher Gewalt hat Schutzmechanismen hervorgebracht, die Betroffenen grundlegende Rechte eröffnen. Den Ursprung politischer Gewalt in männlicher Dominanzkultur zu thematisieren, ist deutlich invasiver, als sie in den Handlungsbereich des Extremismus zu verbannen. Es ruft die Verantwortung jeder und jedes Einzelnen auf.

Exkulpation der Mitte

Mit der Verlagerung gesellschaftlicher Probleme ins Außen suggeriert das Extremismuskonzept, dass die demokratisch gesinnten Bürger*innen, die so oft beschworene „gesellschaftliche Mitte“ und der Verfassungsstaat Opfer der Extremist*innen sind. Diese Vorstellung erweist sich als gefährliche Illusion, denn sie verschleiert, dass Radikalisierungsprozesse wesentlich vom Verhalten staatlicher, ökonomischer und zivilgesellschaftlicher Akteure abhängig sind.

  • Untersuchungsausschüsse, Nebenklageanwält*innen und Rechercheinitiativen haben deutlich gezeigt, dass es das rechtsterroristische Netzwerk „Nationalsozialistischer Untergrund“ ohne das Verhalten der Verfassungsschutzämter nicht in der Form gegeben hätte. Der Zusammenschluss konnte so über Jahre rauben, bomben und morden.
  • Bei den G20-Protesten erklärten die politisch Verantwortlichen die Gewalteskalation schnell mit der Durchtriebenheit „linksextremistischer Gewalttäter“ – und verschleierten damit die komplexe Dynamik von einer versammlungsfeindlichen Polizeistrategie, einer stigmatisierenden öffentlichen Debatte und der spezifischen Gelegenheitsstruktur zur Legitimation von Gewalthandeln, die sich alles andere als schicksalshaft entwickelte.
  • Die Radikalisierung der völkischen Protestwelle, die mit den Demonstrationen von Pegida ihren zahlenmäßigen Höhepunkt fand, ist nicht ohne die öffentlichen Debatten um die Dresdner Proteste zu verstehen. Die schrillen Reaktionen aus Regierung und Parteien, die Überhöhung der Ereignisse durch eine überbordende Berichterstattung, haben die völkische Kritik an Medien und Regierung und damit die Stilisierung als Widerstandsbewegung bestärkt. Gleichzeitig hat der Umgang mit Pegida einen Resonanzraum eröffnet, in dem die dort geäußerten Forderungen, etwa die Einschränkung der Rechte von Asylsuchenden, von politisch Verantwortlichen vollstreckt wurden.

Wenn es um die Entwicklung von Gewaltorientierung geht, steht niemand außerhalb einer gesellschaftlichen Dynamik, die für solche Formen der Radikalisierung den Rahmen bietet. Es gibt in diesem Zusammenhang keine unschuldige Position. Die Rede vom Extremismus spricht aber alle Akteure frei, die nicht mit dem Label belegt werden. Sie entlässt sie damit aus der Pflicht, die eigene Verstrickung in gesellschaftliche Konflikte und Machtverhältnisse zu reflektieren.

Stigmatisierung

Die Rede vom Extremismus erweist sich auch im praktischen Umgang mit Radikalisierungsdynamiken als kontraproduktiv. Die Bezeichnung „Extremismus“ ist eine Feindbestimmung. Mit ihr ist bereits alles gesagt. Damit wird sie zum Teil des Problems: Sie distanziert und ächtet Zielgruppen, die für Radikalisierung in die Gewalt anfällig sind. Deradikalisierungsprojekten wird damit der Zugang zu denen verbaut, die angesprochen werden sollen. Wenn die Beteiligung an einem Programm mit der Zuschreibung als Extremist*in einhergeht, erhöht das nicht nur die Schwelle des Einstiegs, es dürfte auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung kaum motivieren.

Die Rede von den „Extremist*innen“ suggeriert darüber hinaus, dass alle, die so bezeichnet werden, gleichermaßen eine Gefahr für Demokratie und Menschenrechte sind. Dieses Mantra, das im politischen Raum vor allem von Konservativen reflexhaft zu hören ist, demotiviert und entfremdet insbesondere diejenigen, die sich gegen Rassismus und völkische Ideologie engagieren. Das Stigma Extremismus überlässt es im Zweifel den Verfassungsschutzberichten, darüber zu urteilen, wo die Grenze von Innen und Außen verläuft. Dass dieses Konzept geradezu grotesk unterkomplex ist, zeigt die Entwicklung der letzten Jahre. Weil rassistische und völkische Ressentiments weniger oder subtiler mit Bezug zum historischen Nationalsozialismus artikuliert werden, sind sie lange als gesellschaftliche Herausforderung unterschätzt worden. Die „Lügenpresse“-Rufe und die rassistischen Attacken auf (vermeintliche) Geflüchtete und ihre Unterkünfte laufen unterhalb des Radars des Extremismus. In der Logik des Verfassungsschutzes sind nicht die Pegida-Demonstrationen als solche das Beobachtungsobjekt, sondern sie erscheinen als Aktionsfeld von Extremisten. Aus diesem Beispiel lässt sich aber auch ableiten, was die Leitplanken in der Aushandlung gesellschaftlicher Konflikte sein sollten. Auf den Demonstrationen von Pegida werden die Grundsätze der liberalen Demokratie offensiv in Frage gestellt. In der Auseinandersetzung mit dieser Herausforderung ist die Kategorisierung als extremistisch nicht hilfreich. Der Maßstab der Kritik muss immer lauten: Inwiefern schränken Aussagen und Handlungen die Freiheiten und Rechte von Menschen ein? Und inwiefern sind sie orientiert an einer pluralen Demokratie oder an einer autoritären Form politischer Organisation? Würden diese Fragen konsequent gestellt, gäbe es einen normativen Nullpunkt, um auf einer gemeinsamen Basis unterschiedliche Wege der Radikalisierung in Gewalt zu diskutieren.

Simon Teune

Simon Teune

Simon Teune ist Ko-Leiter des Bereichs "Soziale Bewegungen, Technik, Konflikte" am Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin und Vorstandsvorsitzender des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung. | Twitter: @bewegungen
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